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Eckart Wilkens: Zwölf Worte - eine Einführung

Anhand von 12 markanten Zitaten aus dem sehr umfangreichen Werk Rosenstock-Huessys können sich einem die Schwerpunkte seines Denkens und seiner Biografie erschließen.

Eugen Rosenstock-Huessy lebte von 1888 bis 1973 und hat ein vielstimmiges Leben, Lehren und Wirken in seine in deutscher und englischer Sprache veröffentlichten Bücher übersetzt. Um davon einen Begriff zu geben, sind hier zwölf Worte zusammengelesen, die die ganze Spanne seines öffentlichen Sprechens von 1910 bis 1968 (mit einem Rückblick auf 1906) umfassen.

Motiv der Auswahl war es, den Zwölfton des Geistes, wie er ihn in einem seiner Hauptwerke, der Soziologie in zwei Bänden 1956/1958 (Band II, S. 57-91), dargestellt hat, als an seinem eigenen Leben, Lehren und Wirken erwiesen zu finden.

Die ersten vier Aussagen in der untenstehenden Reihe tragen die Nummern 12 bis 9, werden hier aber vorangestellt, weil auf ihnen das Hauptgewicht dessen liegt, was Rosenstock-Huessy zu sagen hat. Es folgen hier also zunächst die Töne:

12 Stifte,
11 Prophezeie,
10 Lehre und
9 Regiere

In einem kurzen Satz fasse ich zusammen, was ich als Kern der jeweiligen Botschaften vernehme.

12 Stifte: Der Planet Erde ist unsere Heimat

Wir müssen bei Strafe des Weltunterganges, bei Strafe des Himmelseinsturzes und bei Strafe irdischer Vernichtung diese Worte Himmel, Erde, Innenwelt, Außenwelt übereinstimmend machen. Gute Genien haben seit Kopernikus einen Ausweg für den Zusammenstoß: hier „Himmel und Erde” – da „Welt” vorbereitet. Wir Menschen leben nicht als Herren der Erde, als Knechte des Himmels. Wir leben auch nicht als Weltkinder, als sinnlose Stäubchen des Kosmos. Nein, wir bewohnen einen Planeten. Was besagt das? Nun, es beginnt gerade erst, etwas zu besagen. Noch bestreiten die Himmelnden und die Weltlichen uns das Recht dazu. Unser Planet ist nämlich weder ferne Welt noch einheimische Erde. Denn er ist ein Himmelskörper, der uns mitsamt unseren Antipoden einheitlich um die Sonne bewegt. Weder steht er uns also als fremde Welt gegenüber: wir sind ihm als einem Ganzen einverleibt, und er bewegt uns. Noch sind wir zufällig hier oben da einem Standpunkt auf der Erde ausgeliefert; aber von dem gesamten Planeten ergehen an uns schon die Tagesbefehle. Wo auf der dunklen Erde wir trübe Gäste waren ohne Zusammenhang, da wird mit dem Aufhören der Kriegsmöglichkeiten dem Ganzen unseres Geschlechts Halt geboten: „Ihr seid schon eins und einig. Dies bißchen Globus ist alles, was zum Einteilen, Abteilen, Verteilen übrig ist. Der Himmel kommt jedesmal dann auf Eure Erde, so oft Ihr sie als Planeten, als himmlische Wohnung aller Söhne und Töchter Adams anerkennt.” Der Welt gegenüber gab es eine Heimat und ein Eigentum. Auf dem Planeten aber sind wir alle gleichmäßig zu Hause – links und rechts, Amerika und Rußland sind alle gleich fern von der Anmaßung, deine exklusive Heimat darzustellen. Der Planet ist unsere Heimat.

