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Gottfried Hofmann zu Das Geheimnis der Universität

Brief an an meinen Sohn Frank zum „Geheimnis der Universität”

Lieber Frank,

wir haben beide die Friedrich von Bodelschwingh-Schule in Bethel bei Bielefeld besucht, du von 1978 bis 1987, ich von 1956 – 1959. Du hast den Gründer dieser Schule, Dr. Georg Müller, gerade noch als uralten Mann kennengelernt, den dein Vater von 1974 – 1978 jede Woche mindestens einmal besuchte. Für mich war er als amtierender Direktor und Geschichtslehrer entscheidend für mein ganzes Leben, weil er mich in diesen drei Jahren meiner Aufbauschulzeit zu Eugen Rosenstock-Huessy geführt hat.

Während deiner Schulzeit hatte ich noch die leise Hoffnung, dass du dich für Geschichte interessieren könntest, aber in der Oberstufe hast du dich mehr und mehr der Geographie zugewandt, hast schließlich Kartographie und Touristikwissenschaft studiert und bist nun in einem großen Reiseunternehmen beschäftigt.

Es ist mir leider bisher nicht gelungen, dir verständlich zu machen, warum dein Vater diese Treue zu einem alten Lehrer aufbrachte und schließlich viel, viel Zeit einem Archiv widmete, das dem Gedächntnis und der wissenschaftlichen Anerkennung eines ehemaligen Breslauer Jura-Professors, deutschen Erwachsenenbildners und amerikanischen Collegelehrers dient.

Heute nun bist du verheiratet und selbst Vater von zwei Kindern, und in mir keimt wieder die Hoffnung, dass es mir nun vielleicht gelingen könnte, dir diesen eigenartigen Menschen Eugen Rosenstock-Huessy, den niemand mehr zu kennen scheint, und mit ihm auch den Gründer deines Gymnasiums, Georg Müller, doch noch ein wenig näher zu bringen.

Ich versuche das mit einem Buch, das ich dir gern als Lektüre empfehlen möchte und das den merkwürdigen Titel trägt

„Das Geheimnis der Universität”.

Ich vermute, dass deine Universität Trier für dich kein Geheimnis birgt. Du hast die Hochschule besucht und Examen gemacht, weil das notwendig war, damit du endlich ins Berufsleben einsteigen konntest. Ich habe mich aber gefreut, und ich bin sicher, dass auch Georg und Eugen sich gefreut hätten, als du während deines ganzen Studiums mit viel Engagement dich einem modernen Verkehrsproblem zuwandtest. Du verzichtetest auf ein Auto und opfertest viel Zeit für ein Ehrenamt im ADFC, dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club. Das hatte zwar nichts mit diesem Geheimnis der Universität zu tun, aber sehr wohl mit gewissen Überzeugungen dieser beiden Lehrer. Eugen Rosenstock-Huessy konnte vor Studenten und Professoren sagen: „Wenn Studenten fürs Examen büffeln, müssen sie nicht glauben, daß sie studieren”.(S. 21), und Georg Müller setzte es in seinem Kollegium durch, dass in der Adventszeit keine Klausuren geschrieben wurden! Es gibt ganz sicherlich Wichtigeres im Leben als wissenschaftliche Examen.

