Logo Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft Unterwegs zu einer planetarischen Solidarität Menü

Knut Martin Stünkel zu The Mulitformity of Man

Mitteilung an Max über den unbezahlbaren Menschen

Bünde, den 25.05.2005

Lieber Maximilian,

dies wird nun einer Deiner ersten Briefe überhaupt sein. Wahrscheinlich ist es auch gleich einer der letzten, da schon in meiner Generation das Briefeschreiben als Form der Mitteilung aus der Mode gekommen ist, und nur noch von den Älteren oder einigen intellektuellen Nostalgikern praktiziert wird. Vermutlich wird man sich in Deiner Zeit Videobotschaften zusenden oder gar überzeugend echt wirkende Hologramme der anderen Person.

Vielleicht wird Dich dieser Brief freuen, wenn Du einmal alt genug bist, ihn zu lesen. Er wird Dir und auch mir dann wie ein Botschafter aus der Vergangenheit vorkommen, und zwar ein Botschafter mit einer Nachricht darüber, was mich einst aus der Vergangenheit angesprochen hat, und das mir höchstwahrscheinlich dann nicht mehr in dieser Deutlichkeit bewußt ist. Er kann allerdings nur ein lebendiger Botschafter sein, wenn wir über ihn sprechen.

Dies ist auch der Grund, warum ich Dir schreibe, nämlich nicht, um Dich zu belehren und eine allgemeingültige Botschaft weiterzugeben, sondern weil ich Dich bitten möchte, mir etwas beizubringen. Mitteilung ist Teilung von etwas, und zwar ein beidseitiger Vorgang. Du sollst mir, sobald Du es kannst, sagen, wie Ihr über bestimmte Dinge denkt. Es sind Dinge, die uns jetzt beschäftigt haben, die vielleicht selbst nicht mehr aktuell sind, und nur noch von Sonderlingen und Leuten, die dafür bezahlt werden, einen Gegenstand des Nachdenkens darstellt.

Ein Regal in meinem Arbeitszimmer ist mit einigen Büchern bestückt, die schon ich antiquarisch gekauft habe und also nicht mehr im Buchhandel zu bekommen sind. Ich möchte Dir von einem solchen Buch erzählen, es ist ein unscheinbares Taschenbuch von 170 Seiten, welches im Herder-Verlag erschienen ist. In meiner jetzigen Situation als ein Geisteswissenschaftler, den es in die freie Wirtschaft verschlagen hat, scheint es mir besondere Bedeutung zu haben. Vielleicht wird es, wenn unser Betrieb so lange besteht, auch für Dich noch bedeutend sein. Das Buch ist in seiner deutschen Ausgabe im Jahre 1955 erschienen, heute also schon fünfzig Jahre alt. In ihm ist die Rede von Industriebetrieben und den ihnen zugehörigen Menschen. Warum ist das in einem so alten Buch Gesagte, das über einen Bereich handelt, der Älteres überhaupt nicht zu schätzen scheint wie die Industrie, wert, weitererzählt zu werden? Das Buch ist geschrieben von Eugen Rosenstock-Huessy. Auch sein Weg führte an einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens aus dem akademischen Bereich in die Industrie. Zwar hat er nicht am Fließband gestanden oder in einem Büro gesessen, doch spricht hier jemand, der weiß, wovon er redet. Und er redet auf eine ungewöhnliche Weise. Die üblichen Hinsichtnahmen sehen den Menschen in einem Betreib als einen Arbeiter, der für seine Tätigkeit bezahlt wird. Im Gegensatz hierzu postuliert Rosenstock schon im Titel seines Buches den ‚unbezahlbaren Menschen’. Dies jedoch nicht trotz der Notwendigkeit seinen Lebensunterhalt durch Industriearbeit verdienen zu müssen, sondern gerade deswegen. Der Mensch ist nicht nur für eine bestimmte Zeit des Tages zur Arbeit gezwungen und in Wirklichkeit ein ganz anderer, sondern diese Arbeit in einem Betrieb macht einen wesentlichen Teil seines Lebens aus. Rosenstock ist hier ohne subjektivistische Sentimentalität, die die Berufsarbeit als eine bloße Akzidenz des Subjekts verstehen möchte.

