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Hans Thieme: Die Epochen des Rechts

Stimmstein 6, 2001

Mitteilungsblätter 2001

Hans Thieme

Die Epochen des Rechts

Im Panzerschrank der Breslauer Universität befand sich ein schmaler roter Lederband mit Goldschnitt, das Album der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Darin hatten die Professoren seit 1811 ihren Werdegang und ihr berufliches Streben geschildert. Nicht die Aufzeichnungen Gierkes, Mommsens oder Felix Dahns haben dem Schreiber dieser Zeilen vor einem halben Menschenalter bleibenden Eindruck gemacht, sondern ein paar Sätze von Eugen Rosenstock-Hüssy, der zehn Jahre lang Ordinarius für Deutsches Recht in Breslau war, ehe ihn der Nationalsozialismus außer Lande trieb. Rosenstock sprach darin von der Erschütterung, die ihn 1918 nach dem Zusammenbruch befallen und am Nutzen der Rechtshistorie für das Leben hatte zweifeln lassen. War unsere Lage nicht ganz dieselbe? Und sollte nicht vielleicht die Auszehrung, an der unser Fach mehr und mehr leidet, auch eine Folge mangelnder Selbstbesinnung sein? Es gibt in der ganzen Bundesrepublik heut noch zwei Privatdozenten für Deutsche Rechtsgeschichte, während über ein halbes Dutzend Lehrstühle verwaist sind. In seiner Göttinger Aularede von 1950 über „Das Geheimnis der Universität“ (Die Sammlung V, 523 E.) hat Rosenstock ausgesprochen, was die Privatdozenten für unsere Hohen Schulen bedeutet haben: den „Kompressionsmotor, dank dem die Universität den Ereignissen um 15 Jahre voraus laufen konnte”, die „Seelenachse des Gewehrs mit dem der deutsche Geist in die Zukunft schoß”. „Wenn der deutsche Privatdozent etwas taugte, so lehrte er etwas den Ordinarien Entgegengesetztes.” Wir sind seit der Zeit K.F. Eichhorn! (1781-1854), von dem sich die Deutsche Rechtsgeschichte herschreibt, noch nie so arm an Nachwuchs gewesen.

Der Niederschlag jener Tage ist ein Aufsatz des Privatdozenten Eugen Rosenstock vom „Neubau der Deutschen Rechtsgeschichte” (Die Arbeitsgemeinschaft I, 132 ff., 172 ff.) aus dem November 1919. Dort finden sich bereits die wichtigsten Gedanken seines großen Werks: „Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen” (1931; 2. erneuerte Ausgabe 19511) und seiner Göttinger Vorlesung (Sommer 1950) über „Die Epochen des Rechts”, die nichts anderes war, als eine konzentrierte Deutsche Verfassungsgeschichte. Und wenn es richtig ist, was der Historiker Rosenstock behauptet, daß der zweite Weltkrieg, „the unnecessary war” (Churchill), nur eine Wiederholung des ersten gewesen sei, so erklärt es sich auch, warum jener Aufsatz heute so aktuell wie damals wirkt und weshalb seine „vorausgedachten” Forderungen zumeist noch immer unerfüllt sind. „Wie alle zu weit getriebene Spezialisierung heute zusammenbricht, so auch die des Rechtshistorikers”, heißt es dort. Und weiter: „Das Interessante der Zeit soll Gegenstand der Geschichte sein”, die bis auf Eichhorn noch „Lehrmeisterin des Lebens” war, und nicht „historisches Fossil”.

Rosenstock tadelt sodann (wie vor ihm schon 1905 der Privatdozent E. v. Moeller) „die Trennung der deutschen und der römischen Rechtsgeschichte” und fordert eine „einheitliche Geschichte unseres heutigen Rechts”, die wirklich den „Anschluß an die Gegenwart” bringt. In diesem Punkte wenigstens dürfen wir auf einen wirklichen Fortschritt verweisen; die „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit”, 1935 neu in den Lehrplan eingestellt, fördert entscheidend die Gemeinschaftsarbeit von Romanisten und Germanisten und führt bis in die jüngste Zeit.