Das Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, Reden, Briefen und Vorträgen Eugen Rosenstock-Huessys, und der Titel ist insofern irreführend, als es nur in der ersten Rede um dieses Geheimnis geht. Georg Müller hat diese Sammlung zum 70. Geburtstage seines Freundes 1958 herausgegeben. Ein Schüler Rosenstock-Huessys aus der Breslauer Zeit, Kurt Ballerstedt, hat eine knappe Biographie seines Lehrers beigesteuert, und zum ersten Mal wurde auch eine Bibliographie Rosenstock-Huessys veröffentlicht. Georg Müller hat das Buch eingeleitet. Es trägt den Untertitel:„Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft”. Vielleicht fehlt dabei eine wichtige Konkretisierung, nämlich „in Deutschland”. Denn fast alle Texte dieses Buches sind in den Jahren 1950 bis 1957 in Deutschland veröffentlich, sie wenden sich an Professoren, Studenten, Schüler, Lehrer, Hörer, Seminarteilnehmer, Zeitschriftenleser in Deutschland. Und mit diesem Untertitel versucht Georg Müller das Zentrum einer ganz neuen Lehre, ja einer neuen Wissenschaft zu treffen, die Eugen Rosenstock-Huessy im Laufe seines langen Lebens immer wiederund immer wieder andersformulierte. „Zeitsinn und Sprachkraft”, einfache deutsche Wörter, aber sie stehen in keinem Begriffslexikon, nicht einmal im Duden. Vielleicht muss es heute besser heißen: „Zeit e n sinn und Spr e chkraft”, aber das kann ich dir nicht auf Anhieb erklären und bitte dich um Geduld.

Eugen Rosenstock-Huessy war schon im Ersten Weltkrieg klar geworden, dass in Deutschland, nicht nur dort, aber dort besonders, ein Verfall, wenn nicht gar ein Zerfall drohte, wenn nicht Wissenschaftler und Politiker, Lehrer und Pfarrer und alle am öffentlichen Leben Beteiligten anfangen würden, den Sinn für richtiges Sprechen und den Sinn dafür, wann entscheidend gesprochen werden muss, zu entdecken. Verzweifelt hat er in der Zwischenkriegszeit in der damaligen Erwachsenenbildung versucht, diesen Verfall aufzuhalten, aber vergeblich: es kam in Deutschland 1932 erst zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation, dann zur Verfolgung von Juden, Kommunisten und Christen, dann zum Zweiten Weltkrieg und schließlich zur schlimmsten der deutschen Katastrophen, der industriellen Menschenvernichtung in Auschwitz und anderswo.

Es gab für ihn keinen Zweifel, dass auch und gerade die deutschen Wissenschaften versagt hatten, und er forderte von Philosophie, Theologie, Soziologie, Psychologie, Geschichts- und Sprachwissenschaft eine deutliche Wandlung, als er ab 1950 wieder in Deutschland lehren konnte. Ich zähle dir hier die Texte auf, die im „Geheimnis der Universität”gesammelt sind mit Datum und Ort des ersten Erscheinens (gedruckt sind sie in einer anderen Reihenfolge!):

Es fehlen in dieser Liste lediglich drei bis dahin unveröffentlichte Texte (über den italienischen Historiker Ferrari, über die „Worte unseres Glaubensbekenntnisses” und über die Bedeutung der „Zeit im Raum” im alten Ägypten und in Rom).

Georg Müller hat diese Texte nicht chronologisch geordnet, sondern versucht, eine gewisse Systematik hineinzubringen, weil seinem Freund Eugen immer wieder vorgeworfen wurde, er sei kein richtiger Wissenschaftler, sondern eher ein genialer Sprachkünstler, der mehr zufällig und aphoristisch zu Ergebnissen komme. Georg gliederte also in drei Abschnitten unter den Leitsätzen

1.Die Geschichte ist ein Heilmittel der menschlichen Gesellschaft

2.Die Sprache ist das eigentliche Wunder der Wirklichkeit

3.Die Zeit ist für uns wesentlicher als der Raum

Also mit den Begriffen Geschichte, Sprache und Zeit versuchte Georg die Texte zu ordnen. Aber in allen Texten geht es um diese menschlichen Existenziale, die kaum voneinander zu trennen sind.

In der Einleitung sagt Georg Müller: „Geschichte, Sprache, Zeit – drei Chiffren für geheimnisvolle Bezirke unserer menschlichen Wirklichkeit”( S. 12)

Es ist nicht zu übersehen, dass Eugen Rosenstock-Huessy nach dem Zweiten Weltkrieg annahm, besonders bei Christen Gehör zu finden. Gleichzeitig wird deutlich, dass er bedeutsame theologische Probleme aufgreift: Judentum, Heidentum (Wer sind die Götter?), den lebendigen Gott, den Unterschied zwischen Glauben und Hoffen, die Frage, wie Pfingsten und Mission zusammenhängen.