Sollte ich das Buch in drei Sätzen zusammenfassen, so würde ich sagen: Rosenstock beschreibt die Biologie der industriellen Konstellation, welche in einem ‚lebendigen Betrieb’ gipfelt. Der lebendige Betrieb hat die Fähigkeit, sich fortzupflanzen. Bewegt wird der lebendige Betrieb durch eine andere Grammatik, welche sich durch nicht weniger als vier Numeri auszeichnet. Diese Sätze muß ich Dir erklären. Ich tue dies, indem ich Dir den Gedankengang des Buches nachzeichne.

In einem ersten kurzen Abschnitt nennt Rosenstock das Thema. Angesichts der Tatsache, daß es dem Menschen gelungen ist, seine Welt weitgehend zu mechanisieren, stellt sich die alte Frage nach der Stellung des Menschen innerhalb der Natur neu. Wie ist das Verhältnis von natürlicher und sozialer Welt? Vor allen Dingen muß vermieden werden, den Menschen in der Untersuchung zu behandeln wie jeden anderen beliebigen Untersuchungsgegenstand. Die Vielfältigkeit des Menschen verhindert dabei wissenschaftlichen Hochmut, nicht jedoch die Suche nach wissenschaftlichen Antworten. Rosenstock nennt seine neue Wissenschaft ‚Ökodynamik’. Mit ihr soll die einseitige und monotone Hinblicknahme auf die Phänomene verhindert werden, die sein Hauptvorwurf an die bisherige Wissenschaft ist. Im ersten Teil seines Buches gelangt er zur Formulierung der vier Grundgesetze seiner neuen Wissenschaft vom Menschen im Industriezeitalter. Es sind scheinbar banale Gleichungen, die ich optisch hervorgehoben habe.

Der erste Teil des Buches hat den Titel ‚Die Bruchteile des Menschen’. Rosenstock geht von folgendem Gedankengang aus: Die technische Anwendung des wissenschaftlichen Fortschritts ist das Industriesystem. Dieses System ist jedoch angesichts des wissenschaftlichen Fortschrittes immer bedroht. Die wirtschaftliche Existenz lebt von der Häufigkeit der Änderung der Existenzmittel. Der Kampf gegen die Veralterung macht die Unheimlichkeit der Fabrik aus, der Mensch in der Industrie lebt in ständiger Ungewißheit. Jeder Betrieb ist von vornherein eine vorübergehende Einrichtung, die von Gnaden des jeweiligen industriellen Systems insgesamt besteht. Eine Fabrik ist, so Rosenstock, die Anwendung des Prinzips der Goldgrube auf jede Arbeit. Das macht sie grundsätzlich vorübergehend und vergänglich und für die Ewigkeit ungeeignet. Konstanten sind innerhalb dieses Vorübergehenden alleine die Betreibleitung und die Vertriebsabteilung (Kaufleute), die Arbeitskräfte –Arbeiter und Ingenieure- wechseln je nach Entwicklungsphase. Folglich besteht zwischen Konstanten und wechselnden Betriebsangehörigen kein dialektisches Verhältnis, sondern ein Zusammenspiel von vier Erscheinungsformen industrieller Wirklichkeit, wobei die Konstanten als formal (sie können alles und jeden leiten und verkaufen), Arbeiter und Ingenieure jedoch als qualitativ zu bezeichnen sind (sie sind, so Rosenstock, an ein bestimmtes technisches Geheimnis gebunden).

Das Zusammenspiel bestimmt Rosenstock so: Die Betriebsleitung vermittelt innerhalb des Betriebes zwischen der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung und seiner tatsächlichen Struktur, der Kaufmann blickt auf den äußeren Markt, der Ingenieur hat mit der technischen Entwicklung die Zukunft im Blick und der Arbeiter in der täglichen Routine der Arbeitsabläufe die Vergangenheit. Rosenstock bildet hier sein methodisches Prinzip – Du wirst es in fast allen seiner Schriften findendes ‚Kreuzes der Wirklichkeit’ auf den Industriebetrieb ab.

