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Mitteilungen 2024-08

Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft e.V.

„Wir erlösen aber diese Vorgänge nun aus ihrer Isolierung. Denn alles Sprechen, Hören, Denken, Vernehmen ist gar nichts anderes als Sublimieren und Kompensieren. Wir lernen sprechen, um nicht von den baufälligen Wänden unseres leiblichen Milieus erschlagen zu werden. Jedes Wort ist in gewissem Sinne lebensrettend. Denn wer nur eine leibliche Mutter oder Heimat hätte, ohne die Namen „Mutter“ und „Heimat“, dem könnten sie nie aus einer erweiterten oder erneuerten Welt wiedergeschenkt werden! Aber das Kind, das von seiner Mutter bei seinem besonderen Namen gerufen worden ist, gehört nun in den weiteren Sprachmantel, in die Matrix der Muttersprache, und so wird unter dem Kreuz der Mutter ein neuer Sohn geschenkt, um nur ja die volle Ernennungskraft des Logos, der Sprache, allen nach dieser Stunde Lebenden mitzuteilen. So kann also jedes Menschenkind sich seines bloß angeborenen Selbst bemächtigen, sobald es sich auf den Gott der Nennkraft und des Ernennungsvermögens einläßt und in seinen Schoß aus dem Mutterleib hinüberwechselt. Anders als den Tieren wird uns diese Einlassung durch die Verfrühung der leiblichen Geburt auf gezwungen. Oft hat es Staunen erregt, daß jeder Mensch sich selber gegenübertreten könne. Ich habe mit eigenen Ohren den Affenpsychologen Wolfgang Köhler den heißen Wunsch äußern hören, die Zeit zu erleben, wo der Denker seine eigene Gehirnoperation bewußt beobachten könnte. So ganz will der Gelehrte das Objekt-werden und zugleich Subjekt-bleiben voll auskosten. Der Köhlersche Wunsch ist absurd. Aber an diesem Grenzfall eines durchaus nicht wünschenswerten Wunsches wird der Einlassungszwang des Säuglings auf den Sprachenschoß deutlich. Nur dieser Schoß ermächtigt uns, mit unserer leiblichen Geburt „fertig zu werden“. Denn er wirft uns vor unsere Geburt in alle schon gesprochene Sprache. Das gilt von jedem Menschen, jedem Adamskind. Dazu tritt seit dem zweiten Adam eine polare Sprachkraft der Neubenennung. Als bloße Schoßkinder der Sprache könnten wir nur wiederholen. Aber seit 1954 Jahren beanspruchen wir auch selber, Tod und Leben über unsere Umwelt zu verhängen. Wir urteilen und wir erschaffen die nächste und die nächste Umwelt mit dem guten Gewissen des um seine endgültige Bestimmung wissenden Geschöpfs. Den Neugeborenen empfängt also durchaus nicht nur die Hülle eines vergangenen Erbes oder eines heutigen Zeitgeistes. Nein, er wird auch durch den Namen der christlichen Zeitrechnung über sein leibliches Ende hinausgeworfen: er kann auch vom Ende aller Zeiten her sein heutiges Dasein umstimmen. Der erste Schöpfungstag und das Ende der Zeit sind beide zu seiner Verfügung gestellt, weil der Logos nicht nur vom Schöpfer der Welt ererbt wird, sondern auch und ebenso dem erst noch kommenden Gott, dem Heiligen Geist, entspringt.” Eugen Rosenstock-Huessy, Dich und Mich (1954)

Vorstand/board/bestuur: Dr. Jürgen Müller (Vorsitzender);
Thomas Dreessen; Sven Bergmann; Dr. Otto Kroesen
Antwortadresse: Jürgen Müller, Vermeerstraat 17, 5691 ED Son, Niederlande,
Tel: 0(031) 499 32 40 59

Mitteilungen Dezember 2023

Inhalt

  1. Einleitung - Jürgen Müller
  2. Ohne Erinnerung keine Zukunft: Der Argonaut Gardner - Thomas Dreessen
  3. Gardners Thesen - Clinton Gardner
  4. Intellektuelle Konstruktion und Lebendige Erfahrung - Otto Kroesen
  5. Oligarchii post portas - Sven Bergmann
  6. Die Wiederkehr der Stämme - Sven Bergmann
  7. Jahrestagung 11.10. - 13.10.2024 - Jürgen Müller
  8. Mitgliederversammlung 13.10.2024 - Jürgen Müller
  9. Tagungsort und Anmeldung - Thomas Dreessen
  10. Adressenänderungen - Thomas Dreessen
  11. Hinweis zum Postversand - Thomas Dreessen


1. Einleitung

Liebe Mitglieder und Freunde,

Thomas Dreessen stellt Clinton Gardner vor. Dieser hatte sich auf Ratschlag Rosenstock-Huessys mit russischen Religionsphilosophen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts befasst und Austauschprogramme zwischen den USA und dem sich öffnenden Rußland aufgebaut. Als Frucht seiner Arbeit schlug er eine neue gemeinsame Philosophie für Solowjow, Berdjajew, Bulgakov, Florenski und Rosenstock-Huessy vor. Einen weiteren Text: Rosenstock-Huessy in Russia & Iran von Gardner finden sie auf unserer Website.
Otto Kroesen geht Hans Ehrenberg und seinen beiden Büchern: Östliches Christentum 1 nach und arbeitet heraus, was Ehrenberg als gegenseitige Befruchtung von östlicher und westlicher Welt sieht und mit den Worten: Europäisierung Rußlands und Russifizierung Europas beschreibt.
Sven Bergmann stellt eine neue Biographie Clodius Pulchers vor mit dem sich Rosenstock-Huessy als Schüler befasst hatte. Desweiteren stellt er angesichts neuer Publikationen von Karl-Heinz Kohl, Klaus Theweileit und Charles King, den Wert der Arbeiten Rosenstock-Huessys zu Stämmen und den 4 Antiken heraus.
Zu unserer Jahrestagung und Mitgliederversammlung unter dem Thema: „Haben wir das Friedenschließen verlernt? Die Lektion Rosenstock-Huessys für ein friedliches Miteinander” laden wir Sie herzlich ein.

Jürgen Müller

2. Ohne Erinnerung keine Zukunft: Der Argonaut Clinton C. Gardner

Ende der 1970ger. Jahre war das Gespräch zwischen USA und der Sowjetunion fast verstummt. Raketenaufstellung stand an in Europa und besonders in Deutschland.

Da machte sich unser amerikanisches Vorstandsmitglied Clinton C. Gardner (1922 – 2017) auf Leningrad und Moskau zu besuchen. Er wollte Brücken bauen, um beizutragen zur Verhinderung des Atomkrieges. Er wollte mehr: einen Frieden stiften.

Heute will ich Ihnen diesen Menschen vorstellen: Wer er war und was er erreicht hat? Ein Argonautenleben.

1922 wurde Clinton C. Gardner in New York geboren Als Jugendlicher hatte er, angeregt durch seine Eltern am Exeter College Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ kennengelernt. Er identifizierte sich mit Aljosha Karamasow. Schon früh -1937 -gewöhnte er es sich an, ein Tagebuch zu führen. Er nannte es „morning notes“ - „Not only a diary, but ideas about religion and life.”2 Seine späteren Bücher erzählen auf dieser Basis die Lernwege eines Menschen auf der Suche nach Gott, nach einem Gott nicht der Fundamentalisten und auch nicht der Philosophen- sondern im Leben der Menschen und Völker.

Ab 1940 besuchte Gardner das Dartmouth College, und lernte dort Eugen Rosenstock-Huessy kennen. Dieser Lehrer faszinierte ihn, denn er redete in neuer Weise von Gott und den Menschen auf unserem Planeten. Es sollte ein lebenslanges Lehrer-Schüler und Freundschaftsverhältnis werden. Seine Schwester heiratete Hans Huessy, den Sohn von Eugen und Margret Rosenstock-Huessy. Als Eugen Rosenstock-Huessy 1941 mit Unterstützung des US Präsidenten Roosevelt und dessen Frau Eleanor das Camp William James in Vermont ins Leben rief, hat Gardner begeistert mitgemacht und auch das Sekretariat geführt. Es galt ein „Moral equivalent of War“3 zu leben um den Krieg zu überwinden. Vorbild dafür waren die freiwilligen Arbeitslager für Bauern, Studenten und Arbeiter die Rosenstock-Huessy mit Helmut James von Moltke und vielen anderen in Schlesien ins Leben gerufen hatte.

