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Harold Berman: Recht und Revolution

Stimmstein 6, 2001

Mitteilungsblätter 2001

Harold Berman:
 Recht und Revolution

Die Bildung der westlichen Rechtstradition1

Verehrte Kollegen, liebe Freunde!

Für Ihr Interesse an meinem Buch danke ich Ihnen sehr herzlich; ebenso bedanke ich mich dafür, daß Sie mich anläßlich der deutschsprachigen Ausgabe meines Buches in Ihrer ehrwürdigen Universität so freundlich willkommen heißen. Ihre Anwesenheit ehrt mich außerordentlich und ich bin denen, die die deutsche Ausgabe meines Buches ermöglicht haben, zu großem Dank verpflichtet. Vor allem gilt dies unserem heutigen Gastgeber, Herrn Friedheim Herborth vom Suhrkamp Verlag, der dieses Projekt ins Leben gerufen hat und mit Enthusiasmus und vielen guten Ratschlägen unterstützt hat. Auch an Herrn Hermann Vetter möchte ich meinen besonderen Dank richten. Mit großer Sorgfalt und kreativem Einfühlungsvermögen ist ihm eine wirklich ausgezeichnete Übersetzung gelungen.

Man hat mich gebeten eine Einleitung zu meinem Buch zu geben, und es ist mir ein Vergnügen, dieser Bitte nachzukommen. Ich muß mich allerdings vorweg für meine etwas rostigen Deutschkenntnisse entschuldigen, was zur Folge hat, daß ich es für ratsam hielt, das, was ich zu sagen habe, lieber abzulesen, als zu versuchen, frei zu sprechen.

Zuerst möchte ich erwähnen, daß es sich hier um ein europäisches Buch handelt, welches bemüht ist, das betont nationale − und oft nationalistische − Vorurteil historischer Untersuchungen zu überwinden, was im Zeitraum der letzten einundeinhalb Jahrhunderte besonders für das Gebiet der Rechtsgeschichte zutrifft.  Es ist natürlich zum Teil darauf zurückzuführen, daß ich, als Amerikaner, Europa nicht vorwiegend als national, sondern als ein integriertes Ganzes mit einer gemeinsamen Kultur und einer gemeinsamen Geschichte sehe. Aber es gilt dies auch, weil ich zuerst − vor mehr als 50 Jahren − dazu angeregt wurde, europäische Geschichte zu studieren, und zwar durch den großen Historiker und Propheten Eugen Rosenstock. Dieser war im Jahre 1912 Dozent an der Leipziger Universität gewesen, im Alter von 24 Jahren, und war schließlich, nachdem er am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, Professor an der Breslauer Universität geworden, bevor er dann kurz nach Hitlers Machtergreifung 1933 nach Amerika auswanderte. Rosenstock oder Rosenstock-Huessy, wie er sich nach seiner Auswanderung nannte, war Gelehrter von umfassendem Wissen und ein Denker von außerordentlicher Vielseitigkeit und Phantasie, der Bücher in vielen verschiedenen Fachbereichen schrieb.  Weil aber seine umfangreichen, geschichtlichen und philosophischen Werke nur wenigen Menschen bekannt sind, und weil ich beim Schreiben von Recht und Revolution in großem Maße von seinen ungewöhnlichen Einsichten in die europäische Geschichte beeinflußt wurde, und schließlich auch weil ich mich hier gewisser-maßen an seine Landsleute wende, möchte ich meine Bemerkungen damit beginnen, daß ich auf einige Aspekte meines Buches hinweise, die von seinem Einfluß zeugen.

Rosenstock-Huessy lehrte mich als erstes, Geschichte als periodisch in ihrem Fortlauf zu verstehen, als einem Muster folgend und sich in langen Zeitspannen, mit sich wiederholenden Motiven fortbewegend. Er lehrte mich, daß es die erste Aufgabe des Historikers sei, die richtige Periodizität festzulegen. Zum zweiten lehrte er mich, daß Geschichte zweckmäßig ist, also Sinn hat.  Sie ist nicht nur in bezug auf ihre Urheber (effektive Ursachen, efficient causes) zu verstehen, sondern auch in bezug auf ihre Endzwecke (endliche Ursachen, final causes). Deshalb sollten wir versuchen, wenn wir Geschichte studieren − und wenn wir von der westlichen Tradition herkommen, müssen wir uns mit der Geschichte befassen − in der Geschichte ihre Periodizität und ihren Sinn zu fin-den. Und drittens ist unser Vergangenheitsverständnis, inklusive der Periodizität, zutiefst beeinflußt von unseren Zukunftserwartungen, die nicht erfahrungsgemäß, sondern nur intuitiv erfaßt werden können. Genauer gesagt, indem wir uns unserer eigenen Geschichte bewußt werden, der Geschichte des Westens also, müssen wir mit der Erkenntnis beginnen, daß wir vor einem neuen Zeitalter stehen.