Die Aufgabe der Betriebsleitung ist also nicht Personalführung im Sinne einer Leitung der Menschen, sondern die Koordination kurzlebiger Beziehungen zwischen entwickelnden Ingenieuren und routinierten Arbeitern, vorhandener Maschinen und Anforderungen stellender Märkte. Diese Aufgabe der Betriebsleitung hat eine bestimmte Auffassung von Zeit und Zeiteinteilung zur Folge, die sich auf den einzelnen Betriebsangehörigen überträgt und ihn so zu einem Menschen macht, ‚wie ihn die Erde noch nicht gesehen hat’.

Für die folgende Untersuchung des neuen Menschen ist die Anwendung der zeitlichen Perspektive entscheidend. Die Zeit ist das eine große Lebensthema Rosenstocks. Der neue Mensch lebt unter einem neuen Kalender, dem Kalkulationskalender der Industrie. Er trennt die Arbeitszeit vom Menschen, macht seine Zukunft zu einer antizipierten Zeitstrecke für Arbeit und bezieht sie nur noch ausschließlich auf das Arbeitsstück. Das so geschaffene Stundenlohnsystem durchsetzt das zeitliche Leben eines jeden heutigen Menschen, die sich auf nichts mehr verlassen können als auf das industrielle System selbst. Außerhalb dieses Systems den Menschen zu suchen hat keinen wissenschaftlichen Sinn. Der Mensch ist allein mit der Industrie, deren Krisen und Konstellationen sein Leben durchformen. Es ist die Aufgabe deren Schönheit, Werte und Methoden der Erneuerung zu beschreiben. Eine solche Beschreibung muß ausgehen von der normierten Gleichförmigkeit der industriellen Welt, insbesondere die Gleichförmigkeit der neuen (Uhr-)Zeit, die vom Menschen unabhängig ist. Der alte Kalender war auf die Lebensspanne des Menschen bezogen, der neue auf die Arbeit der äußeren Natur bzw. das hervorzubringende Produkt. Diese Abtrennung des Menschen vom Kalender hat eine Unmündigkeit zur Folge, aufgrund derer ihm die Vorsorge für die Zukunft abgenommen wird (Versicherungen). Denn auch diese wird nicht mehr als etwas Neues, sondern als ein potentiell in bezug auf das Arbeitsstück Vorherberechenbares betrachtet. Diese vorweggenommene Zeit, die ‚Zeit ohne Zukunft’ ist der Preis, den der Mensch für den neuen Kalender bezahlt.

Der Mensch unter dem neuen Kalender arbeitet in (gleichförmigen) Schichten. Von einem einzelnen kann dies aber im 24-Stunden-Tag nicht geleistet werden. Das bedeutet: in der Industrie kann der Platz eines Menschen nicht mehr von einem einzelnen ausgefüllt werden. In der Industrie entsprechen drei Einzelne einem Menschen. Diese dreifache zeitliche Einheit ist das kleinstmögliche soziale Molekül, die Dreiergruppe die kleinste Einheit, auf der die Werksmoral aufgebaut werden kann. In der Industrie ist ‚Drei gleich Eins’. Rosenstock formuliert hier das erste ‚ökodynamische Gesetz der Industrie’, welches jeglichen Individualismus im herkömmlichen Sinne beseitigt. Doch der Verlust hat auch eine Kehrseite. Die Vernichtung des Individualismus macht nämlich den einzelnen Arbeiter gegen die wesensmäßige Vergänglichkeit der Fabrik, die Notwendigkeit des Wechsels, immun. Der Arbeiter als Teil eines Dreiermoleküls der Schichtarbeit überlebt die Fabrik. Die Dreiermoleküle innerhalb der vergänglichen Fabrik organisieren sich im Produktionsablauf zu gleichfalls vergänglichen, aber auch lebendigen Arbeitsgruppen, deren Anerkennung nach Rosenstock ein erster Schritt zur Wiedergewinnung der Fülle des Lebens innerhalb der industrialisierten Welt wäre. Die wissenschaftliche Behandlung des Menschen in der Industrie wiederum kann, von der zeitlichen Perspektive ausgehend, den molekülhaften, also nichtindividuellen und gesellschaftlichen Charakter des Menschen als eines Mitarbeiters konstatieren. Dies geschieht unter der Ägide der Sprache, Rosenstocks zweitem großen Lebensthema. Der Mensch in der Industrie ist Plural. Dieses Grundgesetz der Ökodynamik ‚Drei gleich eins’ ist dabei wesentlich wirklichkeitsnäher und handlungsrelevanter für den heutigen Menschen als das verabsolutierte ‚alle gleich eins’ des Kommunismus, welches im industriellen Arbeitsleben nach Rosenstock bestenfalls für Sonntagsreden taugt. Die Ökodynamik läßt dem Menschen die Freiheit zu Kooperation, da sie von Formen ausgeht, die vom Tod gekennzeichnet sind, und nicht von ewigen Beständen. Der Plural ist die grammatische Form des vorübergehenden, des gesellschaftlichen Menschen in der Natur. Seine Zeitspanne umfaßt drei bis fünf Jahre. Die unangemessene Anwendung dieser Form von der Wissenschaft auf alle Bereiche des Lebens ist nach Rosenstock Hauptursache von allen falschen Verallgemeinerungen.