1942 entschloss er sich als Freiwilliger in die Armee einzutreten, um Hitler zu bekämpfen. Am 6. Juni 1944, dem D-Day wurde er fast getötet.
1945 diente er als Kommandant bei der Auflösung des KZ Buchenwald.
Zwei Erfahrungen aus dieser Zeit bestimmten sein weiteres Leben. Im Haus des Lagerkommandanten entdeckte er eine Familienbibel in der Kommandant H.Pister sorgfältigst die Namen und wichtigen Momente seiner Familie eingetragen hatte: Geburten, Heiraten, Tode. Nach dieser Entdeckung im Lager war das alte Gottesbild (s.o.) endgültig gestorben. „Ich fühlte, als ob eine tausendjährige Ära zum Ende gekommen war. Christenheit mag eine Zukunft haben, aber nicht als vom Staat gesponsortes all-mächtiges Christentum … “4 Er verstand was Rosenstock Huessy erzählt hatte, dass die verschiedenen Teile der Gesellschaft nicht zueinander sprachen.

Die Russen bildeten die größte Gruppe unter den 19.000 lebenden Lagerinsassen. Seine zweite Lebensfrage aus diesen Gesprächen war, dem Archipel Gulag und der russischen Seele nachzuspüren: Er wußte, er würde Russisch lernen.

Zurück in Dartmouth begann er Russisch zu lernen und belegte alle Kurse bei Eugen Rosenstock-Huessy. Außerdem gründete er den Russischen Klub. Dort stellte sich heraus, daß Eugen die russischen Philosophen des Silver Age kannte und schätzte. Gardner hat für Eugen Hans Ehrenbergs Die Russifizierung Europas ins Amerikanische übersetzt5. Eugen riet ihm Solovjov und Berdjajew zu studieren. Rosenstock-Huessy und die beiden Russen nannte Gardner „meine drei Helden“.6 Später riet ihm ERH bei Berdjajew in Paris zu studieren und schrieb ihm ein Empfehlungsschreiben. Zusammen mit seiner Frau Libby reiste er nach Paris. Leider kam es nicht zur Begegnung. mit Berdjajew, der zwei Tage vor dem geplanten Besuch verstarb.
In Paris studierte Gardner dann eine Zeit am St. Sergius Institut, das Michael Bulgakow gegründet hat, nachdem Lenin ihn und viele andere 1922 aus Rußland ausgewiesen hatte. Gardners Russisch reichte zwar für alle normalen Gespräche, nicht aber für den dortigen philosophisch - theologisch - soziologischen Jargon. Zutiefst ergriffen hat ihn dort die orthodoxe Liturgie.

1948 änderte er seinen Plan, in den diplomatischen Dienst der USA zu gehen und folgte am 4. Juli 1948 einem Ruf nach Berlin. Er leitete für ein Jahr die Neue Zeitung für Deutschland, die die USA herausgaben. So erlebten er und seine Frau die Blockade Berlins und die Luftbrücke. In Bezug auf Rußland erinnerte er sich an seine Übersetzung des Ehrenberg Buches und seinen eigenen Artikel: Between East and West- Rediscovering the Gifts oft the Russian Spirit.7

Zurück in den USA wurden Clinton und Libby Gardner als Unternehmer tätig. Sie eröffneten erfolgreich einen Handel mit handwerklichen Gegenständen aus aller Welt. Vielleicht eine frühe Form der Eine-Welt-Läden. So kamen sie weit herum auf dem Planeten und hatten freie Zeit für weitere Studien der drei Helden und mehr.
In Norwich haben die Gardners in der Nähe von Rosenstock-Huessys Haus ihr Haus aufgebaut. Dort gründeten sie Gesprächskreise zum Gottesbild der drei Helden. Er nennt es pan-en-theistisch. Bischof Robinson, Harvey Cox und andere prägten in den 1960ger Jahren die Diskussionen in USA, inspiriert durch Bonhoeffer, Tillich und Rosenstock-Huessy.
Damals, so stellte Gardner fest, sagten ihm leitende Vertreter der Kirche in Deutschland, daß diese drei für das 3. Jahrtausend wichtig seien.
Sie bauten den ARGO Verlag mit Freya von Moltke zur Neuausgabe von Büchern und Schriften Eugen Rosenstock-Huessys auf.
Als Vorstandsmitglied unserer Gesellschaft bat Gardner 1962 Bonhoeffers Schwester Sabine Leibholz-Bonhoeffer über das Verhältnis von Dietrich Bonhoeffer und Eugen Rosenstock-Huessy zu schreiben. Sie tat es und dieser zukunftsweisende Text ist vielen bekannt geworden.8

Als Ende der 1970ger. Jahre der Kalte Krieg zu einem Heißen zu werden drohte9, gaben die Gardners ihren Laden auf. 1979 reiste C. Gardner mit der Frucht seiner Studien, seinem Manuskript Rediscovering Russian Spirituality, zum 1. Besuch nach Moskau und Leningrad.
Er wollte Vertrauen stiften und werben für Brückenbauen zwischen Bürgern aus USA und Rußland. Citizen Diplomacy sei nötig, wenn die Regierungen nicht miteinander sprechen. Der Mann und sein Manuskript begeisterten. Hunderte Exemplare wurden als Samisdat in der Sowjetunion weitergegeben. Später wurden in 2 Auflagen 6000 Exemplare gedruckt. Begegnungen in USA und der Sowjetunion fanden auf beiden Seiten viele hundert Teilnehmende. 1984 veröffentlichte Gardner die Letters to the Third Millennium in dem er von seinen Erfahrungen berichtete und feststellte, daß Rußland nicht das Problem, sondern Teil der Lösung sei.10 Er selber stellt 1988 selbstbewusst fest, dass sie beigetragen haben zu dem Politikwechsel der Regierung Reagan, der ja die UdSSR als „Das Reich des Bösen“ dämonisiert hatte. Der Kalte Krieg war zu Ende. 1989 veröffentlichte Gardner sein Handbook for Citizen Diplomats und widmete es dem großen US Diplomaten George Kennan.
Sowohl die orthodoxe Kirche als auch Gorbatschow als auch die UCC (United Church of Christ) und viele Amerikaner haben dieses Projekt sehr geschätzt. Gardner spricht von 100.000 US-Amerikanern und 80.000 Russen.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR gründeten Gardner und seine russischen und amerikanischen Freunde die Solovyov Gesellschaft neu, die von Bulgakov 1905 gegründet worden war und 1922 erlag. Schon vorher gab es russische Übersetzungen von Texten Rosenstock-Huessys (Out of Revoution – Autobiography of Western Man uam)11.

Nach dem 11. September 2001 gründet er mit Freunden Building Bridges MEUS (Middle East-US) und eröffnete die website Transnat.

2004, also zu einer Zeit, als sichtbar und hörbar die Kräfte des Kalten Krieges wieder überhand gewannen, veröffentlichte Gardner sein eindrückliches Buch D-Day and Beyond in der Hoffnung, dass neue George Kennans auftauchen werden.12

Sein letztes Buch Beyond Belief- Discovering Christianity‘s new paradigm erschien 2008. Es ist zu großen Teilen die für amerikanische und europäische Hörer bestimmte Fassung des Samisdats von 1981. Darin fasst er die Lehren seiner drei Helden und des russischen Philosophen Michail Bahtin in neue Sprache: Christianity‘s new paradigm. Bahtin nennt es Metalinguistics, Rosenstock-Huessy spricht von Metanomics.
In seinen Thesen zur Sprache in Beyond Belief fasst Gardner die russische Spiritualität und Rosenstock-Huessy zusammen und beansprucht zurecht damit der Aufgabe Wissenschaft und Religion zu versöhnen zu dienen.13
Erinnern wir uns seiner als Hoffnung für unsere Zeit: Ein Argonaut!14

Audi ut vivamus!

Thomas Dreessen

PS: Websites: Auf der website des ERH-Funds in USA wird sehr bald Gardners Internetpräsenz nachlesbar sein.