Aber Eugen Rosenstock-Hüssy sah in der Deutschen Rechtsgeschichte damals schon weit mehr, als nur eine Vorlesung oder ein Studienfach; sie war und ist für ihn die persongewordene Vergangenheit, fortwirkend in der Gegenwart und geformt durch zahlreiche Entwicklungsstufen, die Epochen des Rechts, die ihr bleibende Züge aufgeprägt haben. „Was die einzelnen Zeiten an neuen Einrichtungen hinstellen, damit treten sie ein in unsere eigene Gegenwart, damit werden sie zu Teilen unseres eigenen Wesens” heißt es schon 1919. Die Periodenbildung ist demnach ein sehr ernstes Anliegen; „man muß wissen, in welche Epoche man gehört”. Es sind „Abschnitte einheitlichen Bewußtseins”; jeder von ihnen „beginnt mit einem Unrecht und endet, wenn dieses Unrecht beigelegt ist”. Die Rechtsgeschichte wird so zur „Religion der Juristen”, sie verrät in jeder Epoche, wes Geistes Kind jemand ist.

Zum Beispiel leben wir (seit 1945) nach Rosenstock in der Epoche „Weltrecht und menschliches Recht”, nicht etwa nur „europäisches Recht”, denn Europa allein wäre nicht zu einer Friedensordnung fähig, und erst recht nicht „deutsches Recht”, da dieses gerade „das einseitige Hervorzerren des angeblich bloß nationalen Erbguts” überwinden und am „Menschenrecht” ausgerichtet sein soll. Nicht am Naturrecht, denn dieses ist bei Rosenstock stumm und tot. „Die Physik hat den Naturbegriff aufgebraucht und ausgezogen. Sogar die Dinge haben ja laut Weizsäcker keine Natur mehr, geschweige denn die Menschen. Es ist unser Schicksal geworden, den neuen Dualismus jenseits von ‘Natur und Nomos’ aufsuchen zu müssen.” Die vorangegangene Epoche (seit 1806) heißt schon 1919 bei Rosenstock „Revolution und Restauration”. Zwischen diesen beiden Polen schwankt alles Geschehen jener Zeit, und die von der romantischen Schule (Savigny, Eichhorn) begründete Rechtsgeschichte der Juristen war selbst „ein Beitrag zu den Restaurationsversuchen”. Weiter zurück (seit 1648) liegt die Epoche, die Rosenstock „Staatsrecht und Naturrecht” nannte, liegen (seit 1495) „Reichsreform und Landesreformation”, (seit 1388) „Konzilien und Fürsten”, (seit 1254) „Städtebünde oder Ritter”, (seit 1122) „kanonisches oder Lehnrecht”, (seit 998) „Gottesfriede oder Zweischwerterlehre” und so weiter, jeweils etwa vier Generationen einheitlichen Selbstbewußtseins umfassend, bis zum „Beginn der Deutschen Rechtsgeschichte” 732 (Schlacht bei Poitiers), als sie sich von dem ungeschichtlichen Islam lossagte. Damals „geschah die Entscheidung der Germanen, Deutsche zu werden”; jeder „historischen Vergermanisiererei” ist Rosenstock abgeneigt, der einmal formuliert: „Wer ‘Germanen’ sagt, will mit den anderen Nationen nichts zu tun haben.”

Die Wendepunkte der solchergestalt abgegrenzten Epochen des Rechts sind die Revolutionen. Auch dieser Gedanke ist in dem Aufsatz von 1919 schon vorgebildet: „Die Rechtsgeschichte hat bisher die Kriege und die Revolutionen nicht ernst genommen. Aber wenn die Gesundheit des Körpers nie besser als an der Krankheit erkannt wird, so gehörte die tiefe Unwirklichkeit des abgelaufenen Historismus dazu, um nicht in den Kriegen gewaltige Umschichtungen des Rechtsgefühls und der Rechtsvorstellungen aufzusuchen.” Aus diesen Ansätzen entsteht dann 1931 in Gestalt der „Europäischen Revolutionen” eine „Formen-geschichte des Rechts”, die Rosenstock als „wirkliche Rechtsgeschichte” ansieht, auch wenn die Fachwissenschaft von ihr, charakteristisch genug, weniger Notiz nimmt, als die Geschichtslehre allgemein. Nun heißt es ganz deutlich: „Der Bruch mit einem Rechtszustand ist das Kennzeichen der Revolution.” „Der Revolutionär rächt das Unrecht, das unter dem Schein des Rechts besteht; er ist der Rächer einer Partei, die noch keine anerkannte Rechtsposition hat.” Die großen europäischen Völker machen jedes neu seine eigene Revolution durch, aber jede bleibt in ihren Auswirkungen nicht auf den eigenen Boden beschränkt und trägt so zu der gesamteuropäischen Entwicklung mit bei, Dadurch gewinnt Rosenstocks Buch seinen universellen Zug und kann er es wagen, zu schreiben: ‘Die von allen Historikerkongressen stürmisch geforderte’ Einheitsgeschichte aller nationalen Schulbücher ist hier geleistet.”