Rosenstocks Generation, meine eigene und die meiner Kinder verbindet die Tatsache, daß alle drei die Erfahrung eines Weltkrieges durchgemacht haben. Die Generation Rosenstocks überlebte den Ersten Weltkrieg, meine Generation den Zweiten Weltkrieg, die Generation meiner Kinder bewältigte die Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Alle drei haben eine gemeinsame Erfahrung gemacht, was unserer Intuition recht gibt, daß ein Zeitalter seinem Ende zugeht, und wir am Anfang eines neuen stehen.

Mein Buch handelt von den Ursprüngen, den Quellen westlicher Rechtstradition. Und wir müssen ihre Ursprünge aufdecken, wollen wir ihre gegenwärtige Krise verstehen. Ganz am Ende meines Buches zitiere ich einen Satz von Octavio Paz: “Jedesmal wenn eine Gesellschaft sich in einer Krise befindet, wendet sie sich instinktiv ihren Ursprüngen zu und sucht dort nach einem Zeichen.” Mein Buch handelt von Zeichen.

Eben weil unser Zeitalter zu Ende geht, können wir seine Anfänge erkennen. In der Mitte einer Epoche, wenn das Ende noch nicht sichtbar ist, bleibt auch der Anfang unsichtbar und dann hat Geschichte den Anschein eines nahtlosen Gewebes. Aber nun ist die gesamte Lebensgeschichte des westlichen Menschen vor uns ausgebreitet. Unsere ganze Vergangenheit ist da, und wir können ihre Ursprünge aufdecken, weil wir wissen, wovon wir die Ursprünge suchen. Das Zeitalter, das im Westen zu Ende geht, ist das Zeitalter, das im späten elften und zwölften Jahrhundert in Europa seinen Ursprung hatte, das Zeitalter, das Rosenstock in seinem 1932 veröffentlichten Buch Die europäischen Revolutionen das Zeitalter der Papstrevolution nannte.  Die meisten führenden Historiker teilen heute seine Ansicht, daß unsere modernen westlichen politischen Ideen, unsere moderne westliche Theologie und unsere modernen westlichen Rechtssysteme alle in der Periode entstanden sind, die damals “die Gregorianische Reformation” (nach Papst Gregor VII.) genannt wurde − später die Gregorianische Reform, vielleicht um sie von der Lutherischen Reformation zu unterscheiden. Die moderne Zeit, der ausweichende Begriff der Modernität, begann nicht mit der Lutherischen Reformation, wie es noch gelehrt wird, sondern vier Jahrhunderte früher mit der Gregorianischen Reformation, mitten in der Zeit, die später als das Mittelalter bezeichnet wird.

Da wir selbst gerade aus einer revolutionären Epoche hervorgehen, können wir die revolutionären Zeitabschnitte der Vergangenheit besser identifizieren.  Rosenstock sah den Ersten Weltkrieg als eine Weltrevolution und als die Kulmination einer Reihe von großen europäischen Revolutionen, die mit der Papstrevolution begann, gefolgt von der Deutschen Revolution von 1517, der Englischen Revolution von 1640, der Französischen Revolution von 1789 und der Russischen Revolution von 1917. Und ich beginne mit dieser Idee, obwohl ich in bezug auf die Analyse dieser Revolution etwas anderer Meinung bin.