Dienst auf dem Planeten 1965, S. 31

11 Prophezeie: Die Sprache ist unser Kontinuum von Anfang bis Ende der Geschichte

Denn ohne Weitersprechen und ohne vorhergehendes Gehört-haben ist der Sinn des einzelnen Satzes unergründlich. Vorauf liegt dem Satz „es regnet” die Sehnsucht zu sagen, ob ich vor oder nach dem Regen lebe. „Es hat geregnet” oder „Möge es regnen”, mußten sagbar sein, als ich rief: „Es regnet.” Wir sprechen, um wie bei der Flurprozession der Rogationen im Mai den Acker unserer Zeit zu umschreiten. Ambarvaler, Flurumschreiter wurde der Römer jährlich, denn der eine Stoß der Sprache bemächtigt sich kraftvoll der Dinge dieser Welt. So begreift er die Sachen der Räume. Aber auch Ambarvaler „Zeitumschreiter” ist jeder Sprecher. Auch die Zeit wird eine blühende Flur, wenn wir sprechen. Der Sprecher umgreift den Gang der Ereignisse, stoßend und gestoßen in der Wucht des Zeitandranges. Wir begreifen das Tote, Stehende, Daliegende verständig, weil wir das Tote beisetzen sollen. Wir greifen ein in das Lebende, Gehende, Strömende vernünftig, weil wir ins Leben gestoßen werden. Begreifen und Eingreifen sind unsere beiden Sprechrichtungen. Weil die Grammatiker synthetisch leimen, haben sich Begreifen und Eingreifen bei uns voneinander separiert. Der Begreifer behauptet, ohne Eingriffe in Begriffen denken zu können! Und dieser Denker ignoriert das Ereignis, dem er selber entsprungen ist. Und doch, was für ein ungeheurer Eingriff in den Zeitablauf hat dazu gehört, um ihn, den Descartes, ihn, den Hegel, aus dem Strom herauszugreifen, damit er es fortan nur mit dem Begreifen zu tun haben darf. / Die Berufswahl ist immer ein unbegreiflicher Eingriff in den Ablauf eines Lebens: „Werde zum Philosophen” liegt dem „alles, was ist, ist vernünftig” des Herrn Hegel weit vorauf, und es ist daher ein eingreifenderes Gebot, als alle Begriffe innerhalb des Hegelschen Philosophie. Das Gebot und der Befehl sind jene Eingriffe in den Zeitablauf, an denen sich erweist, daß der Begriff der Denker nur das Beerdigungsinstitut ist, das die Leichen unserer Sprache beisetzt. Denn die Sprachkraft setzt, die Denkkraft aber setzt bei.

Die Sprache des Menschengeschlechts I, 1963, S. 37f.

10 Lehre: Die menschliche Lebenszeit ist die gültige Währung.

Beide (Kräftesoziologe, Gestaltungssoziologie), mögen sie sich gegenseitig noch so gründlich verachten und bekämpfen, arbeiten einander in die Hände. Beide werden getragen vom Glauben an ein Uralphabet von Kräften, an eine – wenn auch noch so verborgene – Algebra dieses Kräftespiels. Sie teilen diesen Glauben mit Goethe. Goethe hat den Ausdruck selber geprägt: Er war fast siebzig Jahre alt, als er sagte: „Wenn man das Tun und Treiben der Menschen seit Jahrtausenden erblickt, so lassen sich einige Formeln erkennen, die je und immer eine Zauberkraft über ganze Nationen wie über die einzelnen ausgeübt haben, und diese Formeln, ewig wiederkehrend, ewig unter tausend bunten Verbräumungen dieselben, sind die geheimnisvolle Mitgabe einer höheren Macht ins Leben. Wohl übersetzt sich jede dieser Formeln in die ihm eigentümliche Sprache, aber der aufmerksame Forscher setzt sich aus solchen Formeln eine Art Alphabet des Weltgeistes zusammen.” (Gespräche 29. April 1818.). Beide Soziologien verarbeiten zwischen ihrer Analyse und ihrer Synthese, zwischen „Philosophie” und „Geschichtsphilosophie” die Gebiete bisheriger Wissenschaft, um hinter ihre Gestehungskosten zu dringen. Das Kostengesetz der Wirklichkeit, wieviel Kraft, was für Kräfte sie kostet, ist das gemeinsame Problem aller soziologischen Richtungen. Ob Recht, ob Kunst, ob Sport, ob Politik, die Soziologen fragen nach den Kräften, die davon verzehrt und die dafür festgelegt werden. Für jedes solches Gebiet müssen Kräfte abgezweigt und zur Verfügung gestellt werden. Jenseits dieser Abzweigungen muß sich wieder ein Gesamthaushalt all dieser Einzelkräfte ahnen, finden, aufstellen lassen. / Die wichtigsten Gestehungskosten aber – auch das ist Gemeingut der Soziologen – sind Menschenleben. Alle Gebiete wie Religion, Wirtschaft werden zu Gebieten dadurch, daß sie sich bestimmter Menschenleben bemächtigen und ihnen gebieten. / Die Soziologie stellt daher für jedes dieser Gebiete dieselbe Frage: Wer lebt davon? Welche Menschen, was für Menschen sind der Leib dieses Gebildes? Wen ergreift es? Wen stößt es aus? Menschenleben, Teil von Menschenleben als lebendige Bausteine einer Institution, die werden erfragt, wo man eine Institution „soziologisch” betrachten will. Die Soziologie stellt die Frage nach den Gestehungskosten der menschlichen Ordnungen. / Da nun Menschenleben ablaufen, unablässig verlaufen, wachsen, sterben usw., so sind die Kosten immr menschliche Lebenssekunden, vom Augenblick über Tag und Jahr zu viertel, halben und ganzen Lebensläufen. Das Kostengesetz des Geistes, der aus Fleisch und Blut seine Gestalten baut, ist letzten Endes das Problem der Soziologie.

