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Fritz Herrenbrück zu «Das Alter der Kirche»

Fritz Herrenbrück

Zur Taufe von J. am 30. April 2005

Liebe Frau A.,

lieber Herr A.,

die Ereignisse, die mit der Papstwahl verbunden sind, überschlagen sich zur Zeit. Immer wieder sehe ich mich zu einem neuen Ansatz bei diesem Brief an Sie herausgefordert. Nun aber rückt der Tauftag Ihrer Tochter J. in greifbare Nähe. Da muss endlich ein Anfang gemacht werden.

So erinnere ich mich zunächst einmal an Joseph Kardinal Ratzingers Schrift »Erlösung – mehr als eine Phrase?« Denn völlig zu Recht beginnt er mit Joseph Wittigs epochalem Zeitschriftenartikel »Die Erlösten« aus dem Jahr 1922, aber auffälliger Weise unter dem Verdikt, Wittigs Darstellung sei ›harmloser Spott‹. Was veranlasste ihn, hinter die Tatsache zurückzugehen, dass Eugenio Pacelli, der von 1920 bis 1929 als Nuntius in Berlin den Exkommunikationsprozess von Joseph Wittig in Breslau hautnah miterlebt und dann als Papst Pius XII. telegraphisch (vermutlich schon 1943) Wittigs Restitution angeordnet hat? Warum sah sich Kardinal Ratzinger ein halbes Jahrhundert später veranlasst, einem der Wegbereiter des II. Vatikanischen Konzils gegenüber den maßregelnden Ton des Breslauer Kardinals Bertram wieder aufzunehmen?

Da das alles nun schon über ein Menschenalter zurückliegt, könnte diese Frage als Brummeln und Nörgeln eines evangelischen Pfarrers erscheinen. Allerdings fiel sogar einem hiesigen Zeitungsschreiber auf, dass Kardinal Ratzinger, nunmehr als Papst Benedikt XVI., an einem Kernpunkt seiner Ansprache anlässlich seiner Amtseinführung doch wohl sehr bewußt und auch mit proklamierendem Unterton formuliert hat: „Die Kirche lebt. Und die Kirche ist jung. Sie trägt die Zukunft der Welt in sich und zeigt daher auch jedem einzelnen den Weg in die Zukunft.”

Blickt in diesem historischen Augenblick der ehemalige Kardinal zu Beginn seiner Amtszeit auf die Kirche als Amtskirche zurück, um zugleich als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre wie auch von dem oft proklamierten Topos der ›jungen Kirche‹ Abschied zu nehmen, wie es uns Wittigs wohlwollende Ausführungen in seinem Papst-Artikel »L’invadente« (den ich im Gottesdienst am 10. April vorgelesen habe) nahelegen könnten? Oder will er hier im Rückgriff beispielsweise auf Papst Johannes XXIII. als Benedikt XVI. triumphierend jeden, der den neuthomistischen Konservativismus nicht fördert, endgültig dem höllischen Feuer übergeben?

Der Konflikt, der sich mit Wittigs Aufsatz »Die Erlösten« einstellte, wurde kirchenamtlicherseits durch die Exkommunikation seines Verfassers im Jahr 1926 „gelöst”. Dabei blieb es aber nicht. Denn nun gaben zwischen Juli 1927 und September 1928 Joseph Wittig selbst und sein Breslauer juristischer Kollege Eugen Rosenstock »Das Alter der Kirche« heraus, das in fünf Einzellieferungen erschien: StiftungWachstumInnerungVerklärungAlltag, und das schon von seinem Titel her als merkwürdig empfunden wurde. Wittig schrieb schon Ende 1928 in seinem Buch »Höregott« dazu:

Wir gaben dem Werke den Titel „Das Alter der Kirche”, weil wir hoffend wissen, daß an jedem Tag aus einem alten Testament ein neues hervorbricht.

Wer eine Kirchengeschichte »Das Alter der Kirche« betiteln kann, zu einer Zeit, in der viele die Jugendlichkeit der Kirche betonen, schwimmt der nur gegen den Strom? Dann würde naheliegen, so ein Buch unter einem reißerischen Titel zu veröffentlichen. Aber es kommt ja noch schlimmer. Denn Rosenstock geht von der geradezu unfasslichen Tatsache aus, dass „in der Kirchengeschichte alle Ereignisse als gleichzeitig betrachtet werden müssen”, wie er zwanzig Jahre später in seinem Buch »Des Christen Zukunft« ausführt. Da die Kirche gestiftet wurde „für den wirklichen Fortschritt unserer ganzen Lebenszeit und der ganzen Menschheitsgeschichte”, stellt er die methodische Forderung auf, „die Geschichte vom Ende her zu lesen”. Geschichte kann in der Tat nie von nur einer Generation gemacht werden, denn der in ihr wirkende Geist ist immer vom Ende her bestimmt. Im »Börsenblatt des deutschen Buchhandels« wird der nicht leicht verständliche Titel (ähnlich dem Geistesblitz von Anselm Feuerbach: „Was ist originell? Alles & jedes in der Welt war schon einmal da & leider immer besser” – aber eben ohne den Feuerbach’schen Geschichtspessimismus) angekündigt:

Originell – sagt Hölderlin – ist nur, was so alt ist wie die Welt. Das Alter der Kirche heißt das Buch, weil es von der ewigen Jugend des Menschenvolks handelt.