Jede dieser großen Revolutionen brauchte mehr als eine Generation um Wurzeln zu fassen, und jeder folgte eine lange Periode der Evolution. Diese Evolution erreichte ihre bedeutsamste Form, so scheint mir, in der Entwicklung des Rechts. Jede der Großen Revolutionen brachte neues Recht hervor; jede veränderte die Rechtsordnung. Und so sieht sich die westliche Rechtstradition selbst von einer Reihe von Revolutionen markiert. Sie ist ein Produkt der gegen-seitigen Beziehung von Revolution und Evolution. Blutige revolutionäre Umwälzungen werden von einer kontinuierlichen Zeit friedlicher Entwicklung abgelöst, in der die Veränderungen die die Revolution bewirkte, mit der Tradition in Einklang gebracht werden und diese zugleich verändern. Dennoch, selbst während der evolutionären Perioden bestand unter der Oberfläche ein apokalyptisches Element fort, das zeitgemäß in neuen Revolutionen hervorbrach. Und so gab es eine gewisse dialektische Beziehung zwischen der deutschen Lutherischen Fürstenrevolution im 16. Jahrhundert und der Englisch-Puritanischen Parlamentsrevolution im 17.  Jahrhundert, den französischen und amerikanischen deistischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts und der russischen atheistisch sozialistischen Revolution des 20. Jahrhunderts.

Die Hauptgeschichte, die in meinem Buch erzählt wird, ist die Entstehungsgeschichte der westlichen Rechtstradition im 12. und 13. Jahrhundert unter dem Einfluß der Papstrevolution. Es ist die Geschichte der Entstehung des ersten modernen Rechtssystems, die aus dem kanonischen Recht hervorgingen: das Feudalrecht, Gutsrecht, Handelsrecht, Stadtrecht und die verschiedenen Systeme des Königs- oder Fürstenrechts, die sich im 12. und 13. Jahrhundert im Normannischen Königreich Siziliens, im Normannischen Königreich Englands, in Frank-reich und im Deutschen Reich, bzw. in den deutschen Ländern entwickelten.

Die Papstrevolution, die 1075 mit dem Diktat von Papst Gregor VII. begann und 1122 mit dem Konkordat von Worms endete, war eine Revolution für das, was damals die „Freiheit der Kirche” genannt wurde. Das heißt, es war eine Revolution gegen die Vorherrschaft der Kaiser, Könige und Feudalherren über den Klerus und eine Revolution für die Gründung der römisch-katholischen Kirche als unabhängiger, korporativer, politischer und juristischer Einheit, die dem Papst unterstand. Die Kirche, nun zum ersten Mal vorrangig als Priestertum, als kirchliche Hierarchie, verstanden, würde sich für die Erlösung des Laientums und für die Reformation der Welt durch kirchliches und weltliches Recht einsetzen.  Dies waren die zwei Schwerter, die alle beide, so dachten einige, letztlich vom Papsttum geführt würden, obwohl das Papsttum der säkularen Macht die Vollmacht über das säkulare Schwert erteilen würde. Das war die radikale Grundidee der Papstrevolution.

Letzten Endes aber mußten wie bei allen den Großen Europäischen Revolutionen die radikalsten Forderungen dem Kompromiß weichen. In der Tat brachte die Zwei-Schwerter-Doktrin auch die Erweiterung der Macht von Königen und Kaisern über weltliche Dinge mit sich. Die Papstrevolution hatte aber noch andere Aspekte: die weite Ausdehnung des Handels, die Entfaltung der Städte, die Kolonisation Osteuropas, die Kreuzzüge, eine Umorientierung Europas von der Nord-Süd zur Ost-West Achse. Dies bedeutete eine totale Umwälzung, einen totalen Wandel der Germanisch-Fränkischen Welt.

Der Grund dafür, daß die westliche Rechtstradition sich in diesem Zusammenhang entfaltete, lag darin, daß die Kirche sich gezwungen sah, eine Begrenzung ihrer alleinigen Rechtsprechung auf sogenannte „geistliche Sachen” zu akzeptieren. Diese erstreckten sich jedoch auf ein weites Feld von Verhältnissen. Einbegriffen war alles, was mit Kirchengut zu tun hatte − und der Kirche gehörte ein Drittel allen Landes in Europa; alle von der Geistlichkeit begangenen Verbrechen gehörten hierzu; alle Verbrechen des Laienstandes gegen Kirchengut und gegen den Klerus, wie auch viele andere Arten von Verbrechen, die von Laien begangen wurden − ideologische Vergehen, wie zum Beispiel Ketzerei und Gotteslästerung, Sexualverbrechen und vieles mehr. Zu geistlichen Sachen zählten auch juristische Fragen in bezug auf Ehe- und Familienbeziehungen, Testamente und alle Verträge, bei denen die betroffenen Parteien unter Eid schworen, daß sie Kraft ihres Glaubens versprachen, ihr Gelübde zu halten, sowie eine ganze Reihe anderer Dinge.

