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Georg Müller: Der Mensch im Kreuz der Wirklichkeit

Der Mensch im Kreuz der Wirklichkeit

Eugen Rosenstock-Huessy, Der unbezahlbare Mensch, Käthe Vogt-Verlag, Berlin 1955, 200 S. Engl. br. 8,50 DM.

Wenn es das Wesen der Genialität ist, daß die Grundkonzeption einer denkerischen Leistung sich auf nahezu alle Gebiete menschlichen Wissens auswirkt, so haben wir es bei dem heute 67-jährigen Eugen Rosenstock mit einem Weisen im Vollsinn des Wortes zu tun. Sein Lebensweg führte von der Dozentur für Rechtsgeschichte über das Erlebnis der Kämpfe um Verdun durch werktätige Industriearbeit zum Ordinariat für Soziologie und über führende Tätigkeit in der Erwachsenenbildung, Pionierarbeit im freiwilligen Arbeitsdienst und Auswanderung aus dem „Dritten Reich” zur Züchtung von Polopferden und zu einer College-Professur in den Vereinigten Staaten. Das Urerlebnis Rosenstocks ist das der schöpferischen Kraft des artikulierten Wortes, das Seine höchste Offenbarung in den Texten der vier Evangelien und der kirchlichen Liturgien erfährt. Das artikulierte Sprechen, dem Rosenstock seit einem halben Jahrhundert den Hauptteil seines Erkenntnisbemühens gewidmet hat, ist nicht zu verwechseln mit dem gleichsam „natürlichen” Hervorbringen von Lauten in der Tierwelt und der Kinderstube. In ihm wurzeln Seele und Geist des Menschen, wobei unsere Begriffsbildung stets von der ursprünglichen Kraft der Namensgebung und des lebensschaffenden, abgewandelten und abwandelnden Wortes sich herleitet.

Dem deutschen Leser hat sich Rosenstock, der Sprachdenker, in den beiden Aufsatz Sammlungen „Der Atem des Geistes” (1951) Und „Heilkraft und Wahrheit” (1952) vorgestellt. Rosenstock der Historiker in der bedeutsamen Neuauflage seiner bereits kurz vor der Machtergreifung durch den Nationale Sozialismus erschienenen „Europäischen Revolution”. Sein neues Buch ist eine verheißungsvolle Vorankündigung seines soziologischen Hauptwerkes, das demnächst in einem deutschen Verlag, erscheinen wird. Der Sprachdenker, der Historiker, der Soziologe sind ein und die gleiche lebensprühende schöpferische Person. Eine ihrer Grundeinsichten ist die, daß die nächsten Jahrhunderte der vom Wort her begründeten Gesellschaftslehre eine ähnlich konzentrierte Aufmerksamkeit zuwenden müssen, wie sie das abendländische Mittelalter der Theologie und die letzten vierhundert Jahre der Philosophie und Naturwissenschaft gewidmet haben. In dem vorliegenden Buche deckt Rosenstock die verhängnisvollen Folgen eines Denkens auf, das in Kategorien befangen ist, die der Lebendigkeit des Menschen und dem Formenreichtum der menschlichen Gesellschaft nicht gerecht werden.