In der Form versucht es so reichhaltig zu sein wie sein unerschöpflicher Gegenstand. Daher wird in fünf Büchern selbständig eine der Kirchenfronten angegangen. Daher verkörpert jedes Kapitel genau so wie die Akten einen bestimmten Wandertag innerhalb des zweitausendjährigen Baues. Daher wird das Älteste, historisch Erforschte gläubig der Zukunftsfrage unterstellt, umgekehrt für die heutigen Schul- und Sozialkämpfe nüchtern die Glaubensfrage aufgerollt. Die Fülle unerledigter und unbekannter Tatsachen der »Akten« aus den heutigen katholischen Geisteskämpfen bietet sich den Theologen und Politikern dar, dem Historiker und Soziologen aber die neuen Einzelforschungen und Fragestellungen der »Kapitel«.

Über die erwähnten heftigen „Schul- und Sozialkämpfe” kann ich mich nur beiläufig auslassen; für heute will ich allerdings kräftig unterstreichen, dass »Das Alter der Kirche« als (Kirchen-)Soziologie – Wolfgang Ullmann hat sich im dritten Band der Neuausgabe von 1998 darüber sachkundig ausgelassen – Ansätze enthält, die zwei bittere Vorwürfe aus unseren Tagen sehr wahrscheinlich weitgehend hätten vermeiden helfen können: in einem Leitartikel jetzt zu Pfingsten war zu lesen, in der gegenwärtigen „heftigen Diskussion über den Kapitalismus war eine Stimme kaum zu hören: die der Kirchen. Das ist erstaunlich, da die Gerechtigkeit einer Ökonomie auch die Christen etwas angeht” sowie: „Die Kirchen in Europa haben es sich abgewöhnt, das soziale Dynamit dieser [biblischen] Worte zu zünden.”

Um hier großzügig zusammenzufassen und kurz zu begründen will ich die entsprechenden Worte von Wolfgang Ullmann aufnehmen: Wittig stehe „für die Unfähigkeit der Kirche, die Glaubens- und Gewissensfreiheit in den Rahmen ihrer institutionellen Strukturen einzuordnen”, er stehe für die „Kirche der Erlösten und Befreiten.” Wittig selbst schreibt in seinem Buch »Höregott« rückblickend:

Die Veröffentlichung der Gesamtheit aller amtlichen oder von amtlichen Vorgängen zeugenden Urkunden, die sich auf meinen nunmehr schon fünfjährigen Kampf bezogen und die in meine Hände gekommen waren, wurde unterdes in den Rahmen eines größeren Werkes gestellt. Sie sollte dem Geiste der Polemik und dem Geiste der Sensation entzogen werden. Die fünf Jahre waren der Kirchengeschichte zugezählt. Sie können nur richtig gesehen werden im Rahmen des ganzen Bildes, das wir von der Geschichte hatten, mein Freund Rosenstock und ich in ganz seltsamer Übereinstimmung. Wir hatten ein jeder einzelne Linien dieses Bildes ausgezeichnet in mannigfaltigen Aufsätzen und Skizzen, die wir zusammenzustellen beschlossen. Wir hatten die einzelnen Teile geschrieben wohl nach wissenschaftlicher Schulung und nach den Gesetzen, die der Geist der Wissenschaft uns diktierte, aber doch in dem Geiste, der von unserem Glauben ausging und mit seinem hellen Schein den Weg der Kirche und unseren Weg beleuchtete; in einer Sprache, die den Werken der alten Wissenschaft fremd ist, die aber eine neue Wissenschaft aufnehmen wird, in der Sprache des Glaubens.

Und Rosenstock spricht von seiner im Jahr 1925 erschienenen »Soziologie« her, die quer zu allen soziologischen Aufbrüchen zu jener Zeit methodisch einen völlig anderen Weg einschlägt, der in der Regel auf heftige Ablehnung stößt, wie besonders eindrücklich mehrere Rezensionen mit ätzender Kritik zeigen. Denn er konzipiert Soziologie vom Kreuz der Wirklichkeit her – und signalisiert zugleich, wie sehr die Bibel hierbei wegweisend Pate gestanden hat: „Die Lehre von der Kirche als von dem Herzen der Welt ist ein unentbehrlicher Bestandteil einer Lehre vom Volke, die auch das Volk als lebendig und nicht als Präparat behandelt.”