Bücher Gardners:

3. Gardners Thesen

Das dialogische Denken verkörpert im Kreuz der Wirklichkeit kann jetzt zusammengefasst werden in 10 Thesen zur Sprache:

  1. Es gibt 4 grundlegende Arten des Sprechens: a) imperativ b) subjektiv c) narrativ d) objektiv.
  2. In jeder wichtigen menschlichen Erfahrung erfahren wir alle 4 jener Arten des Sprechens in dieser Ordnung.
  3. Jede Art des Sprechens verhält sich in Richtung/zu einer verschiedenen personalen oder Gruppenorientierungen zu Zeiten und Räumen: a) imperativ in Richtung auf/zur Zukunft, b) subjektiv in Richtung unseres „inneren Raumes“, c) narrativ in Richtung der Vergangenheit, und d) objektiv in Richtung auf die/ zur äußeren Welt.
  4. Jede Art des Sprechens gehört zu einer Person der Grammatik: a) der imperativ zum „Du“; b) das subjektive zum Ich; c) der narrativ zum WIR; und d) das objektive zum ER, SIE, oder SIE (Plural).
  5. Wenn wir die Sache dieser Sprechorientierungen und grammatischen Personen prüfen, sehen wir dass sie ein Kreuz der Wirklichkeit bilden, in dessen Zentrum jede Person oder Gruppe sich selbst findet.
  6. Eine logische Folge zum Axiom des Kreuzes ist, dass seine Zukunftsorientierung die wichtigste ist; wenn wir Vokative oder Imperative hören, sind wir zur aufgefordert zu antworten.
  7. Was wir die menschliche Psyche nennen, oder Seele, ist geformt durch diese vier Lebensperspektiven, durch die „kreuzförmige“ Rede Erfahrung aufgestellt / gesetzt durch das Kreuz der Wirklichkeit.
  8. Wenn wir realisieren, daß das Kreuz der Wirklichkeit die wesentlichen Muster der Sprache in dem menschlichen Bewußtsein zeigt, können wir auch wahrnehmen daß es eine dialogische Methode für die Humanwissenschaften schafft
  9. Das Kreuz der Wirklichkeit bildet die Handlung der Hochsprache ab, der voll-artikulierten Sprache, in jeder Person oder Gruppe; solche Rede errichtet Beziehungen zu anderen, schafft Frieden, und erzählt die Wahrheit. Und solche Rede kann wahrgenommen werden als der Weg auf dem der Geist gegenwärtig und aktiv ist in Menschen. Daher können wir Sprechen/Rede den Körper des Geistes nennen.
  10. In religiösen Begriffen können wir dazu kommen, dass Hochsprache die Verkörperung dessen ist was Christen den Heiligen Geist nennen. Es folgt das der trinitarische Gott nicht etwas ist an welches wir glauben müssen; das Gott schon in uns ist, als die besondere Kraft unserer Humanität, als die Gnade die wir im Zentrum unseres Lebens finden. Die theologischen Kategorien des Vaters (Schöpfung), Sohnes (Erlösung), und des Geistes (Offenbarung) beziehen sich, respektvoll gesprochen, auf drei Arten des Sprachens/der Rede und ihre grammatischen Personen. Daher bezieht sich der Vater auf die narrative Rede und die Vergangenheit und wir; Sohn bezieht sich auf die subjektive Rede der inneren Person und Ich; Spirit bezieht sich auf die imperative Rede in Richtung auf die Zukunft und Du.

Alle 10 Thesen zusammengenommen, etablieren die dialogische Methode als einen fundamental neuen Weg des Denkens über die menschliche Wirklichkeit.
Von grundlegenden Beobachtungen über Sprache und Grammatik, und über die innere Person und die äußere Welt, schreiten sie vor zu der Verwirklichung, daß Hochsprache die Verkörperung des Heiligen Geistes ist. Wenn wir den Geist verkörpern, folgt daß wir auch den trinitarischen Gott verkörpern.

Diese Thesen präsentieren das Kreuz der Wirklichkeit als ein Bild wie der Geist in uns wirkt und Gott in uns spricht. Daher ist es ein gründlich panentheistisches Bild, eines das das aufkommende christliche Paradigma verstärkt, wie es früh beschrieben wurde von Bonhoeffer und Tillich – mehr gegenwärtig von Borg und Spong. Im nächsten Kapitel werden wir sehen wie. Diese Thesen liegen hinter der Geschichte, die Rosenstock-Huessy’s Out of Revolution uns erzählt.“

Fünf weitere Thesen Gardners (Aao 199-202) zum Verhältnis Religion und Wiessenschaft

„… Zu diesen 10 Thesen können wir nun fünf weitere hinzufügen, solche die ihr Vertrauen in Richtung auf Versöhnung von Wissenschaft und Religion fortsetzen:

  1. Der Heilige Geist als der menschliche Geist: Weder natürliche noch soziale Wissenschaft sollten einen Begriff zu der Art von Christenheit – oder Religion generell – haben, die ich hier präsentiert habe. Das Herz der Christenheit – und von aller wahrhaft inspirierten Religion – ist die Erkenntnis, daß Gottes Geist in jedem von uns lebt. Rosenstock-Huessy und seine Verbündeten sind fähig gewesen zu beschreiben, wie Gottes Geist in uns lebt, indem sie die Geheimnisse der Sprache/Rede entschlüsselten. Heute können wir den Heiligen Geist erkennen als ein universales kreatives Prinzip, die Geistes Handlung in allen Personen. Und dieser Geist, welcher einst ausgedrückt schien als göttlicher Logos, kann jetzt erkannt sein als das schöpferische Wort. Daher, wenn wir die Wunder /mysteries/ erforschen wie Sprache/Rede, das Wort, in uns wirkt, erforschen wir zugleich wie der Heilige Geist in uns wirkt/arbeitet.
  2. Der Logos ausgedrückt in aller Menschheit: Wenn wir starten auf der Basis der Anerkennung, daß Hochsprache der Leib des Geistes ist, können wir weiter realisieren daß der Logos, das Wort das im Anfang war, das Wort ist das nicht nur in Jesus Christus Fleisch geworden ist sondern in allen den Generationen vor und nach ihm. Das heißt, die Generationen unseres Glaubens reichen zurück zu denen die zuerst ihre Toten bestatteten – and sprachen oder sangen einige Worte zu ihrem Lob. Sie schließen alle Menschen guten Willens ein. Sie schließen jene ein die in Stämmen leben und dann in den großen Reichen – die Ägypter, Perser, und Chinesen. Sie schließen Muslims ein die ihren Zweck als Frieden sehen, Geradeso wie sie die Buddhisten, Taoisten, und Konfuzianer einschließen – die immer dazu neigten friedvoller zu sein als ihre Christlichen oder Muslimischen Brüder.
  3. Anthropologie oder Theosis: Seit die christliche Tradition immer erklärt hat, daß Vater, Sohn und Geist /co-equal and co-eternalised/ gleich und ewig in der Gottheit sind, ist was immer wahr ist für den Geist auch wahr für Vater und Sohn. Alle drei Personen der Trinität sind Kräfte die in uns wirken – zusammen: Daraus folgt, daß wenn wir dazu kommen zu verstehen wie die Sprache/Rede, als Geist, uns in wertvolle Personen umwandelt, lernen wir auch wie Gott als Vater und Sohn uns gleichzeitig in solche Personen verwandelt. Dies ist der Prozeß den unsere christlichen Kirchenväter als Anthropourgie beschrieben, und den die Ostkirche Theosis genannt hat.
  4. Von Theismus zu Panentheismus: Das panentheistische Verständnis Gottes ist nicht etwas Neues. Sein kürzester bester Ausdruck war St.Paulus, und es kam zur vollen Blüte in Meister Eckart. Seit Irenäus im zweiten Jahrhundert ist es das dominante Thema in der Östlichen Christenheit gewesen. Durch Solovyov, Berdyaev, Bulgakov, und Florensky, war es die charakteristische Spiritualität von Rußlands Silbernen Zeitalter. Durch Whitehead, Hartshorne, Tillich (und viele andere), fand es eine Heimat/ein Haus in den Vereinigten Staaten. Während jeder Ausdruck davon verschieden ist, schlagen sie alle vor, daß wir fähig sind und die Idee von Gott als einer unabhängigen, wissenden Entität /Wesen/ aufgeben sollten, einer übernatürlichen Macht getrennt von uns, vor uns, und über uns. Diese theistische Konzeption einer autonomen Entität, die außerhalb der Schöpfung ist, ist positiv zu zerstören – weil es unserer Realisierung wie Gottes fortdauerndes Leben in uns ist im Wege steht. Die Dauerhaftigkeit allen Lebens auf Erden, hängt an uns.
  5. Die neue Transzendenz: Das neue Paradigma der Christenheit, wie es in den vorausgehenden vier Thesen präsentiert wurde, bietet uns eine neue Vision der Transzendenz. Die alte Vision – ob in Judentum, Christentum oder Islam – war auf die Vorstellung gegründet, daß es eine transzendentale Macht gibt, eine übernatürliche Macht, die sich außerhalb des Universums, außerhalb der Schöpfung, außerhalb der Geschichte, außerhalb der Evolution, außerhalb der Menschen aufhält. Im Gegensatz dazu haben uns Rosenstock-Huessy und seine Verbündeten eine überzeugende Klarheit gegeben, daß eine transzendentale Macht wirkt im Universum, im Prozeß der Schöpfung, in der Geschichte, wirkend an der führenden Ecke der Evolution, immer gegenwärtig in Menschen. Diese Macht jedoch, ist nicht übernatürlich. Sie ist in uns gegenwärtig alle Zeit – und zeigt sich wann immer wir das Wort sagen, das zu sprechen nötig ist. Es ist die Macht der Sprache/ der Rede. Es ist das Wort ward Fleisch in der gesamten Menschheit.