Danach war die Kirche, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte im Rahmen eines Systems von professionellen Gerichten mit Berufungsinstanz bei der päpstlichen Kurie in Rom funktionierte, für eine umfangreiche Rechtssprechung zuständig. Dabei entwickelte sie im späten 11. und 12. Jahrhundert zum ersten Mal ein differenziertes kanonisches Rechtssystem mit Berufsjuristen, mit den ersten juristischen Abhandlungen. Sie werden sich daran erinnern, daß die erste europäische Universität Bologna zu der Zeit gegründet wurde − ungefähr 1087− und zwar zu eben dem Zweck, um die juristischen Texte zu studieren, die von dem byzantinischen Kaiser Justinian einst zusammengetragen und gerade in Italien wieder entdeckt worden waren − dies keineswegs zufällig nach mehr als fünf Jahrhunderten. Diese Texte enthielten einen großen Teil des Vokabulars und viele Begriffe, die für die Systematisierung sowohl des Kirchenrechts als auch des säkularen Rechts notwendig waren.

Durch den Dualismus der geistlichen und weltlichen Rechtsprechung und durch den Pluralismus säkularer Rechtsprechungen entstand eine äußerst starke Konkurrenz, aus der nicht nur „die Herrschaft durch Recht”, sondern „die Herrschaft von Recht” hervorging d. h., die Herrschaft des Rechts über alle Behörden, sowohl weltliche als geistliche. Jede Rechtsprechung wurde von den anderen auf ihre Ansprüche hin kontrolliert. Das ist, so meine ich, ein Grundgedanke der westlichen Rechtstradition, ein Aspekt also, der in der einen oder anderen Form achthundert Jahre überdauert hat. Dieser Pluralismus der Rechtsprechung war sowohl eine Quelle der Rechtsentwicklung als eine Quelle der Freiheit.

Die Herrschaft des Rechts gründete nicht nur auf mehreren Rechtsprechungen, sondern auch auf der Dualität der säkularen und der geistlichen Sphäre, die den Glauben implizierte, daß die Geschichte selbst eine Erlösung, eine Rettung der weltlichen Ordnung fordert, und daß das Recht eine Rolle bei dieser spielen kann.

Gott war ein Gott des Rechts. „Gott ist das Recht selbst”, so heißt es im Sachsenspiegel, dem ersten deutschen Buch über das Recht, das um 1220 geschrieben wurde. “Gott ist das Recht selbst, und darum ist ihm das Recht lieb.” Hier kommt die Philosophie der Papstrevolution unmittelbar zum Ausdruck. Diese Erhöhung des Rechts wiederholte sich im Laufe dieser Epoche immer wieder und in allen Ländern Europas, wie auch allen europäischen Städten. Ein paar Jahrzehnte nachdem der Sachsenspiegel verfaßt wurde, schrieb der große englische Jurist Bracton, daß England nicht “dem Menschen, sondern Gott und dem Recht untertan war” − non sub homine, sed sub deo et lege.