Das Volk nicht als totes Präparat, sondern als lebendig, dies will ich von Rosenstocks im Jahr 1926 erschienenen Schrift »Lebensarbeit in der Industrie« her beleuchten – dieser längere Abschnitt mag noch immer auch für eine zeitgenössische Beurteilung der ›Gerechtigkeit einer Ökonomie‹ dienen:

Die kapitalistische Wirtschaft ist eine Ordnung, die das wirtschaftende Individuum grundsätzlich von der politischen Sorge um die Rechtsordnung und von der Herrschaft über die von ihr verwandten Arbeitskräfte befreit. In dieser kapitalistischen Ordnung wird also das politische von dem ökonomischen Ordnungsmittel bewußt getrennt. Wegen dieser Entlastung des individuellen Unternehmens von außerwirtschaftlicher Verantwortung beruht die moderne Wirtschaft auf dem Zusammenspiel von zwei Faktoren, von den das Privatrecht hütenden Staaten und der aus privater Tätigkeit sich zusammenschließenden Gesellschaft.

Gesellschaft ist also wirtschaftliche Verflechtung von Individuen aus Einzelstaaten. In den Einzelstaaten erzogene und behütete und von den Einzelstaaten entlassene und freigelassene Individuen bilden diese moderne Gesellschaft im mehrstaatlichen Raum. ›Diese (die Gesellschaft der Gegenwart) aber ist jünger als die Staaten und ist von diesen aus sich entlassen. Ihre Entstehung ist daran gebunden, daß die alte berufsständische Gliederung, auf der der Staat des Mittelalters ruht, für einen bestimmten Bezirk des öffentlichen Lebens überwunden und durch ein Aggregat von Individuen ersetzt wird. Diesen Bezirk aber nennen wir die Gesellschaft, und die Überwindung der alten ständischen Gliederung ist das Werk der modernen Staaten‹. Das Dasein solcher Einzelstaaten, der moderne Machtstaat ist nicht nur historisch, sondern auch definitorisch die Voraussetzung dieser Gesellschaftsordnung; denn die Individuen werden von dem Machtstaat erzogen, ausgerüstet und geschützt oder freigegeben. Der Zerbruch eines oder mehrerer dieser Einzelstaaten entzieht der modernen Gesellschaft eine ihrer wesentlichen Voraussetzungen. Die geschehene, wenn auch maskierte, Entstaatlichung Deutschlands untergräbt mindestens für deutsches Denken die bisherigen stillschweigenden Voraussetzungen der deutschen bürgerlichen wie der sozialistischen Ökonomie. Denn alle Instinktsicherheit der staatlichen Ordnung ist damit zerstört. Die Staatsmaschine läuft leer. Und so ist jener die lebensfähigen Individuen in die Gesellschaft aus sich immer neu herausschleudernde und aus sich entlassende Staat nicht mehr da. Die bürgerliche Gesellschaft ist ihres Rückhaltes beraubt. Sie ist übrig und neben ihr übrig ist das von den bisherigen staatlichen Ordnungen ihr zugeführte, heut entordnete Volk. Diese neue Lage trifft auf alle europäischen Völker, wenn auch in gradweiser Verschiedenheit, zu, mindestens aber auf das der Mitte. Die neue Spannung ist nicht mehr: Staat und Gesellschaft, sondern Gesellschaft und Volk.

Begreiflich genug, daß zunächst trotzdem die alten Gedankenreihen weiter behelfsweise in Gang geblieben sind. Sowohl Arbeitgeber als Arbeitnehmer halten an der isoliert privatwirtschaftlichen Arbeitsmarktauffassung fest, obwohl diese einen Machtstaat zur Voraussetzung hat. Das Ungenügen an diesen Gedankengängen, die nur noch in Gang, nicht mehr in Kraft sind, äußert sich aber doch sehr deutlich.

Die kapitalistische Wirtschaftsordnung ruht auf einer Gleichgültigkeit des wirtschaftenden Individuums gegenüber der Staatsräson, auf business as usual und Mehrverdienst durch Kriegsgewinne.

Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Kirche nicht mehr den Staat als Gegenspielerin hat, sondern die Gesellschaft, und dass diese Gesellschaft als Gegengewicht anderes erfordert als Rückendeckung durch den Staat und insbesondere scholastische Theologie als Kampfpanzer: „Das Thema dieser Volks- und Gemeinschaftsforschung wird sozusagen Augustin vor der Bekehrung sein. Gott und Welt und die christliche Seele sind als Positionen erschlossen. Uns verlangt, auch das Böse, das Sündhafte, das Unbekehrte zu einer Position zu erheben, oder wenn das nicht geht, mindestens zu einer Station der Wirklichkeit” (»Augustin und Thomas«, II, S. 110).