Es ist aber gleichfalls nicht zu übersehen, wie zerstreut und vielfältig Rosenstock-Huessys Versuche in Deutschland waren, sich Gehör zu verschaffen. In zwei Büchern hatte er schon 1950 und 1952 unternommen, seine Lehren von der Notwendigkeit der Erneuerung der Wissenschaften zu verbreiten: „Der Atem des Geistes” und „Heilkraft und Wahrheit”. 1956 und 1958 erschien dann sein wichtiges Werk „Soziologie” in zwei Bänden mit den erklärenden Untertiteln: „Die Übermacht der Räume” und „Die Vollzahl der Zeiten”. Alle vier Bücher hatten nicht den gewünschten Erfolg. Eugen Rosenstock-Huessy hatte in Deutschland viele persönliche Freunde, aber die große Zahl der Christen und Akademiker fand leider keinen Zugang zu ihm. Er verlangte den Abschied von geliebten Denkgewohnheiten, und das war in einer Zeit der Restauration für viele eine Zumutung.

Wenn ich nun versuche, dir den Inhalt des einen oder anderen Textes zu vermitteln, dann stehe ich vor einer großen Schwierigkeit: Es erscheint mir unmöglich, knappe Zusammenfassungen zu geben. Die Texte sind voller konkreter Einzelheiten: kleine Anekdoten, persönliche Erinnerungen, Zitate. Ich kann nur versuchen, dich mit mir wichtig erscheinenden Kernsätzen neugierig zu machen und zu hoffen, dass du den einen oder anderen Text selbst lesen wirst.

1950 in Göttingen spricht er seine Professorenkollegen unmittelbar an, erinnert sie daran, dass es in Deutschland Privatdozenten gab, die unabhängig von den Ordinarien Neues lehren konnten und ihrer Zeit voraus waren, dass in Deutschland dank der Universitäten die Sozialversicherung eingeführt werden konnte und fordert eine Universitätsreform in Deutschland, die Zeit gewinnen soll. Er sagte: „Was wir heute hier lehren, meine Damen und Herren, hat überhaupt nur Sinn, wenn sich das Gelehrte im Jahre 2000, das heißt, wenn unsere Studenten 70 Jahre alt sind, noch bewährt.”(S. 29) Wissen ist nicht Selbstzweck, es muss sich bewähren. Er verlangte „eine neue Verarbeitung der Katastrophen: die Katastrophen erzwingen zeitgenährte, zeitentsprossene, vorübergehende Wahrheiten” (S. 33)

Wenn doch Rosenstock-Huessy 1950 in Deutschland nur ein bisschen Erfolg gehabt hätte mit seinen Vorschlägen für eine neue Sprachlehre, für eine neue Geschichtswissenschaft, für eine wissenschaftliche Lehre vom Streiten („Polemologie”)! Vielleicht wäre es dann nicht zu den Verirrungen der Studentenrebellion von 1968 gekommen, und vielleicht wären die deutschen Politiker 1990 nicht so unvorbereitet in die deutsche Einheit gestolpert.

Für ihn waren die Universitäten gerade in Deutschland immer mehr als nur Institutionen der Wissensvermittlung, sie hatten seit der Reformationszeit eine politische Aufgabe und gehörten zum Leben der Nation. Wissenschaft war für ihn nur „die lehrbare Form der Wahrheit”. „Sowie sich Wissenschaft als die Quelle der Wahrheit ansieht, wird sie wertfrei und wertlos (S. 30) . Er war überzeugt,: „.. in jedem Erwachsenen lebt Wahrheit auch ohne Wissenschaft!”(S.31). Ich möchte mir wünschen, dass du diesen Satz inzwischen aus eigener Erfahrung bestätigen kannst, wenn ich nur daran erinnere, wie wenig hilfreich mitunter pädagogische und psychologische Bücher in der Erziehung sein können.