Die Industrie trifft nirgends das konkrete, sondern stets nur auf das abstrakte Individuum. Dies veranlaßt diese als Abstrakta Angesprochenen, sich als solche im Kollektiv zu begreifen: aus dem konkreten in einer Fabrik arbeitenden Menschen wird ein Teil ‚der’ Arbeiter. Als Arbeiter spricht er von nun an im Kollektiv von sich selbst. Diese grammatische Form beinhaltet ein gemeinsames Ziel und weist auf einen abstrakten Idealtyp. Alle Erziehung hat nach Rosenstock den Kollektiv zum Ergebnis. Das zweite Gesetz der Ökodynamik, das Gesetz der Qualifizierung lautet: ‚Alle gleich Eins’. Der Glaube an die Verbreitung kollektiver Lebensformen ist eine listiger Versuch, der individuellen Verantwortung zu entrinnen. Der Kollektiv legt den Nachdruck auf etwas, das im Flusse ist. Er ist die grammatische Form für endlos fortgesetzte Zeiträume, für den Menschen als Glied ewiger Gruppen und Repräsentanten der Zukunft. Das Ventil für kollektive Tendenzen ist der Dienst am Gemeinwohl.

Du siehst, daß wir es also schon mit zwei Formen des zeitlich betrachteten Menschen zu tun haben: dem pluralen Menschen in der industriellen Arbeit und dem kollektiven Menschen in der Erziehung. Zur Kennzeichnung eines weiteren Aggregatszustandes des Menschen kommt Rosenstock eine scheinbar längstbegrabene grammatische Tradition zur Hilfe. In jeglicher persönlicher Beziehung regiert die dialektische Polarität mit ihrer grammatischen Form des Dual. Dies gilt insbesondere für die Formen der Arterhaltung, insbesondere für das Gesetz der Fortpflanzung. Der Dual kennzeichnet die Mannigfaltigkeit in der Einheit und ist Ausdruck jeglicher Verkörperung und Einverleibung. Es ist Ausdruck der Möglichkeit zur Stiftung von Ehen unter beliebigen Elementen vergleichbarer Art und daher nicht auf den Bereich der Gefühle beschränkt. In allen für Erzeugung repräsentativen Bereichen gilt das dritte ökodynamische Gesetz ‚Zwei gleich eins’. Dieser Bereich kann weder durch den Plural noch durch den Singular zureichend erfaßt werden, und die Wissenschaft, die zur Analyse solcher Beziehungen auf den Dual verzichtet, macht sich einer unangemessenen Überdehnung der Gültigkeitsbereiche von Plural bzw. Singular schuldig. Denn auch der Dual hat seine eigentümliche Chronologie. Er strebt nach polarer Einheit. Der Versuch, eine Lebensperiode in den Dual zu stellen, zeugt von Bewußtsein und Wissen, da jegliches Denken, wie Rosenstock meint, ‚den Stempel dialektischen Widerspruchs trägt’. Dabei befähigt der Dual dazu, Antagonismen in Polaritäten einer höheren Einheit zu überführen und an dieser Einheit seine Handlungen auszurichten, indem er aus dem selbstzentrierten und an einen Punkt gebundenen Bewußtsein befreit. Er ist die grammatische Form der Sicherung der zukünftigen Erneuerung des geliebten Organismus, der Schöpfung einer neuen Umwelt. Er ist die Form des Denkens in Generationen.