Soziologie in zwei Bänden, I, 1956, S. 38f.

9 Regiere: Die Weltkriege 1914-1918 und 1939-1945 sind das bestimmende Ereignis.

Die Weltkriege haben die Welt revolutioniert. Bolschewismus, Faschismus, Nationalsozialismus oder auch Zusammenbrüche, Enttäuschungen und Wirtschaftskrisen sind diesen beiden Totalmobilmachungen gefolgt. Aus Nationen sind Bevölkerungen geworden. Der Nationalismus wird durch die äußerste Bedrohung der Nationalsprachen abgelöst./ Kriege wirken also wie Revolutionen. Und Revolutionen äußern sich in Kriegen. Früher hieß die Revolution Bürgerkrieg. Und der „Bürgerkrieg” schien früher ein widersinniger Unterfall des Krieges. Aber wir ziehen es heut vor, auch im Krieg das Revolutionäre zu erkennen. Denn die Revolution ist mehr als ein Bürgerkrieg. Sie ist ein Gärungszustand der ganzen Welt, der unter anderem auch Kriege gebiert. Wir sind zu dieser Umwertung gezwungen, sobald wir Weltgeschichte oder auch nur europäische Geschichte treiben wollen. Denn Kriege werden von den zwanzig oder fünfzig verschiedenen Staaten in unabsehbarer Zahl erklärt und geführt. „Revolution” aber ist sparsamer; viele Kriege können aus einer einzigen Revolution wie der französischen entspringen. Revolution deutet also auf eine Art Geschichtsökonomie und auf einen Sinn in allem Blutvergießen. Die Revolution führt die ermüdende Zahl der Feldzüge auf ein geordnetes Weltgeschehen im ganzen zurück.

Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, 1931, dritte Ausgabe 1960, S. 3

Um diese vier eigentlich letzten Töne reifen zu lassen, hat es eines langen Weges bedurft. Er ist mit den acht weiteren Tönen des Geistes bezeichnet, die hier in der biographischen Reihenfolge

1 Heiße,
2 Lies,
3 Diene,
4 Singe,
5 Zweifle,
6 Kritisiere,
7 Protestiere,
8 Harre

vorgestellt werden

1 Heisse: Die preußische Herkunft des Kindes aus einer emanzipiert jüdischen Familie verdeutlicht Arbeitskraft und Nichtgehörtwerden als Schicksal von Anfang an.

Während meiner letzten Schuljahre wurde dieses Wühlen in Geschehnissen und Wörtern – alles Sprachliche berauschte mich – allmählich ergänzt durch meine ersten Versuche echten Schaffens. Das Leben eines römischen Schurken, des Publius Clodius Pulcher, wurde verfaßt als Werk der „Valediktion” an mein Gymnasium, ein Tribut, wie er an gewissen alten humanistischen Anstalten jeweils von einem oder zwei Vertretern des Jahrgangs der alma mater geliefert wird. Dieses mein erstes längeres Buch enthielt gewiß keinen Satz, für den die alte Quelle nicht von mir gefunden und nachgewiesen war. Und ich machte eine Anzahl von einschlägigen Entdeckungen. Sie liegen noch unentdeckt in dieser Monographie, die in einigen Abschriften in den Regalen der Bibliothek des Joachimsthaler Gymnasiums begraben wurde, nachdem der Direktor einige passend Worte der Anerkennung gesagt hatte. Da dieser Mann einer der hervorragenden Kenner Ciceros war und da Clodius der größte Feind Ciceros gewesen ist, hielt meine Enttäuschung über dieses 5-Minunten-Interview lange an. Aber „travailler pour le roi de Prusse” ist das Schicksal, durch das ich meine preußische Herkunft am längsten bezeugt habe.