Eugen Rosenstock bejaht den Zustand unserer Welt, der von der rasanten Entwicklung der Technik bestimmt wird. Er hilft die romantische Stimmung überwinden, die nicht wahrhaben will, daß es heute einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Landwirtschaft und Industrie nicht mehr gibt. Seine Soziologie bezieht sich auf ein Stadium menschlicher Entwicklung, in dem „alle alles wissen”. Es ist geradezu sein Hauptthema: unter welchen Voraussetzungen eine Gesellschaft fortbestehen kann, für die es für oberflächliche Betrachtung keine Geheimnisse mehr gibt. Diese Gesellschaft lebt nicht mehr in der ursprünglichen, sondern gewissermaßen in einer „zweiten Natur”. Eines der Hauptgesetze dieser zweiten Natur ist, daß in der Industrie der natürliche Arbeitstag vom Dreischichtenwechsel verdrängt worden ist, so daß also gewissermaßen drei heutige Menschen einem früheren entsprechen. Man muß das eindrucksvolle Kapitel über den „Produktionskalender” lesen, um zu verstehen, was es in letzter Tiefe bedeutet, daß an die Stelle der ersten eine zweite Natur trat. Nicht nur bleibt im industriellen Dreischichtensystem der natürliche Tages- und Jahresrhythmus des menschlichen Lebens uns beachtet und erhalten innerhalb eines Zeitabschnittes, der früher den Tagelohn eines Menschen bestimmte, heute drei Menschen je acht Stundenlöhne - es geht vor allem darum, daß die Berechnung der rationaler Zeitdauer den Menschen der echten Zukunft beraubt: „Die Abschaffung der echten Zukunft ist der Preis, den wir bezahlen müssen, wenn wir unseren Kalender so überlasten, als wenn die kommenden Tage ebenso sehr unser eigen seien wie unsere vergangenen. Wer die Zukunft als sein Privateigentum behandelt, wird nie die volle Wahrheit ihres regenerativen Charakters erfahren” (S. 54).

Von dem echten Verhältnis zur Zeit aber, von dem Grundverständnis des menschlichen Lebens als Zeitlichkeit hängt alle Würde und aller Sinn menschlichen Lebens zuletzt ab: „Ein Jahr ist die Mindesteinheit des Lebens - nur darüber hinaus wird sich der Mensch seiner selbst bewußt. ,Nur was in uns ein Jahr überdauert, ist wahr und echt’ (Goethe). Ein natürlicher Lebensabschnitt umfaßt drei bis sieben Jahre” (S. 50). Wir können hier nicht näher auf die praktischen Vorschläge eingehen, die der Soziologe Eugen Rosenstock macht, um die industriellen Lebensverhältnisse auf Grund der Einsicht neu zu ordnen, daß echtes menschliches Leben auf die Zeitlichkeit angewiesen ist. Seine Gedankengänge sind in der Synthese ebenso scharfsinnig wie in der Analyse. Hervorgehoben seien lediglich zwei Punkte: erstens tritt Rosenstock grundsätzlich für längerfristige Arbeitsverträge ein:

„Durch unsere Kalkulation nach Stunden behandeln wir die Zeit als ein Mittel zum Zweck. Der Mensch, der monatlich bezahlt wird, lebt in diesem seinem Arbeitsmonat sein volles Leben; nichts liegt außerhalb oder jenseits dieses Monats. Der Mensch, der stundenweise bezahlt wird, lebt in einer Zeit, die betrachtet wird, als ginge sie der Fülle der Zeit voraus. Und eben weil die Zeit im Hinblick auf das Ergebnis vorweg genommen wird, hat sie für sich allein keinen Sinn” (S. 52).

Zweitens zeigt Rosenstock die Bedeutung der Arbeitsgruppe auf, die sich um einen Unternehmer, Ingenieur, Meister oder Vorarbeiter schart, während er den illusionären Charakter einer angeblichen „Partnerschaft” zwischen Unternehmer und Arbeiter aufdeckt. In solch einer lebendigen, geschöpflichen Gruppe, die etwas ganz anderes ist als die nur nach ihrem rationalen Produktionswert zu taxierende Brigade, „drängt sich uns Sterblichen die Zeit als heiliges, lebensspendendes Maß auf” (S. 156).

Das alles setzt, wie gesagt, die Einsicht in den Formenreichtum menschlichen Gemeinschaftslebens voraus. Rosenstock spricht von dem „Kreuz der Wirklichkeit” als dem Symbol dafür, daß der Mensch stets ebenso von Außen und Innen wie von Vergangenheit und Zukunft bestimmt wird und erst in dieser vierfachen Einfügung die Lebendigkeit seiner Seele empfängt. Nur unter einem bestimmten Betracht, keineswegs ohne weiteres, ist der Mensch ein einzelner: „Den Menschen als Einzahl zu betrachten, widerspricht dem Wesen der Gesellschaft. Die Ideale unserer Gruppe und Klasse, die Nützlichkeit in unserer Produktionskapazität, der Stachel des Geschlechts in unserem Fleische, alle diese Kräfte machen uns zu Teilen größerer Einheiten, einer Arbeitsgruppe, eines begeisterten Kollektivs oder eines Paars. Der naive liberale Glaube an die Allgegenwart unseres Einsseins läßt sich nicht aufrechterhalten. Unsere Singularität muß neu formuliert werden” (S. 124).