Wenn wir diese fünf neuen Thesen zusammennehmen mit ihren zehn Vorgängern zur Sprache, haben wir fünfzehn fortschreitende Darlegungen, die aufeinander aufbauen. Ich behaupte daß, seit sie starten mit beweisbaren Behauptungen über Sprache/Rede, und behalten diese Basis, wenn sie sich in das Reich der Religion bewegen, bleiben sie verankert in dem Beweisbaren, im Rationalen und im Logischen. Daher sollten sie sehr akzeptabel sein für Bewußtseine geformt durch Descartes und der Aufklärung, für Bewußtseine die Wissenschaft für einen gegebenen Schlafrock halten.\ Selbstverständlich zeigt uns das Kreuz der Wirklichkeit, daß der Schlafrock der physikalischen Wissenschaft unter dem liegt das wir nur kennen über die äußere Front, die materielle Welt der Natur.

Taylor’s Frage nach den zwei Realitäten, der physikalischen und der spirituellen – und „falls Gott eins ist, wie kann dann die Realität zwei sein?“ – bettelte nach einer Antwort. Diese 15 Thesen sind die Antwort diese Buches. Sie erzählen uns, daß das Kreuz der Wirklichkeit den Schnittpunkt zwischen diesen beiden Realitäten zeigt: den physikalischen Außenraum der Welt, der von der Wissenschaft erkannt ist, und den spirituellen Innenraum der Person, die nur uns selbst bekannt ist. Dann aber geht das Kreuz weiter, erweitert unsere Vision über diesen Dualismus hinaus. Durch die Hinzunahmen der zwei Dimensionen der Zeit, zeigt es daß wir in einer vier-dimensionalen Wirklichkeit leben – und, daß wir Gottes Leben leben, wann immer wir Chronos in Kairos wenden.

Seit jeder von uns lebt im Zentrum des Kreuzes, sind unsere Leben entscheidend /crucial /, nicht nur für uns selbst aber für die gesamte Menschheit. Im Zentrum des Kreuzes gibt es keine zwei Realitäten; stattdessen werden vier Realitäten eine. Wir brauchen nicht länger zwei verschiedene Handbücher.

Rosenstock-Huessy und seine Verbündeten haben uns gezeigt, wie alles was wir wissen, verbunden ist, wie alles in Beziehungen ist, von den mehr spirituellen zu den mehr materiellen. Wie ist das Spirituelle verbunden mit dem Physikalischen? Sie überschneiden sich im Zentrum des Kreuzes, wo unsere Leiber, die im Raum existieren, wie Sternstaub, gekreuzt sind vom Geist, der in der Zeit existiert, in Kairos Zeit.

Zum Schluß, eine einfache Voraussetzung liegt hinter allen fünfzehn Schritten in der Logik dieses Buches. Es ist die Voraussetzung, daß das Sprechen/die Rede der Leib des Geistes ist. Das ist die Logik des Logos ….“

aus: Clinton C. Gardner, Beyond Belief 2008, 81f Übersetzung: Thomas Dreessen

4. Intellektuelle Konstruktion und Lebendige Erfahrung

Ehrenberg und Rosenstock-Huessy über Dogma und Gesellschaft
in Russland und Westeuropa

Zusammenfassung

Dieser Beitrag befasst sich mit der konstruktiven Verfahrenssweise des Westens im Gegensatz zur erfahrungsorientierten des Ostens, hier speziell der russischen Orthodoxie. Der Westen räsoniert und schafft einen Plan und ein Modell, das sich der Realität annähert. Die Orthodoxie, nicht nur die russische, erfährt das Wirken des Geistes und fühlt aus der Ferne das Licht, das auf sie scheint. Dies steht teilweise im Hintergrund des Konflikts zwischen Ost und West. Die westlich-konstruktivistische Haltung hat sich als Teil der westlichen Geschichte seit dem Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser entwickelt, seit dem, was Rosenstock-Huessy die Papstrevolution nennt. Um diese Entwicklung zu verstehen, ist ein breiter Blick auf die Geschichte erforderlich, ein Blick, der tausend Jahre umfasst. Forschungsergebnisse aus Theologie, Philosophie und Soziologie müssen miteinander verbunden werden. Es zeigt sich, daß ein anderes Verständnis des Trinitätsdogmas zu einer anderen Spiritualität, zu einer anderen Gesellschaftsordnung und zu einem anderen menschlichen Selbst führt. Dies ist die These von Hans Ehrenberg und Eugen Rosenstock-Huessy. Sie gehörten zu einer kleinen Gruppe, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Philosophie der lebendigen Sprache als Alternative zum deutschen Idealismus und zum angelsächsischen Positivismus einführten. Sie standen in engem Kontakt mit russischen Denkern, deren Kreativität sich an den kritischen Ereignissen der Russischen Revolution und des Ersten Weltkriegs entzündete. Denker wie Florensky, Berdjajew und andere, vertraten eine Sprach- und Gesellschaftsphilosophie, die in eine ähnliche Richtung ging. Sie alle waren davon überzeugt, dass sie am Vorabend einer neuen Ära stünden, einer Ära jenseits der traditionellen Kirche und Theologie, der Ära des Geistes, wie sie behaupteten. Diese Aussage bezieht sich auf die prekäre Situation der im Entstehen begriffenen weltumfassenden Gesellschaft, in der kein einzelner Staat oder keine einzelne Kirche mehr die letzte Kontrolle hat. Die große Gesellschaft mit ihren vielen Akteuren ist das einmalige Ereignis der Zeit, das gewaltsam durch die Weltkriege herbeigeführt wurde: Von nun an ist es an dem Netzwerk sozialer Kräfte im globalen Maßstab, Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen. In dieser Situation ist das einzige Mittel, um voranzukommen, die gegenseitige Öffnung durch: Sprache! Unter diesem Gesichtspunkt haben insbesondere Ehrenberg und Rosenstock-Huessy die kirchlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen verstanden, die in ihrer Zeit zum Ausdruck kamen. Ein wichtiger Schritt in diesen gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen ist das Große Schisma von 1054, als die östliche Orthodoxie und der römische Katholizismus einen unterschiedlichen Weg einschlugen, der in der römisch-katholischen Tradition durch den Zusatz des Filioque im Nizänischen Glaubensbekenntnis bezeichnet wird. Diese Hinzufügung war bereits in einer langen Geschichte vorbereitet worden. Sie führte darüber hinaus zu einem anderen Konzept der Natur, die nun als von einer Reihe von Regeln beherrscht angesehen wurde, die von der menschlichen Intelligenz konstruiert oder angenommen wurden. Hier ist die Debatte über göttliche Energien - von denen die östliche Orthodoxie spricht - im Gegensatz zu menschlichen Konstruktionen im Kirchenrecht und in der Theologie zu beachten. Die modernen Konzepte der Natur, des Rechts und der Ethik sind die Frucht einer ähnlichen konstruktivistischen Haltung des westlichen Geistes, wie sie bereits von der Scholastik im Mittelalter verwendet wurde. Vor allem Ehrenberg hat versucht, das daraus folgende unterschiedliche Lebensgefühl Russlands und Westeuropas zu verstehen und zusammenzuführen. Seiner Ansicht nach ist die Zeit des Auseinanderdriftens der verschiedenen Traditionen vorbei. Von nun an müssen sie sich einander annähern und öffnen, um die gemeinsame Aufgabe zu erfüllen, das nackte Eigeninteresse entwurzelter gesellschaftlicher Gruppen und Individuen mit neue Verantwortung zu bekleiden. Die entstehende Weltgesellschaft neigt dazu die Menschen zu Funktionen in der weltumfassenden Produktion zu reduzieren und verursacht Einseitigkeit und Kurzsichtigkeit. In dieser Hinsicht findet der Westen, sowohl nach Rosenstock-Huessy als auch nach Ehrenberg in ihrer Zeit, eine Gelegenheit zur Erneuerung und Neuorientierung durch die Inspiration der östlichen Orthodoxie, die den Schatz der Liebe Gottes in Christus nicht für den Aufbau einer mechanischen, bürokratischen, von Regeln und Protokollen beherrschten Gesellschaft nutzbar gemacht hat. Andererseits war es auch für Rußland an der Zeit, die Früchte der westlichen Welt in Bezug auf die Institutionen und die Organisation der Gesellschaft zu erben. Das von Rosenstock-Huessy beschriebene Gesetz der technischen Entwicklung schließlich macht diese Fragen noch dringlicher, indem es die Zerstörung lokaler traditioneller Gemeinschaften durch eine allumfassende Gesellschaft mit globalen Dimensionen aufzeigt. Es müssen neue Gemeinschaften gegenseitiger Verantwortung geschaffen werden, und dies erfordert ein neues Verständnis der Grammatik: So wie die Grammatik Verben und Wörter beugt und konjugiert, so beugt und konjugiert die Sprache, wenn Menschen sich einander öffnen, sprechen und zuhören, die menschlichen Subjekte selbst. In diesem Prozess entstehen neue Bindungen, neue Gemeinschaften, die der Instrumentalisierung von Menschen in der sozialen Maschinerie entgegenwirken und eine Basis für künftige Aktionen für Frieden und Gerechtigkeit schaffen können.