Ja und Nein, Autobiographische Fragmente 1968, S. 151f.

2 Lies: Außerordentliche Belesenheit und gründlich auffassendes Gedächtnis sowie den über die gewohnten Einteilungen hinausdrängenden geschichtlichen Horizont belegt folgendes Zitat aus der Dissertation

Schon 818 heisst es aus Baiern, Graf und Bischof seien zusammengekommen, die Totschlagssühne durchzuführen, „um schlimmeres zu verhüten”. Hier ist offenbar für die freundschaftliche Vermittlung ein weites Feld eröffnet. Und so haben wir es uns zu erklären, wenn alle Zusammenkünfte der Grossen, Synoden, Festversammlungen und auch die communia placita den schiedsgerichtlichen Gedanken zu verwirklichen trachten. Anmerkung: Wir können die Ansammlung zahlreicher Grosser in St. Gallen, Lorsch und anderswo nicht sicher als „Provinzialversammlung” bezeichnen. Aber einmal sind diese Konvente nicht so häufig, etwa bei jedem kirchlichen Fest, sondern relativ recht vereinzelt, und ferner wird wenigstens die eine oder die andere Zusammenkunft sicher auch gerichtlichen Charakter angenommen haben. Daher nenne ich einige hervorstechende Fälle. / Schon 11. April 786 bei einer Schenkung aus der Bertodsbara vier Grafen in St. Gallen. Württemb. Urkb. I, S. 33, No. 32./ 24. Oktober 834 Landverkauf an Werden, drei Grafen, dann „signum hrotsten”. Dieser Rotstein heisst in der Ueberschrift einer Schenkung, die er 815 macht, comes, in der Urkunde selbst aber ebensowenig wie hier, so dass sein Stand zweifelhaft bleibt. Vgl. Lacomblet I, No. 46, S. 22./ 1. Oktober 877 drei Grafenzeugen in Lorsch. MG. SS. CXXI, 373 = Cod. dipl. Lauresh. I, Nr. 40, S. 77./ 2. Januar 856. Drei Grafen in Fulda, Dronke nr. 565. Interpoliert; vgl. Foltz: Forschungen XVIII, S. 508. – Vgl. ferner die gerichtliche Form auf der Synode zu Münster a. 889 bei Erhard, Codex dipl. hist. Westf. I, nr. 40 = Wilmanns, Kaiserurkk. Westfalens 1, S. 528. Und dazu Hilling im Archiv f. kathol. Kirchenrecht 79 (1899) S. 208. Über die gerichtliche Form kirchlicher und anderer Versammlungen überhaupt: Dove, Zeitschrift für Kirchenrecht V, S. 4, Anm. 4 Vgl. Waitz IV/2, S. 497.

Landfriedensgerichte und Provinzialversammlungen vom neunten bis zwölften Jahrhundert, 1910, S. 15f.

3 Diene: Das Professorenbuch von 1914 stellt Methode und Entdeckung radikaler Veränderung am Beispiel mittelalterlicher Forschung dar.