Aus diesem Zitat nun kann leicht das Kreuz der Wirklichkeit, das Eugen Rosenstock als systematischen Schlüssel seiner Soziologie zu Grunde gelegt hat, erkannt werden. Nicht „Raum” und „Zeit” als abstrakte Größen in der Einzahl, sondern Räume und Zeiten, damit Vergangenheit und Zukunft sowie Innen und Außen, das sind die vier Eck-Größen, die alle auf uns kräftemäßig einwirken, uns geistig bestimmen; in dem soeben erwähnten Zitat also GottWeltSeeledas Böse. Lesen Sie also bitte unter dem methodischen Blickwinkel des „Kreuzes der Wirklichkeit” im »Alter der Kirche« weiter (besonders eindrücklich I, S. 113; II, S. 98. 381ff.). Und nun noch einige Sätze von Rosenstock selbst aus »Des Christen Zukunft« S. 202 (vgl. auch ebd. S. 168):

So kommt es denn, daß das Menschenleben gesellschaftlich und individuell auf einem Kreuzweg zwischen vier Fronten gelebt wird: nach rückwärts in die Vergangenheit, nach vorne in die Zukunft, nach innen unter unseresgleichen, unseren Gefühlen, Wünschen und Träumen, und nach außen gegen das gerichtet, was wir bekämpfen oder ausbeuten müssen, mit dem wir uns vertragen müssen oder das wir übersehen können. Es ist sichtlich verhängnisvoll, an einer der Fronten zu versagen – die Vergangenheit zu verlieren, die Zukunft zu verfehlen oder an innerem Frieden oder äußerlicher Leistungsfähigkeit Mangel zu haben. Würden wir bloß vorwärts rennen, müßten all die bereits errungenen Werte an Charakter und Zivilisation verlorengehen. Wenn wir ausschließlich zurückblicken, hören wir auf, eine Zukunft zu haben. Und so fort.

Es ist wohl kein Zufall, sondern die kürzeste Zusammenfassung der geistigen Ausrichtung um die Frage, ob die Kirche jung oder alt, lebendig oder tot sei, dass Joseph Wittig zu Pfingsten 1926 exkommuniziert wurde und er ein Kirchenjahr zuvor in einem Zeitungsartikel Eugen Rosenstocks »Soziologie« uns so sehr ans Herz legt:

Ich muß es wohl bekennen, daß meine diesjährige Pfingstfreude das nach seinem Titel ganz „weltliche” Buch meines Freundes Rosenstock, seiner „Soziologie” erster Band: „Die Kräfte der Gemeinschaft”, besonders aber das Kapitel: „Die Sprachen der Völker: Geist”, geworden ist. Weder Pfingsten, noch der Heilige Geist ist darin ausdrücklich genannt, aber der Sturm ist darin und das Auftun des Mundes und das Horchen auf den Geist der Sprache und die tiefe Wissenschaft, die sie uns aus ihren eigenen, uns leider so lange verborgen gehaltenen Schätzen vermittelt. Dem Entdecker, nicht nur der „wahren Zeit” und des „wahren Raumes” – es ist auch wieder Raum für Gott in dieser neuen Soziologie –, sondern auch der wahren Sprache auf seinen Forschungswegen wenigstens von fern zu folgen, das halte ich für meinen besten Pfingstausflug aus der Welt, in der sich nicht nur die Kreter und Araber, Meder und Aelamiten, sondern auch die nächsten Nachbarn nicht mehr verstehen.

So wenig wie nach 50 Jahren Joseph Kardinal Ratzinger Wittigs »Erlösten«-Aufsatz als Heilmittel gegen die Wirkungslosigkeit der Kirche aus diesem pfingstlichen Geist verstehen und annehmen wollte, genausowenig nennt er auch in seiner Rede als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre Rosenstocks soziologischen Neuansatz nach 60 Jahren. In diesem Vortrag aus dem Jahr 1988 lese ich mit großem Bedauern das allzu pauschale Verdikt: „Psychoanalyse und Soziologie sind die grundlegenden Weisen, dieses Postulat [der Abschaffung des Menschen] einzulösen.” Die Frage drängt sich auf, warum jetzt auch Rosenstocks seit 1958 nunmehr zweibändige »Soziologie« mit einem Federstrich der Verdammung preisgegeben wird.