Ein anderer Teil der westlichen Rechtstradition entstammt der Überzeugung, daß das Recht selbst einen autonomen Charakter hat. Zum ersten Mal im Westen wurde das Recht als getrennt von Theologie, Ökonomie und Politik gesehen; zum ersten Mal war da etwas Identifizierbares, das man als Recht bezeichnen konnte, was seine akademischen Schutzherren, die Juristen, besaß und eine eigene Literatur hatte. Vor dem Jahr 1050 hatte es in Europa keine germanisch-fränkischen Rechtsbücher, keine Abhandlungen über das Recht gegeben, obwohl es Sammlungen von Gewohnheiten oder Kanons gab. Einen normalen Prozeß der Gesetzgebung gab es in der Kirche. Danach begannen auch Könige regelmäßig Gesetze zu erlassen. Zur selben Zeit wurden Bücher über das Recht geschrieben, wurde an den Universitäten Jura studiert und begann sich der Beruf des Juristen herauszubilden. Und es war dessen Aufgabe, Rechtskörper im Laufe von Generationen und Jahrhunderten zu schützen und zu entwickeln. Es bestand die Vorstellung, daß das Recht einen Körper bildete, ein integriertes Ganzes. Die Masse der Rechtsordnungen und -auffassungen, die in den Büchern Justinians enthalten waren, wurden zum ersten Mal als „corpus juris” bezeichnet. Und darüber hinaus glaubte man, daß der Rechtskörper wachsen und sich über Generationen hinweg weiterentwickeln würde. Ein treffendes Beispiel dieser merkwürdigen Vorstellung, daß nämlich das Recht über Jahrhunderte hinweg weiter wächst und sich entwickelt, läßt sich im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten entdecken. Vor zweihundert Jahren schrieben die Begründer der Vereinigten Staaten eine Verfassung. Da heißt es z. B., daß „grausame und ungewöhnliche Bestrafung” nicht erlaubt sein sollte.  Es ist weder denen, die die Verfassung geschrieben haben, noch denen die sie adoptierten je eingefallen, daß dieses Prinzip irgendwann einmal auf harte Gefängnisbedingungen oder sogar auf die Todesstrafe angewandt werden könnte. Nach und nach und im Laufe von Generationen haben diejenigen, die die Verfassung interpretieren, diesem Ausspruch „grausame und ungewöhnliche Bestrafung” einen unterschiedlichen Inhalt verliehen. Aber es handelt sich nicht um irgendeinen Inhalt, es ist ein Inhalt, der sich entwickelt hat, und zwar nicht aus dem Begriff an sich, sondern aus dem gesamten institutionellen Leben und Wachsen des Landes. Das Verständnis geht dahin, daß diese alten Begriffe neuen Umständen angepaßt werden müssen. Diese ziemlich mystische Vorstellung entsprang dem kanonischen Recht aus dem 12. und 13. Jahrhundert.  Die Päpste erließen ständig neue Dekretale, entschieden neue Fälle und machten neue Gesetze; dabei waren sie sowohl um Kontinuität hinsichtlich der Vergangenheit als um Fortschritte hinsichtlich der Zukunft bemüht. Gratian schrieb im Jahre 1140 die erste große juristische Abhandlung, die erste je geschriebene, systematische und vollständige Analyse eines Rechtskörpers, die charakteristischerweise „Concordantia canonum discordantium” genannt wurde.  Seine Nachfolger fügten Weiteres hinzu, entwickelten die Abhandlung weiter. In diesem Sinne wurde das Recht nicht nur als etwas angesehen, was erweitert werden konnte, sondern auch als etwas, was über Generationen hinweg weiter wuchs, wobei spätere Interpretationen bewußt auf früheren aufbauten und diese ersetzten.

Dennoch gab es hin und wieder in der europäischen Geschichte Umwälzungen, durch die die Kontinuität angegriffen und zerstörst wurde. Revolutionäre erhoben sich und sprachen: „Tötet die Juristen! Werft das Rechtssystem hinaus. Es erfüllt nicht die Vision der Reformation der Welt, die ihm zugrunde liegt. Es verwirklicht seine Ideale und Ziele nicht. Wir müssen von vorne beginnen.” Diese großen Umstürze beruhigten sich schließlich und das alte Recht wurde wiederhergestellt, aber es war nicht mehr dasselbe alte Recht. Ein Teil davon war noch das alte, ein Teil war aber verändert. Das Rechtsbewußtsein wurde neu, wurde wiedergeboren. Jedoch blieb der Sinn für eine gemeinsame Rechtstradition erhalten und wurde sogar verstärkt.

Nur in der Einleitung und am Schluß widmet mein Buch einige Seiten der Wirkung, die die großen europäischen Revolutionen, die der Papstrevolution folgten, auf die westliche Rechtstradition hatten, namentlich die deutsche Revolution im 16.  Jahrhundert, die englische Revolution im 17.  Jahrhundert, die französische und die amerikanische Revolution im 18. Jahrhundert und russische Revolution im 20. Jahrhundert; und nun, hier bespricht das Buch die Krise der westlichen Rechtstradition im 20. Jahrhundert. Mit diesen beiden Aspekten befassen sich die zwei folgenden Bände, an denen ich z. Z. arbeite. Jede von den großen nationalen Revolutionen war aber auch eine europäische Revolution, die sich im ganzen Westen angebahnt hatte und sich auf den gesamten Westen auswirkte, obwohl sie besonders gewaltsam nur in jeweils einem Land zum Ausbruch kam. Jede dieser Revolutionen bewirkte einen grundlegenden Wandel, einen gewaltsamen Wandel, einen bleibenden Wandel, und zwar im gesamten Gesellschaftssystem. Jede suchte ihre Legitimation in einem Grundgesetz, einer fernen Vergangenheit, einer apokalyptischen Zukunft.  Jede brauchte länger als eine Generation, um Wurzel zu schlagen. Jede führte schließlich zu einem neuen Rechtssystem, das einige Hauptziele der Revolution verkörperte und die Rechtstradition veränderte, aber letztlich in dieser Tradition verblieb.