Oder wird es gelingen, durch den Einblick in das Räderwerk des Ganzen mindestens dem Tadel einer willkürlich aus dem Zusammenhang gerissenen Einzelheit fortan zu wehren? Wir würden dann immer noch das Ganze als unvollkommen, aber mindestens keines seiner Organe als krank bezeichnen dürfen./ Versuchen wir, den Rechtsbegriff des Hauses unsererseits als einen notwendigen Wert in die Volksverfassung jener Zeit einzusetzen. Als Gemeindemitglied zählt der einzelne, weil er zu einem Geschlecht, zu einer Sippe gehört. Wer die Waffen tragen kann, rechnet als Streitgenosse dieses die Waffen zu Schutz und Trutz führenden Verbandes. Muß nun die so aus Sippen gebildete kleinere odergrößere Gemeinde einen Einzelnen aus ihrer Mitte herausstellen zu besonderem Amt als dauernder Anführer und Oberster im Volke, so kann sie seine Amtstätigkeit nicht in so vollendeter Vereinzelung ergreifen, wie das etwa uns beim modernen Beamten geläufig ist. Indem nämlich die neue Würde den Mann allerdings über seine Sippe hinaus hebt, wird doch aus ihm selbst nicht nur eine Amtssphäre herausgeschnitten, sondern der Erhobene bleibt weiter in seinem Haus und Hof als Hausvorsteher. Wir können das jetzt an der Hand der von uns gewonnenen Ergebnisse anschaulich machen: Der König aus neuem Geschlecht wird in alte Zeit von der Landsgemeinde unter freiem Himmel auf den Schild erhoben. den Sohn hingegen hebt das Hausgesinde auf den Thron. Entsprechend wird auch in merovingischer Zeit der Hausmeier bei der Thronbesteigung der Königssöhne tätig, Pippin aber, der karolingische Stammvater, vom Volke der Franken erhoben. Denn der Thron steht nicht einsam außen auf der Dingstatt, sondern er ist der Hochsitz im Hause. Das Haus des Königs und sein Bereich heißt mit besonderem Nachdruck das „Reich”. Aber dieses besondere Wort bedeutet nur einen Gradunterschied, und keinen der Art nach, in welchem das königliche Haus zu dem Hause jedes anderen Volksrichters stände. Das Haus jedes anderen Herren wird ebenso wie das seine auf Volksland, Salland, errichtet; es bleibt ebenso wie da seine von der Geschlechtserbfolge ganz unberührt. Wenn aber hier der starke Verband der Sippe nicht Zutritt erhält, so folgt daraus, daß diesem Herrenboden die Funktion in einem Kreise zukommt, der nicht einzig durch sein Zurückbleiben hinter dem Umfang der Sippe, durch ein bloßes „Minus” charakterisiert werden darf. Und doch sieht man bisher das auf die Deszendenten beschränkte Erbrecht am Handgemalsgut des adligen Mannes als den Ausdruck einer bloßen Verengung des Geschlechtsbegriffes an, als würde dadurch plötzlich die Sippe aus einem ihr sonst doch schlechthin untergeordneten Bezirk, nämlich dem des Hauses, durch unerklärte Gründe verbannt; man glaubt damit an eine rätselhafte Tyrannei des kleineren über den größeren Verband. Drückt das Handgemal hingegen eine Funktion seines Inhabers in der Gemeinde aus, so erklärt sich die Kraft zum Ausschluß der Sippe; sie stammt eben nicht aus dem Verband, der schwächer, sondern aus dem, der mächtiger ist als die Sippe.

Königshaus und Stämme 1914, S. 389

4 Singe: Der völlig eigene Ton, der nur bei persönlicher Beteiligung des Lesers Verstehen schafft, erklingt als Frucht der Erfahrung des Ersten Weltkrieges.