Einleitung

Der Kampf in und um die Ukraine ist eine Phase in der Konfrontation zwischen Ost und West, in diesem Fall zwischen der orthodoxen Tradition Russlands und der westlichen Tradition. Aus westlicher Sicht ist es ein Kampf für Demokratie, für eine offene Gesellschaft, für Menschenrechte und internationales Recht und gegen imperialistische Agression. Aus der Sicht der russischen Propaganda ist es ein Kampf für die Selbstverteidigung, ein Kampf gegen die unmoralischen Auswüchse des Westens, ein Kampf für die russische Identität. Diese russische Identität wird sowohl intern wie extern als eine Kombination aus Nationalismus und historischer Mission vermarktet, beides mit einem christlichen Einschlag. Es ist Propaganda, die im Einbahnverkehr über die Bevölkerung gestreut wird, was stimmt, aber dennoch stellt sich die Frage: Wie kommt es, dass die große Mehrheit der russischen Bevölkerung daran glaubt? Wie ist es um die russische Seele bestellt, dass das russische Volk dieses Regime nicht abschüttelt und sogar bereit ist, seine Söhne in großer Zahl in diesem blutigen Kampf zu opfern? Offenbar gibt es in der russischen Seele eine Offenheit für diese Propaganda. Offensichtlich sind historische Kräfte am Werk, die aus größeren Tiefen kommen als die Tagesmedien. Das Gleiche gilt für den Westen, der zwar seine Ansichten und Überzeugungen in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte verteidigt, aber auch seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel sieht, wenn er die Ukraine nicht unterstützte. Stehen wir wirklich für das, wofür wir zu stehen behaupten, zu dieser Frage sieht sich der Westen genötigt. Wie ernst ist es uns mit dem westlichen Erbe? Überzeugungen und Ansichten mögen intellektuelle Spielereien sein, aber sobald man einen Preis dafür zahlen muss, stellt sich auch im Westen die Frage, ob und warum solche Überzeugungen und Ansichten so viel Macht über uns haben? Auch von dieser Seite gibt es also Anlass, sich mit der Geschichte, die uns geprägt hat, auseinanderzusetzen. Genau das möchte ich in diesem Beitrag tun. Das geschieht mit Hilfe von zwei wichtigen Stimmen aus der dialogischen Tradition, Hans Ehrenberg und Eugen Rosenstock-Huessy.

Dieser Austausch fand während und nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere in der Zeit zwischen 1920 und 1930 statt, als die wichtigsten Früchte ihres neuen Impulses erschienen 15. Hans Ehrenberg und Eugen Rosenstock-Huessy sowie Franz Rosenzweig gehörten zu der Generation, die aufgrund ihres Militärdienstes im Ersten Weltkrieg viele Karrierechancen verpasst hatte. Von diesen drei hatte nur Hans Ehrenberg es schnell zu einer etablierten Position an der Universität gebracht. Die Universitäten in Deutschland wussten ihrerseits nicht, wie sie mit dem kreativen Impetus und der kritischen Haltung dieser Personengruppe umgehen sollten, zumal der neue sprachliche Impetus auch religiöser Art war. Denn die Philosophie des Dialogs, der Buber ihren Namen gab, findet ihren Ausgangspunkt nicht im Ich oder in der Vernunft, sondern in der Erfahrung des Angesprochenwerdens, des Befragtwerdens, des Unterbrochenwerdens. Der Imperativ ist der Anfang aller Sprache und allen Sprechens, und Namen und Mächte, denen Menschen gehorchen oder nicht gehorchen, sind solche Imperative 16. Man kann hier durchaus von einem Paradigmenwechsel in der abendländischen Philosophie sprechen, den das Wort “Dialog” nicht hinreichend kennzeichnet. Rosenstock-Huessy nannte diesen neuen Impuls in der Sprache die “grammatische Methode”. So wie die Grammatik Wörter konjugiert und flektiert, werden die Menschen selbst durch die Sprache, die sie sprechen, konjugiert und flektiert. Ihre Zungen werden gelockert, wenn sie wie mit der Kraft einer neuen Offenbarung angesprochen werden.