Weil das so ist, muß auch der Ausdruck Partnerschaft, obwohl er sich zunächst als nützlich empfiehlt, mit Vorsicht verwandt werden: „Im Betrieb ist es deutlich, daß dem Unternehmer nicht der Arbeiter gegenübersteht und ebensowenig die Gewerkschaft, sondern die Betriebsgruppe, die im Werkstattraum und im Schichtwechsel solidarisch für einen Arbeitsgang aufkommt. Der Partner ist also hier eine Mehrzahl von Menschenkindern. Erst dank ihrer Eingliederung in einen Arbeitsgang werden sie fähig, zum Partner des Unternehmers sich zu verbrüdern. Unter dem Oberflächenwort Partner liegt also der buntfarbige Reichtum einer aus Not entsprossenen Bruderschaft verborgen” (S. 140).

„Die Partnerschaft ist gut, wenn sie vorübergeht. Sie ist schlecht, wenn wir sie nirgends überragen” (S. 146). Dieses Überragen der Partnerschaft führt zur Neubesinnung auf die eigentliche Singularität des Menschen. Sie hat innerlichst zu tun mit dem Geheimnis der Seele: „Die Seele ist es, die den ständigen Wechsel vom Plural zum Dual und zum Kollektiv, die alle diese lästigen Veränderungen der Existenzformen und Bewußtseinsinhalte überdauert. Der Mensch hat viele Erscheinungsformen in dieser Welt, aber nur eine Seele. Die Seele ist selbst keine äußere Form, sie ist die Kraft im Menschen, die Tod und Wechsel überwindet und aus Katastrophen und Verwüstung Sinn münzt” (S. 130).

Aber wie die über uns glänzenden Sterne nur dadurch für uns unterscheidbar werden, daß sie „Bildern” zugeordnet sind, so existiert der Mensch in mannigfacher Gruppierung. Die Konstellationen der Sterne am nächtlichen Himmel können als Symbole für die wechselnden Verbindungen dienen, die der Mensch im Leben der Gesellschaft eingeht: „Der Mensch ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes; da er aber sich als Kapital oder Arbeit, als Deutscher oder als Russe einkleidet, so braucht er Entsprechungen seiner echten Gemeinschaften, dank deren sprechender Ähnlichkeit er aus allen Uniformen zurückfindet. Unseren echten Kombinationen entsprechen die Sterne am Himmelszelt. Leichter wird die menschliche Gruppe Gottes Ebenbild entsprechen, die in den Sternbildern ihr eigenes Abbild erkennt, als eine, die sich in den Massen des Kollektivs oder den Zähnen eines Zahnrads oder dem Wassertropfen des Meeres zu spiegeln trachtet . . . Im Abbild des gestirnten Himmels können wir die Charaktere vereinigen, die heute als unvereinbar gelten: den Charakter unwiederholbarer Ebenbilder Gottes und den der Zugehörigkeit zu vorübergehenden Teams bei unserer Massenarbeit an der Welt. Bei der Arbeit entsprechen wir Konstellationen deshalb, weil diese aufgehen und untergehen” (S. 158).

Dabei bleibt die Seele immer ein Geheimnis: „Als Ebenbild Gottes muß der Mensch unsichtbar und inkognito bleiben” (S. 159).

Nur wenn die Seele erkennt und anerkennt, daß sie auf ihre vierfache Einfügung in die menschliche Wirklichkeit angewiesen ist, wird sie sich gleichzeitig der Offenbarung des dreieinigen Gottes in der Geschichte erschließen. Erst dann wird sie Kraft gewinnen, sich in der von ihr selbst geschaffenen „Zweiten Natur” zu behaupten und die mit dieser entstandenen organisatorischen Notwendigkeiten zu bewältigen.

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