Spielt dabei noch immer eine Rolle, dass zur Zeit der Konkordatsverhandlungen Rosenstock als preußischer Beamter dem Minister im persönlichen Gegenüber mit der Begründung, er müsse seiner Freundschaft mit seinem Freund Wittig trotz des Risikos, seine Existenzgrundlage zu verlieren, Vorrang geben vor dessen ministerieller und damit dienstlicher Anordnung, das Schriftchen »Religio depopulata« nicht zu veröffentlichen – also dieser Kampf auf dem Boden des Glaubens, des unbedingten Vertrauens? Spielt dabei noch immer eine Rolle, dass Rosenstock und Wittig sich in dem Glaubenssatz einig sind: ›Bei Gott ist kein Ding unmöglich‹ – und damit auf eine ganz andere Weise ernst machen als die Kirchenobrigkeit? Dass Wittig (1928) Rosenstock (1918) zitiert:

Das geistige Wirken der Menschheit vollzieht sich heut abseits der vollständig erstarrten Kirche; die technische Gestaltung der Erde vollzieht sich heut abseits des vollständig verblasenen Christentums. Menschheit und Erde werden durchwirkt und gestaltet von Kräften, die den Gott der Christenheit verleugnen. Aber das liegt nur daran, daß die Christenheit weder wirkt noch gestaltet. Sie ist zum Pfahl ins blühende Fleisch der Welt bestimmt. Aber solch Pfahl müßte rings an junge offene Wundflächen und Ränder rühren, wenn er Reaktionen herbeiführen soll. Heut hat sich die Welt mit dieser Christenheit, dieser Kirche, diesem Evangelium längst abgefunden. Der Pfahl trifft nirgends mehr auf das Fleisch. Die Wunde, die er einst stieß, ist vernarbt.

Spielt eine Rolle, dass Wittig dem wissenschaftlichen, rein rationalen Kausalitätsgeist den Abschied gibt und die Bibel trotzig-kühn das „geist”-loseste Buch nennt, dass Rosenstock die atheistischen Methoden in Theologie und Soziologie ablöst durch das „Kreuz der Wirklichkeit”? Im übrigen geschieht Kardinal Ratzingers Nicht-Wahrnehmen von Wittigs und Rosenstocks Ansatz erstaunlich punktgenau zu ihrem jeweiligen 100. Geburtstag.

Deren beider Ausblendung aus der Arbeitsgemeinschaft der Forscher und die strikte Ablehnung sowohl der Grundthese und wie des methodischen Ansatzes vom »Alter der Kirche« ändert nichts an der noch heute erstaunlichen Aktualität von Rosenstocks »Religio depopulata«, auf das ich Sie kürzlich hinwies. Denn zu meiner Überraschung haben Sie nicht nur vor einigen Wochen trotz des Titels die drei Bände »Das Alter der Kirche« in die Hand genommen und darin gelesen. Sie sagten sogar, es habe Sie angesprochen. Sie seien von den mittlerweile zwar alten, aber inhaltlich faszinierenden Ausführungen gefangengenommen worden. So erging es mir auch. Erst recht, als ich in einem Gutachten von Thomas Witt zum »Alter der Kirche« las, dass Rosenstock und Wittig eine im Mittelalter verbreitete Denktradition übernommen hätten, die das jeweilige Thema in den großen Bogen der Menschheitsgeschichte von Adam bis zum Jüngsten Tag einordne. Für sie seien die beiden Pfeiler das zeitenwendende Auftreten Jesu und die Gesellschaft, die sich nach der Epoche von Kirche und Staat als Epoche des dritten Jahrtausends einstelle. Dass dieser Ansatz nichts rein Theoretisches blieb weil nur angewandt auf vergangene (kirchen-)geschichtliche Ereignisse, was verobjektivierend am Schreibtisch erledigt werden kann, sondern wiederum ganz existenziell, zeigt Wittig dann im »Höregott«: „Mir ist’s, als ob Gott alle erwählt hätte, nicht alle zur kirchlichen Gestalt seines Lebens, aber alle zu einer noch ungenannten Gestalt.”


Um diesen Brief, der durchaus ein Appetitmacher auf sehr geduldiges oder wiederholtes Lesen sein soll, nicht zu lang werden zu lassen will ich Sie ausdrücklich auf die einführenden Beiträge im dritten Band der Neuausgabe des »Alters der Kirche« hinweisen, zum einen von Joachim Köhler »Die Aktualität des Theologen und Kirchenhistorikers Joseph Wittig (1879-1949)« und zum anderen von Wolfgang Ullmann: »Eine ökumenische Soziologie der Kirche«. Außerdem finden Sie in den »Berliner Vorträgen« von 1998 seinen Vortrag »›Das Alter der Kirche‹ – eine ökumenische Soziologie«. Diesen Beitrag schließt er mit der Bemerkung:

Solange aber dieser Klarstellung [sc. ›Fides und Ratio‹ oder ›Fides und Cognitio‹, d. h. neuthomistischer Kulturkonservativismus bzw. Kulturprotestantismus oder Freiheit zur Erkenntnis der Wahrheit Gottes] nicht Genüge geschehen ist, kann der im 3. Band von »Alter der Kirche« dokumentierte Fall Wittig nicht als erledigt betrachtet werden. Denn in ihm ging es um nichts anderes als um die Freiheit des Erkenntnis wirkenden Glaubens. Die Kirche des 3. Millenniums muß diese Freiheit, die Rosenstock und Wittig mit ihren 3 Bänden bezeugt haben, bestätigen und verteidigen und damit den Fall Wittig so beenden, daß die Gefahr der religio depopulata gebannt wird.