Das Filioque in der Sicht von Rosenstock-Huessy

Ein Wort spielte beim Auseinanderbrechen dieser zweier Gesellschaften eine entscheidende Rolle: das Filioque, “und (der) Sohn”. Es handelt sich um die Worte, die in der westlichen Tradition dem Nizänischen Glaubensbekenntnis von 325 hinzugefügt wurden, um den Satz zu ergänzen, dass der Geist vom Vater ausgeht. Der Westen fügt hinzu: und vom Sohn. Diese dogmatische Entscheidung ist an sich schon ein Ausdruck des unterschiedlichen Weges, den der Westen und der Osten eingeschlagen haben, und sie haben diesen Weg wiederum entscheidend geprägt. Worte und auch Theorien haben immer einen Kontext. In diesem Sinne sind auch theologische Entwicklungen mit der Gesellschaft verbunden. Sie artikulieren eine Lebensform und verstärken diese wiederum. Lossky drückt dies prägnant aus: “Wenn schon in unserer Zeit eine politische Doktrin, zu der sich die Mitglieder einer Partei bekennen, deren Mentalität so prägen kann, dass ein Menschentypus entsteht, der sich durch bestimmte moralische oder physische Merkmale von anderen Menschen unterscheidet, so gelingt es erst recht einem religiösen Dogma, die Seelen derer zu verändern, die sich zu ihm bekennen. Sie sind Menschen, die sich von anderen Menschen unterscheiden, von Menschen, die von einer anderen dogmatischen Auffassung geprägt sind. Es ist niemals möglich, eine Spiritualität zu verstehen, wenn man nicht das Dogma berücksichtigt, in dem sie verwurzelt ist” 17. Dieser Ausgangspunkt bestimmt auch Rosenstock-Huessys Blick auf das Problem des Filioque. Sie ist eng mit den historischen Gegebenheiten verknüpft. Während in der frühen Kirche im Osten das Reich von Konstantinopel ein stabiler Faktor war, zeigte sich in Westeuropa, dem Abendland, das Gegenteil. Im Jahr 410 wurde Rom von Alarich zerstört. Der Schock, den dies auslöste, veranlasste Augustinus, sein Buch De Civitate Dei zu verfassen, um zu zeigen, dass die Stadt Gottes in ihrer irdischen Stellung nicht von Rom abhängig war. Laut Lossky legte er in diesem Werk auch den Grundstein für ein nicht-östliches und nicht-orthodoxes Verständnis der Trinität. Denn er näherte sich der Trinität von einem allgemeinen Gottesverständnis her und sah Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist in einer dreifachen Beziehung der sich selbst schenkenden Liebe. Damit legte er den Grundstein für die These, dass der Geist nicht nur vom Vater, sondern auch vom Sohn ausgeht. Außerdem legte Augustinus mit seinem Buch den Grundstein für eine größere Rolle der Kirche auch in den politischen Wirren seiner Zeit. Alarich, wie auch alle anderen christianisierten Stämme, waren dem Arianismus verpflichtet und nach dieser Lehre war der Sohn dem Vater untergeordnet und damit auch die Kirche den Fürsten. Sie schufen in ihren Territorien sogar ihre eigenen kirchlichen Strukturen als Alternative zur katholischen Kirche. Nur Karl der Große, der in die Fußstapfen seines Vaters Pippin trat, machte die katholische Kirche zu seinem Verbündeten. Er brauchte den Papst in Rom, der zu dieser Zeit noch keinen Primat über die anderen Patriarchen beanspruchte, um in seinem Reich mit geistlicher Autorität zu regieren. Das Bündnis mit dem Papst legitimierte seine Herrschaft über eine Vielzahl von Stämmen, über die er als christlicher Monarch herrschte, wie eine Art David über die Stämme Israels. Diese spirituelle Interpretation seines Königtums trug dazu bei, Rivalitäten zwischen den Stämmen einzudämmen. Dabei verstand er seine Herrschaft als Herrscher gleichzeitig als christliches Amt, als Teil der Kirche. Aber er hatte kein Gespür für die Trennung von Kirche und Staat, die das Erbe des Reiches von Konstantinopel war. Schließlich gab es in dieser von Stämmen geprägten Welt schon mehr als genug Trennungen. Die alte Kirche, in der Ost und West noch ungetrennt waren, hatte die Loyalität des römischen Volkes gewonnen, so dass der Kaiser, in diesem Fall Konstantin der Große, die Autorität und Macht der Kirche nicht umgehen konnte, wenn er effektiv regieren wollte. Er stand als Kaiser allein da, das Volk war in der Kirche 18. Karl der Große hingegen kämpfte um die Einheit in einer Vielzahl von Stämmen und konnte daher wenig mit einer Trennung oder gar Opposition zwischen Kirche und Reich anfangen. Obwohl er den Papst respektierte, behandelte er ihn mehr oder weniger wie einen Vasallen und ging mit der Kirche instrumentell um. Er ernannte seine eigenen Kapläne 19. Diese zogen als Geistliche mit ihm in den Krieg, und in Friedenszeiten bestand ihre Aufgabe darin, den Wildwuchs an Initiativen der damaligen Heiligen zu disziplinieren.

Vor diesem Hintergrund war Karl der Große bestrebt, dem Kaiser von Konstantinopel an Autorität und Ruhm mindestens ebenbürtig zu sein. Aus diesem Grund lehnte er alle Bestimmungen der Synode von Nizäa von 787 über die Rolle der Ikonen mit seinen Theologen ab 20. Es war völlig gegen seinen Willen, dass der Papst an dieser Synode teilgenommen hatte, die ansonsten ganz im Einklang mit der kirchlichen Tradition stand. Er veranstaltete 794 in Frankfurt eine eigene Synode im Abendland, die in der Kirchengeschichte einen größeren Namen machen sollte als die von Nizäa 787. Dabei wollte er auch den Papst endgültig an sein Reich binden und das Reich von Konstantinopel ausklammern 21. Teil dieser Strategie war die Aufnahme des Filioque in das Nizänische Glaubensbekenntnis durch seine Hoftheologen. Das war ein bewusster Akt der Konkurrenz mit dem Osten, zumal es eine Sache ist, theologisch dafür zu sein, dass der Geist auch vom Sohn ausgeht, aber es ist eine ganz andere Sache, dies dem Osten aufzuzwingen, indem man es in eine alte und wertvolle Glaubensschrift wie das Nizänische Glaubensbekenntnis aufnimmt, das Sonntag für Sonntag in der Liturgie verwendet wurde 22. Der Papst war mit dieser Entscheidung damals nicht einverstanden und ging sogar so weit, dass er das Nizänische Glaubensbekenntnis ohne Filioque auf Silbertafeln am Eingang des Vatikans anbringen ließ. Erst nachdem der deutsche Kaiser 1046 einen Papst seiner Wahl in Rom eingesetzt hatte, übernahm der Papst 1054 die Politik Karls des Großen und seiner Kapläne. Damit wurde das Schisma zwischen Ost und West zur Realität.

Während in der Zeit Karls des Großen und danach die Kirche im Westen mehr als im Osten zu einem Instrument der gesellschaftlichen Organisation und der Machtausübung durch den Kaiser geworden war, kam der Rückschlag mit dem Investiturstreit 1076, als nicht nur der Papst, sondern auch die lokalen Priester und Bischöfe diese Abhängigkeit satt hatten und umgekehrt den Vorrang der Kirche vor dem Kaiser proklamierten, vor allem bei der Ernennung von Bischöfen, in der Rechtsprechung, aber auch in den politischen Beziehungen allgemein. Damit begann, zumindest im Westen, eine neue Periode in der Kirchengeschichte. Die Kirche war immer ein Orientierungspunkt in der Zeit gewesen. Sie wies zum Himmel mit dem Ziel, Seelen aus einer unverbesserlichen Welt zu retten. Von nun an war die Kirche auch räumlich orientiert. Das heißt, die Kirche machte es sich zur Aufgabe, das politische und gesellschaftliche Leben nach ihrem Gusto zu gestalten. Der Papst präsentierte sich dem Kaiser als imperator spiritualis, als höchste weltliche Autorität auch im politischen Sinne 23. Dies würde das Gesicht der Welt verändern.

Recht, Scholastik, Klerus

Um der Verflechtung von Kirche und Landadel in den Dörfern und der Verflechtung von Kaiser und Bischöfen in der Herrschaft an der Spitze entgegenzuwirken, forderten die Anhänger der päpstlichen Revolution einen unabhängigen geistlichen Stand. Dies spiegelte sich in der Forderung nach einem streng zölibatären Leben für Priester, Bischöfe und Mönche wider. Um die Gewalt im Kampf zwischen Papst und Kaiser einzudämmen, griffen sie auf die Entwicklung des Rechts zurück. Um 1100 entstand in Bologna eine unabhängige juristische Fakultät, und 1142 veröffentlichte Gratian sein Gesetzbuch. Das allgemeine Recht musste die räumliche politische Aufgabe, vor der die Kirche nun stand, untermauern. Ebenso galt es, Ordnung in die Vielzahl der situations- und kontextbezogenen Urteile von Bischöfen, Kirchenväter, Heiligen und Mönchen zu bringen. Diese waren oft unterschiedlich und konnten widersprüchlich sein. Bis dahin war dies kein Problem, denn von Kontext zu Kontext und von Zeit zu Zeit konnte jedes Mal ein anderer Schwerpunkt gesetzt werden, und es sollte jedes Mal anders gesprochen werden. Als sich die Kirche jedoch mit der Notwendigkeit konfrontiert sah, politisch und gesellschaftlich die Führung zu übernehmen, entstand das Bedürfnis nach einer allgemeingültigen Wahrheit, nach einer Art gemeinsamem Nenner. Überall musste die gleiche theologische Sprache gesprochen werden. Die scholastische Gelehrsamkeit diente diesem Zweck. Die Methode bestand einfach darin, so rational wie möglich die Argumente für und die Argumente gegen eine bestimmte Aussage aufzulisten, die in der Tradition auftauchen, und daraus eine Schlussfolgerung zu ziehen. Auf diese Weise wurde eine allgemeingültige Wahrheit konstruiert, die zwar angepasst und korrigiert werden konnte, aber dennoch als Abbild der göttlichen Wahrheit gelten konnte, sofern die Menschen durch intellektuelle Spekulation Zugang zu ihr hatten. Diese scholastische Wissenschaft wurde in die Hände des geistigen Standes gelegt. Man gehörte nun zu ihr durch intellektuelle Schulung und Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität. Dabei traten die persönliche Inspiration und Überzeugung von Priestern und Theologen in den Hintergrund. Aufgrund des gleichen Bedürfnisses nach universeller Gültigkeit wurden die Sakramente beschränkt auf sieben, die für jeden Christen gelten sollten. Der neu geschaffene Klerus konnte nun auch die Gnadenmittel der Kirche durch allgemeingültige Regeln und Formeln (ex opere operato) verwalten. Damit beanspruchte der geistliche Stand, die Kirche, den Besitz der spiritualia, der Gnadenmittel des Geistes, und setzte diese als politisches Mittel ein, um die Ansprüche des Kaisers und des Landadels als bloß weltliche Macht, säkular (von saeculum, Epoche), abzutun. Mit diesen theoretischen, rechtlichen und politischen Instrumenten ausgestattet, konnte die Kirche ihre räumliche und politische Autorität gegenüber Adel, Königen und Kaisern wirksam ausüben.