Wir sagen es uns nicht, denn wir können das Wesentliche nicht mehr laut sagen. Alles Laute ist unerträglich geworden. Fast ist uns die gegliederte Sprache schon zu abgegriffen. Wir suchen eine Sprache, die nicht mehr gesprochen zu werden braucht, um uns in sie einzuhüllen./ Es ist nicht ein leeres Schweigen, das wir suchen. Möchten wir doch zueinander; müssen zueinander./ Es müßte ein erfülltes Schweigen sein, das uns umfaßt, das uns zu einem gemeinsamen Reigen verschlingt, damit wir nicht tot dastehen wie Statuen, sondern leben, damit wir nicht sprechen und hören müssen und dennoch klingen./ Wir sagen es uns nicht. Denn wir zittern daran zu denken: Wir möchten vergessen, daß unser Herz krank ist und zu Tode getroffen. Wir können nicht mehr. Den Männern ist das Herz gebrochen. Woran auch ihr Herz hing, so ist keiner unter den heimgekehrten Feldgrauen, der nicht krankt wäre und zerstoßen./ Tretet leise auf; flüstert; Deutschland ist ein großes Krankenzimmer. Seine Männer treten nicht mehr mit leuchtendem Auge begeistert ins Freie. Jeder laute Ton zeugt von Entartung heute. Es ist schlechtes Volk, das heut kraftvoll sein Geschäft betreibt und losbricht zur Arbeit mit schäumender Kraft: Schieber sind es, ob nun in Wissenschaft, Politik oder Künsten oder Handel. Gewaltsam zerstoßen sie die zarte Trübung, die uns umschleiert. Sie allein schützt uns. Wir bergen uns unter ihr, die wir nicht Kriegsgewinnler, sondern Kriegsverlierer zu sein empfinden./ Aber dieser Schleier vor unserem Blicke ist doch auch ein Zeichen unseres gebrochenen Auges. Wir müssen es uns sagen: Wir Männer sind krank. Wir alle sind krank, ob wir Pastoren sind oder Priester, Unteroffiziere oder Generäle, Arbeiter oder Ingenieure, Künstler oder Gelehrte. Mögen wir daran denken oder mögen wir uns betäuben und verleugnen: ein Wurm nagt an unserer Wurzel./ Wie könnten aber Kranke sich selber heilen? Wo ist denn noch frisches Blut, das zum Herzen strömen könnte, als seien wir neugeboren? Männer können die Ärzte nicht sein. Wenn sie uns nahen wollten, wir müßten sie zurückweisen; denn sie litten also nicht wie wir. Wir verlangen aber von jedem Manne dieses Jahrfünfts, Narben und Blutverlust. Wir können niemanden ertragen, der mit ungebrochener Tonstärke einhertrompetet, wo wir auf Zehen gehen und flüstern./ So wäre Deutschland nur ein großes Spital, von feindlichen Häschern bewacht, in dem wir langsam dahinsiechen?

Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution, 1920, S. 270f.

5 Zweifle: Die entscheidende Entdeckung Rosenstock-Huessys ist die, daß es zwischen Subjektivität und Objektivität, Skylla und Charybdis, für den leidgeprüften, aus dem Weltkrieg heimkehrenden Odysseus zwei andere Formen der Anteilnahme an wirklichem Geschehen gibt: Präjektivität und Trajektivität. Das heißt, allem Subjektiven geht im Zweifel der Ruf nach einer Zukunft voraus (Präjektivität) sowie aller Objektivität die Mitanwesenheit der hörenden Mitmenschen (Trajektivität).

Zwischen den Worten einer Erzählung und den Begriffen einer Theorie pflegt in Deutschland ein eben solcher abgrundtiefer Sprung im geistigen Mittel zu liegen wie zwischen der mathematischen Formel der Relativität und der Beobachtung der Sonnenfinsternis in der Antarktis. Also bedarf jener Abgrund derselben ausdrücklichen Überbrückung im bewußt hinzugefügten und vorgeführten Versuch, wie sie diesem heute schon zu teil wird. Ich erinnere an den Spruch: „nicht so sehr die Menschen, die man versteht, die man zu behandeln versteht, fühlen sich verstanden.” Er drückt jene Spannung, in der der Soziologie verharren muß, aus, da er in keinem Augenblick der Forschung sich aus dem geistigen Stromkreis des Volkes herauslösen oder für herausgelöst halten darf, und trotzdem über dies selbe Objekt seiner Forschung als denkendes Subjekt sich erheben soll./ Deshalb also schien die ausdrückliche Sicherung durch die Mitarbeiterschaft des Herrn May unerläßlich, da sie dem Verfasser und dem Leser die volle geistige Mitanwesenheit und Mitgegenwart des Objekts, von dem die Rede ist, des Arbeiters, aufzwingt./ Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob alle oder die meisten Arbeiter so denken wie Herr May. Es kann auch nicht darauf ankommen, viele oder doch mehrere Arbeitererzählungen hier zu vereinigen (was den Leser nur ermüden würde). Nicht die eigenen Urteile und Standpunkte des Herrn May an sich sind wichtig, die könnten auch entgegengesetzt lauten; sondern der Leser hat eine Kontrolle dafür, ob in den zahlreichen Tatsachen seiner Erzählung als Erzählung dieselben Fragen und Antworten drinstecken, die meine Untersuchung aufwirft. Soweit sich seine Biographie und mein Problem nicht decken, bleibt die Lebenswichtigkeit meines Problems zweifelhaft. Denn dann ist eben nicht nachgewiesen, ob die von mir erteilten Fragen wirklich die Arbeiterschaft in ihrer Lebenserfahrung treffen. Es kann auch dann noch alles wahr sein, was ich sage. Aber es fehlt dann der Boden, auf dem man diese Wahrheit kann erwachsen sehen.