Plural, Kollektiv und Dual machen deutlich, daß der angebliche Singular Mensch keinesfalls ein Singular ist. Durch sie sind die menschlichen Zeiten drei bis fünf Jahre, Ewigkeit und Generation erfaßt. Wie ist jetzt noch der vormals absolut gesetzte Singular möglich? Nach Rosenstock taucht der Singular jetzt ausschließlich als Überraschung auf, nämlich als eine biographische Einheit, die nicht vom Denken konstituiert wird. Er bekommt einen vielleicht anstößigen Namen. Der Singular des Menschen ist die Seele, die als Rhythmus Jugend und Alter des Menschen durchdringt. Sie ist dasjenige, was gegenüber der vielen Erscheinungsformen des Menschen singulär ist als eine Kraft der Überwindung von Wechseln, Tod und Katastrophen. Sie ist Ausdruck der Rechtzeitigkeit des menschlichen Handelns, der Arbeit an sich selbst, des Vertrauens in die Möglichkeit einer Organisation des Lebens, die Neuanfänge als selbstbildende Elemente einschließt. Zeichen hierfür ist die Möglichkeit, namentlich angesprochen zu werden; der im rechten Augenblick gerufene Name ist es, der den Menschen zu sich selbst verhilft. Das vierte ökodynamische Grundgesetz ist ganz entsprechend das ‚Eins gleich eins’.

Alle grammatischen Formen kennzeichnen Bruchstücke, aus denen sich der Mensch in der Industrie zusammensetzt, wobei der Plural eine von Rosenstock besonders gewürdigte Rolle spielt. Im zweiten Teil seines Buches, überschreiben mit ‚Die Wirtschaft im Großen und Ganzen’, befaßt sich Rosenstock mit dem Begriff der Partnerschaft hinsichtlich der besonderen Situation des Betriebes. Dabei ist Partnerschaft für Rosenstock kein erst zu errichtendes Konstrukt, sondern eine immer schon bestehende Realität, in der der Einzelne sich immer schon bewegt. Partnerschaft wird wirksam, wenn diese bestehende Realität anerkannt und der Partner als solcher angesprochen wird. Jede Entdeckung der Partnerschaft bringt, so Rosenstock, den Frieden. Der Betreib ist eine bestehende Partnerschaft, die noch erkannt werden muß, indem sich die Partner ansprechen. Wiederum siehst Du die Bedeutung der Sprache, hier als Ansprache, im Werk Rosenstocks. Dem Unternehmer steht die plurale Betriebsgruppe von Arbeitern gegenüber. Zur den industriellen Gruppen sagt Rosenstock folgendes: Zwar ist die Assoziation unentbehrlich, ihr muß aber die ‚Kraft zur Dissoziation’, die Möglichkeit zur ‚Gruppenabschüttlung’ gegenüberstehen. Denn die Arbeitsteilung, so macht die biblische Erzählung deutlich, ist die Ursünde, da sie erlaubt, Verantwortlichkeit zu verleugnen. Niemand weiß mehr recht, was er tut, es ist ihm nicht möglich, über seine Tätigkeit Rede und Antwort zu stehen. Arbeitsteilung verwendet den unmündigen, der mündige Mensch jedoch findet die Kraft zur Gruppenabschüttelung bzw. zur neuen Assoziation. Solange sich diese ständig neu formierten Gruppen im Produktionsprozeß als Partner ansprechen, ist der Friede im Betrieb garantiert. Gruppen müssen im Sinne dieses Friedens als temporäre Gebilde betrachtet werden. Die Dynamik der Assoziation macht die Partnerschaft zum Prozeß; der Begriff ‚Partner’ spiegelt ein ‚gläubiges Ergriffenwerden’ durch einen dynamischen Prozeß gegenseitiger Anerkennung. Es bildet sich so im Betrieb ökodynamisch ständig neue Konstellationen, die den Frieden des Betriebes ausmachen.