In diesem Prozess begann auch das Wort “Natur” etwas anderes zu bedeuten als zuvor. Physis bedeutet bei Platon “Pflanzung”, und die Polis war auch ein Teil des Lebensprozesses und mit Wachstum (φυω=wachsen) verbunden 24. Mehr und mehr wurde die Natur nun zur toten Materie, zur geregelten und den Gesetzen unterworfenen Natur. In der Theologie hingegen wurde das Übernatürliche zunehmend als Abwehr gegen die so mechanistisch konzipierte Natur beschworen. “Es wurde zur Natur Gottes, übernatürlich zu sein” 25. Dies blieb immer eine sehr prekäre Lösung, denn indem man das übernatürliche Terrain für Gott beanspruchte, räumte man dem Gegner eigentlich schon zu viel ein, was das Verständnis der Natur als bloß tote Natur betrifft. “Im geistigen Bereich klammert man sich an die geoffenbarte übernatürliche Wahrheit, im materiellen Dasein lehnt man gerade wegen der mechanistischen Weltanschauung die offenbarungsträchtigen Erfahrungen ab, die die rhythmische organische und lebendige Zeit bietet” 26. Damit war der Grundstein für eine mechanistisch-liberale Weltanschauung gelegt, in der die Naturgesetze selbst als Ersatz für die bis dahin von der Kirche im Kirchenrecht verkündeten allgemeinen Gesetze fungieren konnten. Der Gott, der in der kirchlichen Zeit des Mittelalters durch eine allgemeingültige Theologie und das Kirchenrecht die Gemüter beherrschte, trat immer mehr in den Hintergrund und hinterließ der Welt einen leeren Raum, in dem nur noch rationalistische und utilitaristische Erwägungen im Sinne einer mechanistischen Weltanschauung herrschten.

Wie auch immer man über die räumliche Vormachtstellung der Kirche durch Kirchenrecht und allgemeingültige Theologie denken mag, diese schufen gleichzeitig einen Freiraum für soziale Organisationen und Kooperationen von unten. Zünfte und Städte gab es schon vorher, aber sie waren immer von der kaiserlichen Autorität kontrolliert und in ihren Befugnissen begrenzt. Nun übernahmen die führenden Gruppen in den Städten, unterstützt von Mönchen oder voneinander abgeschaut, gegenseitig ein Rechtssystem, proklamierten die Unabhängigkeit vom Landadel und den politischen Machthabern, begannen selbst Steuern zu erheben und verteidigten diese Freiheiten, indem sie die Anerkennung der Stadtrechte einforderten und notfalls dafür kämpften 27. In vielen Territorien des deutschen Kaisers, vor allem in Norditalien, unterstützte der Papst diese politische Bewegung des Städtebaus und der Zünfte und Bruderschaften, die ihre wirtschaftlichen Auswirkungen waren, so dass der Kaiser diese Bewegung nicht angemessen aufhalten konnte. In Frankreich stellte sich der König auf die Seite der Städte, um ein Gegengewicht zur Macht der adligen Grundbesitzer in den Regionen zu schaffen und so seine zentrale Autorität zu stärken. Durch den Aufbau einer Zivilgesellschaft in den Zünften, Bruderschaften und Städten wurden Stammes- und Familienbeziehungen in den Hintergrund gedrängt, und es entstand durch Versuch und Irrtum, unterstützt und auch kontrolliert durch das Gesetz (wenn auch oft “in the breach”), ein Raum für offene Zusammenarbeit von unten. Es entstand eine Zivilgesellschaft 28. In dieser Zivilgesellschaft behandelten sich die Menschen aus verschiedenen Stämmen in Zünften und Städten dennoch als Brüder und Schwestern, gemäß dem Wort des Herrn in Matthäus 12: 49, 50: “Diese sind meine Mutter und meine Brüder. Denn jeder, der den Willen meines Vaters im Himmel tut, ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter” 29. Es ist von großer Bedeutung festzustellen, dass auch die spätere liberale Phase, in der die so genannte Einzelperson stärker im Vordergrund steht, noch von den Reserven der Errungenschaften des sozialen Miteinanders lebt und zehrt, die in der vorliberalen Zeit des Mittelalters aufgebaut wurden und die auch in den lutherischen und calvinistischen Reformationen in Abgrenzung zur katholischen Kirche eine eher säkulare Wirkung entfaltet haben.

Während das Filioque unter Karl dem Großen Ausdruck der Instrumentalisierung der Kirche durch die Politik war, stand das Filioque nach dem Primat des Papstes für die Macht der Kirche als politischer Faktor, als Körperschaft, die über die Mittel der Gnade verfügte. Das Haupt, der Sohn, war beim Vater, aber die Kirche war sein Körper auf Erden.

Ketzerei und doch historische Notwendigkeit

In einer Rezension des Buches Epochen des Kirchenrechts von Rudolf Sohm weist Rosenstock-Huessy darauf hin, wie wichtig die Veränderung der Stellung der Kirche um 1100 war. Das Kirchenrecht wird nun zum Körperschaftsrecht, d.h. die Kirche wird als ein Geflecht von Repräsentanten und Repräsentierten verstanden 30. Man ist im rechtlichen Sinne ein Mitglied der Kirche, mit genau definierten Rechten und Pflichten. Die Kirche als Leib Christi ist selbst im säkularen Bereich ein Vorbild für die Körperschaft, denn der Corpus der Körperschaft existiert unabhängig vom Kommen und Gehen ihrer Mitglieder. Er umfasst auch die Verstorbenen 31. Die Kirche als Körperschaft ist eine Rechtskonstruktion des Menschen. Die scholastische Wissenschaft stellte Definitionen und Regeln auf und gelangte so zum Begriff der Körperschaft. Rosenstock-Huessy weist darauf hin, dass die Vorstellung von der Kirche als Körperschaft nicht selbstverständlich ist, denn “die katholische Kirche ist nicht von Menschen für Gott, sondern aus Menschen von Gott erbaut” 32. Letzteres ist natürlich auch die orthodoxe Auffassung. Aber diese organisatorische Veränderung, die Kirche als eine von Menschen errichtete Körperschaft darzustellen, wurde vom Staat erzwungen. Die bevorstehende Unterwerfung der Kirche unter den Staat machte sie unumgänglich. Schon Karl der Große ernannte seine eigenen Kapläne, seinen eigenen Klerus. Kaiser Heinrich III., der 1046 drei Päpste absetzte und einen vierten ernannte, war gleichzeitig derjenige, der auch die Bischöfe zu weltlichen Fürsten erhob. Damit drohte die Verweltlichung der Kirche. Deshalb musste die Kirche dem weltlichen Rechtsanspruch der Fürsten - die ja auch Christen waren - mit dem “Panzer” des Rechts begegnen 33. Das war eine Notmaßnahme. Zudem ist das Vorgehen Kaiser Heinrichs III. kein isoliertes Ereignis, sondern stellt den Höhepunkt der germanischen Kirchenpolitik dar. Diese hat nichts mehr mit der antiken Stadtkultur gemein, sondern folgt dem Rechtsempfinden der Stämme. Nach dem Rechtsempfinden der Stämme wird die Kirche zum Eigentum der weltlichen Herrscher und Fürsten. Infolgedessen wurden Laienbischöfe, Laienäbte, Adel und Vererbung in geistlichen Ämtern üblich. So wurde die Kirche meist zu einer Familienangelegenheit. So konnte man beispielsweise einem Kloster, in dem ein Verwandter Abt war, ein Stück Land schenken, um zu verhindern, dass eine konkurrierende Adelsfamilie Anspruch darauf erhob. Man konnte es auch zurücknehmen und die ursprüngliche Schenkung rückgängig machen, wenn das Vorteile bot 34. In dieser Situation kam die Kirche selbst nicht umhin, die Aufgabe zu übernehmen, die bis dahin die weltlichen Städte und Herrscher wahrgenommen hatten: die Menschen als Einzelpersonen aus ihren Blutsbanden herauszulösen 35. Es ist kein Zufall, dass sich im Osten zur gleichen Zeit die Mönche auf den Berg Athos zurückzogen. Dort ging es um das gleiche Problem: die Aneignung der Kirche durch den Adel. “Das Fehlen der weltlichen Zubringerin, der Polis (Civitas, Stadt), hat der Kirche, im Augenblick des tiefsten Zurücksinkens in Geschlechtserbfolge und angesichts des drohenden Aufgehens der Kirchenordnung im Volksrecht, die zentralistische Reform und die literarische Rezeption aufgezwungen. Dem Morgenland blieb dergleichen damals noch durch die eine Großstadt Byzanz erspart” 36.