Diese „Theorie der Revolutionen” wird im zweiten Teil seines Werkes der Darstellung von zwölfhundert Jahren europäischer Geschichte zugrunde gelegt und durch eine Fülle von Tatsachen, fremden und eignen Forschungsergebnissen und kühnen Konstruktionen untermauert. Vieles, was man aus den älteren, mehr fachwissenschaftlich orientierten Arbeiten Rosenstocks kannte (Königshaus und Stämme, 1914; Industrierecht, 1926; Die Furt der Franken und das Schisma, 1927; Unser Volksname Deutsch, 1928), erscheint nun wieder in größerem Zusammenhang; anderes, was bereits im Ausland vorgetragen wurde (Out of Revolution, 1938), findet in der Neuausgabe der „Revolutionen” erstmals den Weg zum deutschen Leser.

Es läßt sich kaum ein Begriff davon geben, wie reich die Tafel besetzt ist, und was für überraschende Früchte sie bereit hält. Erwähnt sei nur etwa die ungemein anregende Deutung der Heerschildordnung des Sachsenspiegels, der Papstnamen, des Investiturstreits oder des Dictatus Papae von 1075. Auch erfahren wir hier, was es mit „Europa” und „Abendland”, mit „translatio imperii”, „Nation” und „Heiligem Römischen Reich” auf sich hat. Eugen Rosenstock-Hüssy, von dem so viel Ermutigung auf jüngere ausgestrahlt ist, wird selber am wenigsten erwarten, daß man etwa alle seine glänzenden Formulierungen und bestechend vorgetragenen Ergebnisse akzeptiert. So steht und fällt zum Beispiel die - in der Gedächtnisschrift für Ernst Lohmeyer (1951) näher ausgeführte - These vom heidnischen Götzendienst der Franken („Vivat Christus”) und dem päpstlichen Protest dagegen („Deus vivit”) mit dem Prolog der Lex Salica, wo es nun einmal heißt: „Vivit qui Franciis diligit, Christus corum regnum custodiat”, also ein Gegensatz zu Psalm 18, 47 nicht zu erkennen ist.

Rosenstock wagt auf Grund seiner historischen Einsicht kühne und deutliche Prognosen: der dritte Weltkrieg findet nicht statt; USA und Rußland haben beide zu viel zu verlieren; das „koreanische Ereignis” hat die Weltkriegsrevolution beendet. Die russische Revolution hat keine Zukunft; sie „ist nicht imstande, die westliche Welt zu erobern”. Jener Aufsatz von 1919 schloß mit den Worten: „Deshalb dürfen wir an den Neubau der Rechtsgeschichte mit der Hoffnung herantreten, das Bewußtsein des deutschen Volkes möge über Parteien, Konfessionen, Stämme und Stände hinweg in den Rahmen einer einheitlichen Vergangenheit, einer einheitlichen Rechts- und Schicksalsgemeinschaft und damit einer einheitlichen Zukunft hineinwachsen.” Bereits 1931 erweiterte Eugen Rosenstock diesen Satz: „Europa erwirbt durch diesen Krieg Ein Schicksal und Einen Glauben … Die Spaltung Europas ist heute sinnlos geworden. Um vorwärts zu leben, müssen wir hinter die Spaltung zurückgreifen.” „Ehe nicht der Weltkrieg die Lehre der Völker erneuert hat, eher dürfen die Gelehrten nicht demobil machen.” Um wie viel mehr gilt dies alles für unsere Tage! Dem Verfasser, der jetzt auf der Höhe des dem „Lehren” gewidmeten Jahrzehnts steht, gebührt Dank auch von Seiten der Deutschen Rechtsgeschichte für sein lebenspendendes Werk. Ihren alten und jungen Freunden aber gilt unser Ruf: nimm und lies! 2

  1. Rosenstock-Hüssy, Eugen: Die Europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen. Stuttgart u. Köln: Kohlhammer (1951). XX, 584 S. Lw. 28.80. 

  2. Aus: Juristenzeitung (Mohr) Tübingen, 8. Jg. (1953), Heft 13, S. 418-419. Prof. Thieme war der letzte Assistent Eugen Rosenstock-Huessys in Breslau vor dessen Auswanderung im Jahre 1933.