Erlauben Sie mir hier ein paar kurze Worte über diese nationalen Revolutionen, allein schon, um zur Diskussion anzuregen. Die deutsche Revolution im 16.  Jahrhundert − ich berechne sie von Luthers Aufruf im Jahre 1517 bis hin zum Augsburger Frieden von 1555 − war nicht nur eine Reformation der Kirche, sondern auch eine des Staates. Von einem konstitutionellen Standpunkt aus betrachtet führte sie zur Verstaatlichung der Kirche, zur Vormachtstellung der Fürsten und zu einem neuen System der Fürstenherrschaft in den Ländern, sowie zu der Entwicklung einer neuen Obrigkeit. Vom Standpunkt der Rechtsinstitutionen aus gesehen, führte diese Revolution ganz allgemein zur Verbreitung des Rechts durch Polizeiordnungen, zu einer weitaus größeren Bedeutung der Rolle der Professoren des Rechts an den Universitäten durch die Entwicklung des Systems der Aktenversendungen und zu der ersten systematischen Kodifikation eines einzelnen Rechtsweges, zu Schwarzenbergs großartigem Constitutio criminalis Carolina. Vom Standpunkt der Rechtswissenschaft und der Rechtsphilosophie aus gesehen, führte die deutsche Revolution hin zu den großen Abhandlungen von Apel, Lagus, Oldendorp und anderen lutherischen Juristen. Sie lenkten alle früheren Rechtssysteme − Kanonisches Recht, Römisches Recht, Feudalrecht, Stadtrecht − auf einen gemeinsamen Punkt und bauten auf luthe-rischen Begriffen des Gewissens und der Berufung auf, um die den allgemeinen Rechtsnormen innewohnenden Ungerechtigkeiten durch Billigkeit ihrer Anwendung zu mildern.

Wenn nun die deutsche Revolution des 16. Jahrhunderts den Fürsten und die Professoren erhöhte, so waren es das Parlament und das Richtertum, die durch die englische Revolution des 17. Jahrhunderts an Bedeutung hinzu gewannen. In dieser Zeit triumphierten die englischen Gerichte des common law − d. h., des Praejudizienrechts der alten königlichen Gerichte über die neueren speziellen Hoheitsgerichte, die sogenannten Prärogativgerichte, die im 16. Jahrhundert von den Monarchen des Hauses Tudor gegründet worden und in ihrer Art eher römisch waren; und es war in dieser Zeit, daß das englische common 1aw (falsch verdeutscht als Gewohnheitsrecht) modernisiert wurde. Die königlichen Richter wurden zum ersten Mal auf Lebenszeit ernannt. Die uralte Institution des Schwurgerichts bekam ihre moderne Form. Die Doktrin zum Präzedenzfall wurde eingeführt. Das Strafverfahren wurde umgeformt durch die Einführung der Haftentlassung gegen Kaution sowie durch die Habeas Corpus Akte (auch unübersetzbar − es handelt sich um eine gerichtliche Abhilfe gegen unberechtigte Gefangenhaltung). Das Vertragsrecht wurde umgebildet durch die Einführung des strengen Haftprinzips − Haftbarkeit ohne Schuld − bei Vertrags-bruch. Großer Grundbesitz wurde vererbbar durch die Einrichtung von einem Treuhandverhältnis, so daß diese auf Jahrhunderte hin als Ganzes erhalten bleiben konnten.

Die Zeit reicht nicht aus, um auch nur in Kürze zusammenzufassen, welche Wirkung die französische, die amerikanische und die russische Revolution auf die westliche Rechtstradition ausübten. Ich möchte jedoch mit ein paar Worten über die Krise der westlichen Rechtstradition im 20. Jahrhundert schließen, da mein gesamtes Werk sich von dem Standpunkt dieser Krise aus ableitet.