Werkstattaussiedlung, in Verbindung mit Eugen May und Martin Grünberg, 1922, S. 14

6 Kritisiere: Jedes geschichtliche Ereignis fordert ein neues Recht, und so steht seit dem Ersten Weltkrieg eine Erneuerung des Rechtslebens an.

Indessen die Vorstellungen des industriellen Rechtslebens heben an, auf andere Rechtsgebiete überzugreifen. Gebilde des Handels und des öffentlichen Lebens lassen sich heute mit dem Geist der Industrie sättigen. Deutschland wird heute geistig industrialisiert./ Ob es zur Bildung eines besonderen Industrierechtes kommen muß, kann dahingestellt bleiben. Die Fülle der Rechtsmaterialien um eine weiter zu vermehren, könnte nur im Notfalle befürwortet werden. Unsere Betrachtung geht in anderer Richtung. Es könnte nämlich sein, daß aus dem Wesen der Industrie Rechtsvorstellungen und Rechtsgüter in den Vordergrund drängen, die geeignet sind, eine Anzahl zerspaltener, fragmentarischer Rechtsgebiete zusammenzuschließen. Industrie heißt Kraftwirtschaft. Industriewirtschaftliche Mächte und Kräfte sind daher etwas anderes sowohl als Personen wie als Sachen, etwas anderes als Rechtssubjekte und –objekte, etwas anderes als Waren und Kapitalien. Mächte und Kräfte, so habe ich es einmal ausgedrückt, haben nicht Ansprüche und sind doch auch nicht Gegenstände. Sie funktionieren unter „Bedingungen”./ auf der höheren Stufe der Kräftevereinigungen wiederholt sich dieser Unterschied. Kräftevereinigung ist Macht. Kräftevereinigungen sind also Mächte. Mächte sind etwas anderes denn Personalgesellschaften sowohl als Kapitalgesellschaften. Mächte sind nicht dasselbe wie juristische Personen und ebensowenig sind sie Gesamthänderschaften. Kräfte und Mächte haben ihre Zeit. Die juristische Person ist unsterblich; Waren und Geld als solche scheinen zeitlos, sie bleiben liegen. Kräfte brauchen in erster Linie Zeitbahnen, auf denen sie ablaufen, sich auswirken und aufbrauchen. Kräfteordnungen sind zeitliche, nicht räumliche Ordnungen. Die Gesichtspunkte eines Industrierechts anwenden bedeutet also, die Ordnung der Kräfte, ihre Zeitbahnen, Rechtslagen in den Vordergrund rücken.

Vom Industrierecht, 1926, S. 12f.

7 Protestiere: Leben, Lehre und Wirken Jesu Christi erscheinen in neuem Licht und machen Leben, Lehre und Wirken der Kirche für uns, die wir in der Gesellschaft leben, zum Alten Testament.

Und so fassen ja die Evangelien auch alle sein öffentliches Wirken. Nicht was er sagt, sondern wann, wo, wem er es sagt, verrät ihrer Überzeugung nach den besonderen, jenseits der Lehre liegenden Charakter seiner Funktion. Der kleinste Zug an ihm bedeutet etwas in dem Prozeß seiner Offenbarung. Hier sind wir weder im Privatleben eines Menschen noch im Geistesleben eines Denkers. Denn wo das Leben nicht mehr spielen und unter der Hand sich wandeln kann, da ist es starre, unumkehrbare Aktion, weltlich sichtbare „Handlung” geworden. Verwirklichung ist keine Sache der Innerlichkeit mehr, sondern der Entäußerung und auf die Mitwirkung der Welt angewiesen. Es ist ein politisches Dasein und untersteht den Gesetzen der Politik./ Das große an diesem öffentlichen Wandel besteht denn auch aus lauter Welttatsachen, aus lauter harten objektiven Brocken: daß Johannes ihn tauft, daß die Jünger reagieren, daß Lazarus aufwacht von den Toten, daß Judas ihn verrät, daß die Römer ihn kreuzigen, daß Josef von Arimathia ihn begräbt. All das sind Aufgaben nicht für Biographen seiner Seele oder Systematiker seines Geistes, sondern für Historiker seines Schaffens und Wirkens. / Dadurch allen wird ja die Gottessohnschaft glaubhaft und glaubwürdig, daß sich die Welt in sein Leben einfügt. Alle diese Fügungen verwirklichen das Bild, das Jesus von sich und der Welt in sich trägt. Die gehorsame Mitwirkung der weltlichen Mächte alle an seiner Bahn bestätigt ihn; nichts Eigenes bleibt ihm zu tun, als diese Mächte auf sich zu ziehen. Die Welt wächst, fällt, stürzt auf ihn zu, bis sie das Kreuz auf ihn gelegt hat. Er zieht und reißt sie förmlich an sich, nur indem er ihrer harrt.