Es ist nicht zufällig, dass sich der erste in Deutschland nach dem Kriege veröffentlichte Aufsatz Eugen Rosenstock-Huessys der Judenfrage zuwendet, in dem er Kritik übt an der akademischen Behandlung dieser Frage. Er befasst sich nämlich ausgerechnet mit dem Antisemitismus jüdischer Wissenschaftler wie Marx und Freud, denen er einen Judenhass vorwirft, den sie sich aber als akademische Wissenschaftler nicht eingestehen wollten. Aber dennoch sieht Rosenstock-Huessy in der Judenemanzipation eine geistige Belebung der deutschen Nation im 19. Jahrhundert, und er fragt die Deutschen: „Wie ersetzt ihr die Juden, die Hitler umgebracht hat?” (S. 55). Es geht ihm also nicht wie meistens um „Vergangenheitsbewältigung” oder um bloße Toleranz, sondern um die Einsicht, dass Juden, Christen und „Heiden” auf einander angewiesen sind, wenn sie nicht degenerieren wollen. Er wendet sich gegen einen akademischen Humanismus, der so tut, als gäbe es einfach nur Menschen, und der den lebensvollen Unterschied zwischen Juden, Christen und Heiden nicht sieht. Dabei geht es ihm nicht um formale Bekenntnisszugehörigkeit, sondern um unser Verhältnis zur Zeit. „Der Heide, der Israelit und der Kreuzesträger sind in uns allen lebendig; denn wir alle müssen ursprünglich schaffen (heidnisch), erwartungsvoll hoffen (jüdisch), entscheidend lieben (christlich), also an Anfang, Ende und Mitte allen Lebens teilnehmen.”(S. 54) Es hilft heute keine gegenseitige Missachtung oder Verachtung mehr. Heute erleben wir, du und ich, diese Notwendigkeit im Verhältnis zum Islam tagtäglich.

1938 hatte Rosenstock-Huessy in USA ein Buch über die europäische Revolutionsgeschichte veröffentlicht, und am Ende dieses Buches sah er sich genötigt, seine besondere wissenschaftliche Methode zu erläutern, und er schrieb zwei Kapitel mit den Überschriften „Farewell to Descartes” und „The Survival Value of Humor”. 1953 übertrug er diese beiden Kapitel ins Deutsche und überschrieb sie mit dem provozierenden Titel: „Ich bin ein unreiner Denker”.

In diesem Aufsatz sieht er sich im Gegensatz zu einer 300-jährigen Wissenschaftsgeschichte seit dem französischen Philosophen Rene Descartes, der mit seinem reinen begrifflichen Denken den Weg zu einem unerhörten wissenschaftlichen Fortschritt eröffnet hatte. Er gibt zu bedenken: „Die fortschrittliche Wissenschaft unserer Tage des Bombenkrieges ist doch ein wenig zu weit in das Menschliche fortgeschritten …”(S. 107 f) Er sagt: „Wir glauben nicht mehr an die zeitlose Unschuld der Philosophen, Theologen und Wissenschaftler; wir sehen, wie sie Bücher schreiben und versuchen, Macht zu gewinnen.” (S. 107). In seinem Kampf gegen eine uneingeschränkte Geltung naturwissenschaftlicher Methoden polemisiert er sowohl gegen eine falsch angewandte Objektivität als auch gegen die Reduzierung des Menschen auf ein Subjekt: „Der Mensch als Subjekt oder Objekt ist eher ein Krankheitsfall” (S. 102) Er schlägt stattdessen zwei neue Ausdrücke vor: „.. ‚Trajekt’, d.h. er wird auf Bahnen bewegt, die aus der Vergangenheit bekannt sind, und ‚Präjekt’, d.h. er wird aus dieser Spur hinausgeworfen in eine unbekannte Zukunft”.(S. 102)