Produktive und fruchtbare Arbeit verlangt den Mut zu neuen Verbänden. Daß der Mensch auf seine Fähigkeit zur Bildung von Konstellationen angesprochen werden kann, rettet ihn als unverwechselbares und unwiederbringliches Individuum im Ganzen. Nur so, durch die Ansprache, kann er den rechten Zeitpunkt zur Bildung einer neuen Gruppe finden. Reine Wiederholungen sind nach Rosenstock Zeichen des Todes. Eine Gruppe ist daher nicht nach einem bestimmten wiederholbaren Schema mechanisch, etwa durch Uniform, Nationalflagge oder Steuerbescheid, zu bilden, sondern entsteht in der partnerschaftlichen Ansprache einer bestimmten Konstellation zum richtigen Zeitpunkt. Hier spielen nicht die Kleider, wie Rosenstock sagt, sondern die Herzen die entscheidende Rolle. Die ‚Seelenkraft zum Arbeitswechsel’ sollte bei allen Konstellationen niemals aufgegeben werden.

Die Konstellation im Betreib ist seelische Einlassung auf Grundlage der Technik, ohne jedoch sakral oder politisch begründet zu sein. Diese Technik zeigt sich nur in vorübergehenden Erscheinungsformen. Die Konstellation aber ist eine lebendige Ordnung, für die eine echte Wissenschaft Partei ergreifen muß. Ihre Lebendigkeit zeigt sich in ihrer Zeugungsfähigkeit. Der rein organisierbaren Welt der Industrie, der sich eine fehlgeleitete Wissenschaft widmet, steht die organische Welt fruchtbarer Industrie gegenüber. Diese Fruchtbarkeit zeigt sich in der Gründung von Betrieben. Diese Gründung ist nur möglich durch partnerschaftliche Mitarbeiter, also solche Betriebsangehörige, die bei Untergang des Betriebes diesen neu aufbauen können. Rosenstock unterscheidet den Arbeiter vom ökodynamischen Mitarbeiter. Das Wachstum der Industrie besteht also nicht in der bloßen Aufsteigerung von Produktionsziffern, sondern biologisch in der Zeugung neuer Betreibe, indem Mitarbeiter den Betrieb organisieren. Die Mitarbeit hat so die Perspektive in die Zukunft wie die Perspektive nach außen. Seine Fähigkeit zur Bestimmung von Zeit und Raum macht ihn zum Arbeitgeber. Ein von Mitarbeitern getragener Betrieb hat keine maximale, sondern eine optimale Betriebsgröße, die Besetzung von Zentrale und Werkstatt ist austauschbar und es besteht kein Antagonismus von Mitarbeitern und Unternehmern. Die Mitarbeiter haben die Verfügung über Arbeitsplatz und Arbeitszeit, und ebenso die Möglichkeit zu neuer Konstellation: Der Betreib kann sich so täglich erneuern, da er temporär und sprachlich angelegt ist.

Abschließend wendet sich Rosenstock im dritten Teil der Frage ‚Wem gehört der Betreib?’ zu. Wirtschaftlich lohnend ist ein Betreib nur, wenn durch das Entstehen von Mitarbeitern Frieden zwischen Kapital und Arbeit gesichert ist, wenn also Mitarbeiter entstehen, die Filialen, Neugründungen und Nachfolge möglich machen. Der Betrieb gehört demjenigen, der seinen Angehörigen etwas zu sagen hat. Ein lebendiger Betreib ist derjenige, bei dem die Scheidung von Kapital und Arbeit unmöglich wird, da es auf allen Ebenen nur noch Mitarbeiter gibt, die sich den Anforderungen, dem Ruf eines lebendigen Betriebes stellen und sich gegenseitig partnerschaftlich ansprechen. Diese zeugungsfähigen Mitarbeiter machen das Kapital des Betriebes aus. Die Leistung des Mitarbeiters ist nicht mehr auf dem Niveau der Arbeitsstunde abzurechnen: er ist als Mensch unbezahlbar geworden. Durch seine Fähigkeit der Organisation ‚reißt er das verrohte, formlose Material der Welt in den Lebensprozeß der Menschheit zurück’. Der zeugungsfähige Mitarbeiter ist der unbezahlbare Mensch, dem die bezahlbare Welt gehört.