Daß die westliche Rechtstradition wie auch die westliche Zivilisation überhaupt im 20. Jahrhundert eine größere Krise durchmacht als je zuvor, so etwas läßt sich nicht wissenschaftlich beweisen. Man weiß es letzten Endes intuitiv. Ich kann nur gewissermaßen bezeugen, daß ich spüre, daß wir mitten in einer noch nie dagewesenen Krise der Werte und des Denkens auf dem Gebiet des Rechts stehen, in der unsere gesamte Rechtstradition in Frage gestellt ist − nicht nur die sogenannten liberalen Vorstellungen der letzten Jahrhunderte, sondern die Grundstruktur des westlichen Rechtswesens, die aus dem 11. und 12. Jahrhundert hervorgegangen ist.

Es handelt sich zum ersten um eine Krise, die sich auf den Begriff „Westen” schlechthin bezieht. Vor 1914 war der Westen das Zentrum der Welt; in der Tat könnte man behaupten, der Westen habe die Welt Oberhaupt erst erfunden, da der Westen zuerst entdeckt hat, daß es so etwas wie eine Welt gibt. Und so war es der Westen, der seine Soldaten und Missionare aussandte, sich die Welt untertan und christlich zu machen. Aber im Jahre 1991 ist die Welt mit Sicherheit dabei, selbst Zentrum zu werden und der Westen ist nur ein Bestandteil, ein Partner in der allmählichen Entwicklung zu einer globalen Technologie, einer globalen Wirtschaft, einer globalen Kultur und einer globalen Rechtsordnung.

Die zweite Krise besteht in der Rechtsauffassung.  Der Westen rühmte das Recht. Gott selbst war Recht, wie Eike von Repgau es ausdrückte. Glaubt der Westen heute noch daran? Tut es der Osten? Oder der Süden?

Die dritte Krise, ist schließlich in der Auffassung von Tradition zu finden, und vor allem im Begriff der Rechtstradition. Der Westen ist dabei, seinen Glauben zu verlieren − hat ihn vielleicht schon verloren − den Glauben nämlich an das Wachstum des Rechts, an seinen Entwicklungscharakter über Generationen und Jahrhunderte hinweg. Im Gegenteil ist das Recht immer pragmatischer und politischer geworden. Es versteht sich nicht mehr als in der moralischen Weltordnung verwurzelt. Außerdem besteht die apokalyptische Vision des Westens in bezug auf die Erlösung der Welt durch die Weiterentwicklung des Rechts nicht mehr, eine Vision, die ursprünglich in christlichen Vorstellungen von Fegefeuer und Jüngstem Gericht verwurzelt ist und die im Laufe der Jahrhunderte immer weltlicher wurde, bis sie in der kommunistischen Vorstellung von der vollkommenen Gerechtigkeit der klassenlosen Gesellschaft gipfelt. Darüber hinaus wird das Recht immer weniger von historischer Sicht aus verstanden; es wird entweder im politischen oder im moralischen Sinne verstanden, aber die historische Schule, die allein fähig ist, juristischen Positivismus und die Theorie vom Naturrecht zu integrieren, die ist fast völlig aus der Rechtsphilosophie verschwunden.

Nun, ich muß zum Schluß kommen. Ich habe mich bemüht, Ihnen eine Beschreibung von einigen der Hauptgedanken in meinem Buch zu geben, das Ihnen jetzt in deutscher Übersetzung zur Verfügung steht. Ich sollte aber hinzu-fügen, daß das Buch in der Hauptsache kein rechtsphilosophisches Buch ist. Das Buch erzählt vielmehr die Geschichte der Entstehung der westlichen Rechtstradition, und erzählt diese in allen Einzelheiten. Einige Kritiker haben nur die Ideen und nicht die Einzelheiten gesehen. Andere haben wiederum nur die Einzelheiten und nicht die Ideen betrachtet.  Ich möchte hoffen, daß deutsche Leser die inneren Bezüge beider Aspekte sehen werden, Sie werden sich an den Ausspruch Leopold von Rankes erinnern, der gesagt haben soll, “Gott ist in den Einzelheiten”. Das will nicht heißen, daß allein die Einzelheiten von Bedeutung wären, oder daß diese für sich allein wichtig seien.  Im Gegenteil, es bedeutet daß die Einzelheiten, die Besonderheiten, wichtig sind, insofern sie als Reflexion universeller Realitäten verstanden werden − so wie ein Wassertropfen vermag, den Himmel widerzuspiegeln. In gleichem Maße habe ich versucht, die Reflektion unseres eigenen menschlichen Geschicks in der Geschichte der Bildung − und Wiederbildung unserer Rechtstradition zu erblicken.  

  1. Ein Vortrag gehalten in der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main, 16. Mai 1991.