Hat nun die Wissenschaft etwas mit Humor zu tun? Rosenstock-Huessy behauptet, dass keine Wissenschaft ohne starke Eindrücke möglich sei. Sozialwissenschaft habe deshalb die unauslöschlichen Eindrücke zu untersuchen, die Krieg, Revolution, Anarchie oder Dekadenz machen. „Die Feigheit eines sozialen Denkers, der leugnet, dass er persönlich von einer Revolution oder einer Kriegsverletzung beeindruckt und tief getroffen ist, macht ihn zum Statistiker, der die Uniformknöpfe der Soldaten beschreibt oder die botanischen Namen der Parkbäume verzeichnet, wo die Aufständischen fielen.” … „Deshalb hängt auf dem Gebiet des Sozialen aller wissenschaftlicher Fortschritt von der ausgleichenden Kraft des Humors ab. Der Humor schließt alle falschen Methoden aus, einfach indem er sie lächerlich macht.” ( S. 110)

In fast allen Texten dieses Sammelbandes geht es um unsere menschliche Geschichte. Aber nicht die ungeheure Ansammlung objektiver Fakten macht für Rosenstock-Huessy Geschichte aus. Am 20. Juli 1957 redet er vor 300 Studenten der Dortmunder Pädagogischen Akademie über das Thema „Sprache und Geschichte”. Seine These lautet: „Alle Geschichte ist ausgesprochene, ausgesagte Geschichte”. (S. 86) und „Die Liebe ist Ursache dafür, daß es Geschichte gibt” (S. 88) Die Geschichte wählt aus, hebt hervor. Am 20. Juli 1957 hebt er deshalb den 20. Juli 1944 hervor. Nur im Namen der Widerstandskämpfer haben wir als Deutsche noch eine Geschichte. Den jungen Lehrern ruft er zu: „An Ihrer Stellung zu diesem 20. Juli 1944 entscheidet sich, ob Sie Ahnen für Ihr Deutschtum haben können”. (S. 91) Lieber Frank, Du weißt, mit welcher Begeisterung ich in den letzten 15 Jahren immer wieder nach Kreisau ins schlesische Polen gefahren bin. Es war die Liebe zum Widerstand des Kreisauer Kreises, auf den mich Georg Müller und Eugen Rosenstock-Huessy schon in meiner Schulzeit hingewiesen haben. In unserer Schule in Bethel wurde dieser Widerstand nicht verschwiegen oder gar als Verrat eingeordnet, wie es Rosenstock-Huessy in einem Brief an Margret Boveri formuliert hat („Der Verrat im 20. Jahrhundert”). Mit Vehemenz wendet er sich in diesem Brief dagegen, die Kreisauer als Verräter zu behandeln, nur weil sie ein Gericht als solche bezeichnet hat. Er entlarvt dagegen Hitler als den Großen, den totalen Verräter.

Wie diese Lehre von der Bedeutung des deutschen Widerstandes war bestimmend für mich Rosenstock-Huessys Lehre von den großen europäischen Revolutionen in der Weltgeschichte („Wie lange noch Weltgeschichte?”) Diese großen Revolutionen haben das zweite nachchristliche Jahrtausend geprägt, er spricht von einer „Zirkumvolution” der Weltrevolution, „ein Vorgang, der 1050 begann und der heut zu Ende geht” (S. 233). „Jede Weltrevolution hat sich mit der Koexistenz aller anderen abgefunden” (S. 231). „Keine von ihnen hat gesiegt” (S. 232). Diese Lehren haben mich davor bewahrt, den „Revolutionären” von 1968 auf den Leim zu gehen. „Eine Welt, aber viele Weltordnungen ist das Gesetz der Revolutionen” (S. 226). Heute, im Jahre 2005, leben wir auf einem Planeten, im „global village”, und ahnen vielleicht die zukünftige Einheit des Menschengeschlechts, wenn wir eine Totenfeier wie die für Papst Johannes Paul II. erleben.