Das Alter der Kirche zusammen mit Joseph Wittig, 1927/28, I, S. 127

8 Harre: Eugen Rosenstock-Huessy verließ im November 1933 beizeiten das Deutsche Reich, wanderte nach Amerika ein und durchlebte von dort aus ein ständig neues Eintreten des Todes in seiner Anteilnahme am Zweiten Weltkrieg.

Die Geschichte des Christentums, beides, im Leben des einzelnen Christen und im Leben der Menschheit, ist ein ständig neues Eintreten des Todes und der Auferstehung seines Stifters. Nur durch diesen großen Schrei „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen” wurde Jesus unser Bruder. Jeder von uns ist zu Zeiten bankrott; weil Er die Macht seines Geistes für einen Augenblick aufgab, schuf Er seine Gleichheit und Übereinstimmung mit allen Menschen. Tausende Jahre später gründete Anselm von Canterbury die neue Wissenschaft der Theologie mit einem ähnlichen Ruf zu Gott: „Was soll dein Diener tun, verbannt so fern von dir?” Und in der jüngsten Vergangenheit wurde der große christliche Weise, Baron von Hügel, nicht müde auszurufen, daß der Glaube ein unterbrochener Prozeß sei. Das Christentum beruht auf der Erfahrung, daß unser Verstand so sterblich ist wie die Zellen unseres Körpers. Der Glaube kann nicht leben, wenn er nicht unterbrochen wird: diese bittere Wahrheit gibt dem Tod den Platz, der ihm in unserem Glauben gehört: als Träger neuen Lebens. / So ist jede christliche Gemeinschaft oder Bewegung das Ergebnis gemeinsamer Tränen, die angesichts eines Bankrotts in der Gemeinschaft der die Niederlage überlebenden Herzen vergossen werden. Welche neuen Formen von Tod und Auferstehung die gegenwärtige Zeit von uns fordert, werde ich mit größter Zurückhaltung versuchen in späteren Kapiteln zu erörtern. Die potentiellen Christen der Zukunft werden nicht irgendeiner bekannten Ordnung des christlichen Lebens folgen, und ich zittere vor der Aufgabe, von ihnen zu sprechen, von diesen neuen Gefährten des Atlas, die wieder den Himmel auf Erden tragen müssen.

Des Christen Zukunft, englisch 1946, deutsch 1955, S. 113f.

Alle zwölf Worte wollen symphonisch gehört werden, also zusammen als das EINE Wort, das ein Menschenleben sein und hinterlassen kann.

Die Verständlichkeit, die in dem Einswerden bewährt wird, erschließt sich, wenn alle Töne von rückwärts gelesen werden, wie bei den Tönen 9-12 hier schon vorgestellt.

Wie Jesus ja im Johannesevangelium die Umkehrung der Begründung gestiftet hat: Und im Vorübergehen sah Jesus einen Mann – blind von Geburt an. Und seine Jünger fragten ihn und sagten: Rabbi, wer hat gesündigt: Der oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde? Antwortete Jesus: Weder er hat gesündigt noch seine Eltern, sondern die Werke Gottes sollten an ihm zum Vorschein kommen. (Johannes 9, 1-3, verdeutscht von Fridolin Stier)

Zusammengestellt von Eckart Wilkens, Köln, 12./13. November 2008

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