Soweit der Durchgang durch das Buch. Ich möchte noch einige Sätze anschließen.

Rosenstock versucht nicht mehr und nicht weniger, die ‚unsangbarste aller Lehren, die von der Nationalökonomie, … in eine sangbare Schrift umzugießen.’ Dem Maschinenstakkato der Arbeitstaktung setzt er das Hohelied des Mitarbeiters entgegen, ohne jedoch auf den Anspruch der Wissenschaftlichkeit Verzicht zu tun.

Es ist nicht etwa eine Industrieanthropologie oder eine Industriesoziologie hier angestrebt, sondern es liegt ein Manifest einer neuen, in dieser Form sicher sehr bemerkenswerten Wissenschaft, nämlich der Industriebiologie, vor. Es ist wichtig zu vermerken, daß Rosenstock den Begriff der Biologie hier keinesfalls nur metaphorisch gebraucht. In dem Wort ‚Biologie’ ist die ungewöhnliche Perspektive verborgen, die Rosenstock auf die Industrie anwendet, nämlich hinsichtlich des wesentlich zeitlichen Lebens (bios) und hinsichtlich der ihm zugehörigen Sprache (logos). Der Betrieb kann nur lebendig sein, wenn der Mensch seiner grammatikalischen Multiformität als Angehöriger eines Betriebes gerecht wird. Die Biologie des Betriebes ist abhängig von der Sprache. Es ist ein Fehler der gängigen Wissenschaft, den Menschen als ein unveränderliches und letztlich unbestimmbares Subjekt zu behandeln. Die neue Wissenschaft hingegen, die Rosenstock anstrebt, ist eine Wissenschaft von den ‚Konstanten’, das heißt von den formalen Beziehungen des Menschen zu sozialen Gestaltungen, die ihn tagtäglich umgeben. Diese Gestaltungen oder Konstanten haben eine grammatische oder sprachliche Ordnung. Diese sprachliche Ordnung geht über die Schulgrammatik hinaus. Es gibt in ihr im Bereich des Numerus mehr als nur die zwei Formen Singular und Plural. In der sprachlichen Ordnung der Industriebiologie hat man es mit dem Plural, dem Kollektivus, dem Dual und dem Singular zu tun. Sie sind Ordnungsinstanzen der Welt und je verschieden nach Hinsichtnahme und Aufgabe. Erst zusammen machen sie die Einheit des menschlichen Lebens aus.

Ich stelle die Numerusformen des Menschen im Industriealter noch einmal hier mit Rosenstocks und eigenen Kommentaren zusammen:

Im Plural kann man arbeiten, jedoch keine Kinder erzeugen. Der Kollektivus ist eine unabdingbare grammatikalische Grundform und vernünftige Notwendigkeit des menschlichen Verhaltens. Hier kann man Politik treiben, nicht jedoch produzieren. Der Dual ist die Erneuerungsform der Welt, in der man jedoch nicht berühmt werden kann. Der Singular ist das einheitsstiftende Prinzip im Menschen, die Ausdrucksform des Namens, mit dem er angesprochen wird.

In dem Buch ‚Der unbezahlbare Mensch’ ist die Rede von noch viel mehr, da Rosenstock wie in allen seinen Büchern sein ungeheuer breites Wissen von Soziologie über Geschichte bis Religion für die jeweils konkret behandelte Frage nutzt: in Beispielen, Modellen und Redeweisen. Diese sind durchweg lesens- und bemerkenswert, ich konnte sie aber nicht alle anführen und konzentrierte mich deshalb auf die Hauptargumentationslinie.

Deine Kritik möchte ich nicht vorwegnehmen. Ich hoffe, das Buch und auch dieser Brief werden uns dereinst zu einem guten Gespräch verhelfen.

Dein Vater