Immer wieder hat Rosenstock-Huessy verlangt, dass Zeiten ernst genommen werden: Epochen, Generationen, Lebensalter. Zeit im Singular ist ihm eine philosophische Abstraktion oder lediglich die „physikalisch gemeisterte Raumzeit”(S. 175: Raumzeit oder Zeitraum?).

Räume, auch und gerade Wohnräume, sind mit Zeiten verbunden. Ich habe mich gefreut, als ihr die Räume eurer Wohnung mit großer Sorgfalt ausgewählt und bestimmt habt. Unterschiedliche Zeiten werden in Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer erlebbar. „Die Liebenden, die sich zur Ruhe begeben und entspannt ausstrecken, und die Sitzenden, die ihr tägliches Brot gemeinsam niedersitzend verzehren, bezeugen mit Liegen und Sitzen, daß ihnen die Zeit ganz anders in beiden Fällen vorkommt” (S. 173)

Rosenstock-Huessy hat im Zusammenhang von Zeit und Raum ein Gesetz der Technik entdeckt, das er „dogmatisch” folgendermaßen formuliert:„Jeder technische Fortschritt kürzt die Zeit, längt den Raum, zerschlägt eine Gruppe”(S. 175). Anders formuliert (S. 177): „Die Technik zerstört den kleinen Raum, die großen Zeitspannen, die verbindlichen Gruppen”. Jede Technik spart Zeit und gibt uns die vielberufene „Freizeit”, aber wir müssen bezahlen durch den Verlust der intimen Räume, den Verlust von Rhythmen der Zeit, den Verlust der „unvertretbaren, unersetzlichen, auf gegenseitiges Vertrauen gebauten, verbindlichen Gruppe” (S. 177) Du erinnerst dich unserer Diskussion über den unkritischen Gebrauch des Handys. Wie groß ist der Vertrauensverlust, der durch diese Handys bewirkt wird!

Zu guter Letzt möchte ich dir noch etwas zu der Ansprache sagen, die Rosenstock-Huessy in unserer Schule nach einer Aufführung von Hölderlins „Empedokles” gehalten hat: Wer sind die Götter?

Diese heikle Frage in einer evangelischen Schule beantwortet er nicht mit Mythologie und Philosophie, sondern indem er an Erfahrungen anknüpft, die jeder machen kann: „Götter sind dort, wo wir Opfer bringen”(S. 283).Er zählt diese Opfer auf, die der Geschwindigkeit, dem Spielrausch, der Arbeitswut, der Sexualität und der Genialität gemacht werden. Doch auch der eine Gott, unser Gott, verlangt Opfer. Aber während die Götter uns zwingen und verstummen machen, lässt unser Gott sich erbitten. Ihm kann widerstanden werden. „Unser Gott öffnet unsere Lippen zu einem noch nie gehörten Wort” (S. 283). „Die Kraft, die uns sprechen macht, ist unsere gottnächste Kraft”(S. 289). Rosenstock-Huessy fragt: „Können wir die Liebe, die Hölderlin trieb, in uns selbst entfachen, daß wir in dem Göttersänger den Gottesmann erkennen?” (S. 293) „Jeder, der sich für Hölderlin entscheidet, spricht in Todesernst und Lebensgefahr. Er macht sich Feinde. Damit gewinnt in ihm das Wort seine Gotteskraft wieder” (S. 293).

Lieber Frank, es kann gut sein, dass dich manche Sätze dieses Briefes irritieren und dass du die Geduld beim Lesen des Buches verlierst und es entmutigt zur Seite legst. Ich gestehe, dass es mir auch so ergangen ist. Ich wünsche dir aber, dass du immer wieder Anlass finden mögest zu dem Buch zu greifen und dass es dich auf diese Weise ein Stück deines Lebens begleiten möge.

Dein Vater