Aber damit nicht genug! Denn im eben erstgenannten Beitrag mahnt er auch Eugen Rosenstocks Restitution an:

Zum Thema „Alltag” gehört nicht nur der Fall Wittig. Eigentlich wäre es an der Zeit, daß einmal Kapitel und Akten des Falles Rosenstock gesammelt und veröffentlicht würden. Denn während die Einsicht eines polnischen Kardinals die römischen Behörden 1946 dazu bewog, wenige Jahre vor Wittigs Tod das ihm persönlich angetane Unrecht wiedergutzumachen und die gegen ihn ergangene Exkommunikation aufzuheben – im Falle Rosenstock-Huessys ist der akademische Bann gegen einen nichtkonformen Kollegen noch immer wirksam. (III 372).

In Kürze werden die Akten des Vatikans zu den Jahren 1925/30 frei, so dass die Möglichkeit besteht, ein sachliches und zutreffendes Bild von Joseph Wittig zu erhalten. Seine narrative, autobiographische Theologie hat als Hintergrund die „Erfahrungswelt der kleinen Leute, das sind die Erfahrungen jener Leute, die vom katholischen Milieu der Grafschaft Glatz geprägt waren” – Joachim Köhler sieht insgesamt die Authentizität Joseph Wittigs und seiner Frau Anca als eine für uns annehmbare Spur. Aber das scheint mir nur der eine von mindestens zwei Gesichtspunkten zu sein, denn Wittig spricht oft genug von einer neuen Wissenschaft; zum Beispiel von der „Wissenschaft des Gastes”: wie viel gibt es bei ihm noch zu entdecken! … – Wer aber vermag, Universität und Rosenstock-Huessy zusammenzubringen? Es gibt da ja nicht nur hochnäsige Verächter! So wagte ich einmal, in die Sprechstunde eines angesehenen Forschers zu gehen und bat ihn, sich Rosenstocks Ausführungen anzusehen und mir gegebenenfalls Korrekturen mitzuteilen. Das wolle er gern tun, denn er habe von Rosenstock schon oftmals gehört! Schließlich gab er mir das ihm überlassene Material wieder zurück und schrieb:

„Es hat aus meiner Sicht gar keinen Sinn, jetzt durch Hinweise auf neuere Erkenntnisse zur griechischen Sozialgeschichte Korrekturen und Retuschen anzubringen. Das würde m. E. auch dem Werk gar nicht gerecht. Ich sehe in ihm einen geistigen Essay, nicht aber ein Werk, das im Sinne meines Faches einen wissenschaftlichen Charakter hat. Das ist überhaupt nicht abwertend gemeint. Die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis sind mir wohl bewusst, und es gibt gewiss Einsichten, die über jene hinausgehen. Als Wissenschaftler kann ich aber dazu keine begründeten Aussagen machen, sondern höchstens sagen, was nach dem Stand der Forschung unrichtig, ungewiss oder problematisch ist.”

Diese Antwort hat mich gefreut! Zeigt sie mir doch, mit welcher Offenheit zu lesen versucht wurde – und dass eben die soziologische Methode von Rosenstock nichts mit der gängigen, rein deskriptiven, nominalistischen Soziologie zu tun hat. Denn als ob Rosenstock es geahnt hätte, ›antwortet‹ er:

Die Geschichtswissenschaft ist, seitdem sie zur »Sozial«-Geschichte wurde, zu den Chroniken zurückgekehrt; sie spricht nur von bloßen Serien von Ereignissen und Sitten; es gibt keine wahren Perioden. Das Bewußtsein verbietet, daß je eine ganz neue Geschichte beginnt. Und keine wird je erfüllt. Die Historiker, die darauf bestehen, rein wissenschaftlich zu bleiben, fragen nicht und können nicht fragen, wie der Glaube Epochen schafft, wie er sie beendet und beginnt; denn das lernen wir einzig und allein von unserm eigenen Glauben an die Zukunft. Aber die Vergangenheit, die durch die wissenschaftliche Geschichte hergestellt wird, ist nicht eine Vergangenheit, die unserer Zukunft zugegeben ist, sondern eine Vergangenheit, die als bloße Ursache unserer Gegenwart angesehen wird. Die Vergangenheit unserer Zukunft würde ein Ende haben; die Vergangenheit unserer Gegenwart hat kein Ende. Sie ist wörtlich »endlos«, und die einzige Weise, die Endlosigkeit zu beschreiben, ist ein Kreis. Jeder mechanische Kreislauf ist deshalb mechanisch, weil er nichts von seinem eigenen Überschwang, seiner eigenen Sehnsucht enthält. Allein die ungelösten Probleme der Geschichte können uns dazu verhelfen, dem endlosen Stoff der bereits gelösten Probleme eine Ordnung zu geben.


Warum setze ich mich unter Zeitdruck und will Ihnen zur Taufe Ihrer Tochter unbedingt etwas zum »Alter der Kirche« schreiben? Weil Sie sich vielleicht an mein enttäuschtes Gesicht erinnern können als Sie mir sagten, dass Ihre Tochter nicht wie Sie, liebe Frau A., orthodox, sondern nach ihrem Vater römisch-katholisch getauft werden soll. Denn wie viele Orthodoxe leben hier und haben keine Kirche in unmittelbarer Nähe, leben also in der Diaspora. Joseph Wittig fand darüber im Jahr 1922 sehr weitsichtige, mutige Worte. Lesen Sie also »Von dem kirchlichen Leben im II. und XX. Jahrhundert« (I, S. 293ff.). Was er über die Diaspora und die Diasporafähigkeit schreibt, gilt nicht nur für eine christliche Konfession, sondern für uns alle.

Sie würden mir einen großen Wunsch erfüllen, wenn Sie sich durch Rosenstocks »Die Furt der Franken und das Schisma« durcharbeiteten (I, S. 463ff.). Denn hier schafft Rosenstock eine Grundlage für ein Zusammenfinden sowohl der verschiedenen Kirchen Europas als auch der ost- und westeuropäischen Länder. Als ich noch in den entsprechenden Klassen unterrichtete, fragte ich gern die Schüler: wo liegt die Mitte Europas? Abgesehen davon, dass den meisten die näheren geographischen Kenntnisse fehlten waren sie hilflos, wenn sie sich die Antwort mit Hilfe einer Karte und eines Zirkels erarbeiten mussten. Durch die Einfügung des einen lateinischen Wortes filioque (und dem Sohn) in den Text des Nicänischen Glaubensbekenntnisses konnte Karl der Große im Jahr 794 in einem von ihm einberufenen Konzil in Frankfurt am Main seinen politischen Führungsanspruch durchsetzen, allerdings mit der Folge, dass dieser Gewaltakt ein Mosaikstein auf dem Weg zum Schisma im Jahre 1054 wurde, zur Spaltung Europas im Jahr 1945, zur Auflösung der una sancta ecclesia. Denn seit dem Schisma gibt es nurmehr die – gespaltene – Christenheit. Nach Rosenstock muss dies nicht so bleiben. Denn einerseits bestehe keine Veranlassung, den ›Mangel an Liebe‹ nicht endlich deutlich zu thematisieren, andererseits gibt es nunmehr weder zwei noch überhaupt einen Kaiser, der sich verpflichtet sehen könnte, sein „Kaiseramt als kirchliches Amt” anzusehen, schließlich ist auch „Europa nicht mehr die nette Mitte der Welt”, und wir sollten rechtzeitig wissen, was wir angesichts dieser völlig veränderten Perspektive zu tun haben.

So steht neben Wittigs und Rosenstocks Wiedergutmachung eine dritte an:

Die Einheit der christlichen Kirche zerbrach nicht, weil Rom und Griechen verschieden glaubten, sondern weil das Credo aus Mißachtung vergewaltigt wurde. Die Seele des Menschen wurde zerrissen, weil der Prozedur die Liebe fehlte. Liebesmangel liegt hinter jedem ernsten Konflikt. Es nimmt mich Wunder, wann die Päpste das Verfahren, das sie damals anwandten, preisgeben werden und auf diese Weise ihre Pflicht für die Vereinigung tun. Weshalb erklärt der Bischof von Rom nicht, daß Karl der Große ihn vergewaltigt hat?


Wie Wittig darlegt, ist »Das Alter der Kirche« ein Buch des Glaubens – für beide Verfasser, und das von der ersten bis zur fünften Lieferung. Vor allem an dem schon im Jahr 1926 veröffentlichten Schriftchen »Religio depopulata« habe ich zu zeigen versucht, wie das biblische Wort in die Existenz einging. Somit mag es Ihrer Tochter im Blick auf ihre Taufe Mut machen, gerade in Situationen, in denen sie sich nach Vorbildern im Glauben umsieht.

»Das Alter der Kirche« erweist sich durchaus als Methodenbuch, also als etwas keineswegs Harmloses. Denn es wendet sich gegen eine wissenschaftliche Methode, die vor dem Kreuz stehengeblieben ist, wie Rosenstock 1945 in seiner Fortschreibung des »Alters der Kirche« schreibt, in dem Buch »Des Christen Zukunft«, das ich für diesen Brief reichlich heranzog. Ich will das jetzt hier nicht in der gewünschten Ausführlichkeit zitieren, aber Sie zumindest hinweisen auf den dortigen Abschnitt »Die ›Sozialwissenschaften‹ als unser ›Altes Testament‹« (S. 228ff.). Was er hier ausführt, faßt er später in seiner Soziologie (II, 1958) in drei Sätzen zusammen: „Christus als Mitte der Geschichte wird heute eine wissenschaftliche Forderung des Verstandes. Die christliche Zeitrechnung ist eine rationale Forderung. Die Akademiker sind ohne sie unwissenschaftlich” (S. 282). Das bedeutet nicht, dass er die Wissenschaft verchristlichen will. Denn „das Kreuz ist weder konfessionell noch kirchlich. Es ist erschaffene Wirklichkeit” (Des Christen Zukunft, S. 234). Würde oben erwähnter Forscher bei Kenntnis dieser Sache anders urteilen?

Weil das Kreuz für alle Menschen Orientierungspunkt sein kann, lädt uns »Das Alter der Kirche« ein, uns selbst ins Kreuz der Wirklichkeit zu stellen, auf diesem Weg selbst zu Soziologen zu werden, zu Menschen, die wie Jesus an der härtesten Stelle ansetzen, um die gestellte Aufgabe zu lösen. Gestatten Sie, wenn ich noch diese klassische Stelle zitiere: „Wir erkennen als ein wichtiges soziologisches Grundgesetz, daß nur dort, wo der äußerste Widerstand geleistet wird, die vollendete Gestalt herausgeschliffen werden kann.” So erinnere ich in diesem Zusammenhang an die oben erwähnte vierte Phase, die jetzt unsere Aufgabe sei: Augustin vor der Bekehrung, dass auch das Böse seinen Beitrag leisten muss zur vollendeten Gestalt.

Wenn ich mehrmals auch Wittigs »Höregott« heranzog, so deshalb, weil dieses Buch – ebenso wie Rosenstocks »Des Christen Zukunft« – gleichsam als vierter Band des »Alters der Kirche«, als „das ›Jetzt‹ der Kirche”, wie Wittig im November 1928 schrieb, gelesen werden kann. Im Rahmen des Kreuzes der Wirklichkeit können wir es bei der Zeitachse auf die zukunftsweisende Position stellen. Damit bricht nun vehement die Frage auf, was endlich heute, 80 Jahre später, zu tun ist, damit wir wirklich die Una sancta ecclesia nicht nur bekennen, sondern verlebendigen. Das geschieht offensichtlich als ›nackter‹ Glaube, als Una sancta, also ohne das ›ecclesia‹, jedenfalls nicht im traditionellen kirchlichen Sinn, als Gesellschaft, schon jetzt in der Wirtschaft: „Die neue Gestalt ›hat‹ weder Glauben noch Geist, aber sie ist Glaube, ist Gotteskindschaft, und Geist geht von ihr aus, der sich nicht ›haben‹ läßt”, sagt Wittig mit großem Zutrauen. Vom Schiebertum sprechen Wittig, Rosenstock und beispielsweise die Zeitung »Germania« vom 4. März 1920 unter der Überschrift „Das Schiebertum im Zündholzhandel”. Eine fertige Antwort muss ich Ihnen heute zum Glück nicht geben. Eine Antwort wird uns vermutlich durch Notsituationen abgepreßt – oder durch unseren Mut, uns beim Kreuz der Wirklichkeit in den Bereich des Glaubens, also der Zukunft hineinzuwagen, geschenkt werden.

Wollen wir dabei nicht zugrunde gehen, sollten wir „die Einheit des Menschengeschlechts und die Einheit Gottes” (II, S. 99) in den Blick nehmen. Die Kirche als „Selbstverwirklichung der christlichen Seele”, als Schöpfung Jesu, erzeugte und erzeugt Lebendigkeit. Diese Lebendigkeit faßt Rosenstock in dem Satz zusammen: „Wir haben stets nur so viel Zukunft, als wir Vergangenheit haben” (II, S. 100). Dies ist unser Regenbogen, unser Schutzschild, nicht nur gegen orbitale Chaosmächte, der Bogen der Menschheitsgeschichte, von Adam bis zum Jüngsten Tag.

So wünsche ich Ihrer Tochter eine gute Orientierung durch das Kreuz der Wirklichkeit als einem zuverlässigen Kompaß durch die Zeiten, und dass sie sich zu ihrer Zeit mutig und authentisch als Soziologin einbringen kann,

Ihr

Fritz Herrenbrück