Der Protestantismus lehnte freilich diese rechtlich-körperliche Auffassung der Kirche ab. Insofern ist es der Gipfel der Opposition, auch im Westen, gegen diesen Status der Kirche. Zuvor hatten sich Waldenser, Franziskaner, Hussiten und andere gegen diese Verweltlichung der Kirche als juristische und politische Machtinstitution gewandt. Nur mussten auch sie, trotz der vom Protestantismus und anderen geistlichen Bewegungen angestrebten Verinnerlichung, für ihre eigene Kirchenorganisation immer wieder Anleihen beim katholischen Recht machen. Schließlich legten die protestantischen Kirchen die Kirchenherrschaft in die Hände des Staates, der nun selbst als Körperschaft konzipiert war. Diese protestantische Widerstands- und Protestbewegung verlor ihren Sinn, sobald die katholische Kirche ihrerseits aufhörte, das römische Recht zu rezipieren und sich rechtlich zu definieren. Diesen Zeitpunkt sieht Rosenstock-Huessy als gekommen an. “Eine Rechtfertigung des Abendlandes gegenüber dem Osten am Grabe seiner Hoffnungen, auch so lässt sich die neue Epochengliederung lesen” von Rudolf Sohm 37. Denn erst jetzt, nach der himmelsorientierten alten Kirche in den ersten 1000 Jahren und der weltorientierten Kirche aus dem Investiturstreit in den zweiten 1000 Jahren, beginnt eine neue Epoche. Es reicht nicht mehr aus, die Menschen in ein allgemeingültiges Denk- oder Rechtssystem einzubinden. Es ist das Zeitalter des Geistes, in dem die Menschen in ihrer Lebensweise und im gesellschaftlichen Umgang christlich werden (müssen): “Der christlichen Kirche tritt erst heut zur Seite, was sie selbst im letzten Jahrtausend geschaffen hat, das christliche Volk” 38.

Diese letzte Bemerkung von Rosenstock-Huessy steht im Einklang mit der Rolle, die er für die Gesellschaft, das soziale Kraftfeld, als Erbe der Kirche sieht. Gerade durch die Kirche ist die Gesellschaft als ein Netzwerk von Menschen, Institutionen und Staaten global geworden. Die Zukunft der heutigen Gesellschaft hängt von der Qualität des Zusammenspiels all dieser Akteure ab. Dieses Netzwerk von Akteuren ist in der Tat so komplex und umfangreich, dass weder die Kirche noch der Staat es kontrollieren können. So werden das Zeitalter der Kirche (die ersten 1000 Jahre) und das Zeitalter des Staates (die zweiten 1000 Jahre) durch das Zeitalter der Gesellschaft abgelöst. Nicht nur die menschliche Seele (die ersten 1000 Jahre), nicht nur der menschliche Verstand (die zweiten 1000 Jahre), sondern ihr physisches Dasein wird von nun an durch das Evangelium geprägt sein. Das ist die Zeit, die vor uns liegt.

Mit der scholastischen Wissenschaft, die Ordnung und Herrschaft bringt, gewinnt der Intellekt den Vorrang vor dem Gefühlsleben. Und mit der ordnenden und disziplinierenden Tätigkeit der Kirche erhält diese eine dominierende Rolle in Gesellschaft und Politik. Die Nationalstaaten übernahmen diese regulierende und disziplinierende Rolle zunehmend von der Kirche. Diese weltlich regulierende Rolle der Kirche war streng genommen eine Häresie, aber, wie Rosenstock-Huessy deutlich macht, auch eine unausweichliche Entwicklung und damit eine notwendige Phase. Sowohl Ehrenberg als auch Rosenstock-Huessy sehen ihre Zeit als das Ende dieser Ära. Rosenstock-Huessy zeigt dies durch eine soziologische und historische Betrachtung, wie wir sie bisher dargestellt haben. Ehrenberg ergänzt diese Überlegungen durch eine theologische und spirituelle Betrachtung. Wir werden nun zunächst Ehrenberg darin folgen und dann zu Rosenstock-Huessys Interpretation des grundlegenden Wandels zurückkehren, der sich im Westen vollzogen hat und durch den das Zeitalter der Scholastik, der Dominanz nicht nur der Kirche, sondern auch des Staates und der rationalistischen und utilitaristischen Ethik vorbei ist. Seine Formulierung dessen, was er das “Gesetz der Technik” nennt, schärft dieses Verständnis weiter.

Ehrenberg über Russland und den Westen

Im Jahr 1923 veröffentlichte Ehrenberg zwei Bände mit Texten russischer politischer und historischer Denker (Band I) sowie philosophischer und theologischer Denker (Band II) 39. Beide Bände versah er mit einem Nachwort. Das erste Nachwort befasst sich mit der “Europäisierung” Russlands und das Nachwort zum zweiten Band mit der “Russifizierung” Europas. In der Begegnung zwischen Russland und Europa stellt er also die Frage, was sie voneinander lernen können. Und nicht nur das. Beide Traditionen befinden sich auch in einer historischen Krise oder einem Übergang, und das Problem, vor dem sie stehen, ist ein gemeinsames, und das ist, modern ausgedrückt, die entstehende globale Gesellschaft 40. Ehrenberg hat diese beiden Verbindungen nicht ohne persönliche Teilnahme an diesem Austausch hergestellt. Während seiner Leipziger Professur stand er zehn Jahre lang in engem Kontakt mit russischen Denkern, die in den Westen emigriert waren und in Leipzig studierten (wie auch viele in Berlin, Heidelberg, Paris und anderen Städten) 41.

Seit Peter der Große Russland zu modernisieren begann, fand ein Austausch zwischen Russland und Europa statt. Dieser Austausch führte zu einem neuen politischen Denken in Russland im 19. Jahrhundert und zu einem neuen philosophisch-theologischen Denken im 20. Jahrhundert 42. „Das russische Denken erwacht also gerade erst zu der Aufgabe, in einen Austausch mit dem Geist Europas zu treten” 43. Dieser Austausch steht in einem Spannungsverhältnis, weshalb viele russische Denker zwischen Nationalismus und Theokratie einerseits und dem Erbe Europas und einer neuen globalen Ethik, wie sie von Dostojewski und Tolstoi vorgeschlagen wurde, andererseits hin- und herpendeln. Es ist eine intellektuelle Neuorientierung. Einige russische Denker wie Solowjew, aber auch Dostojewski sehen die Kirche als heimlichen Führer des russischen Staates und sind der Meinung, dass - um einen Ausdruck Dostojewskis zu verwenden - der Staat zur Kirche werden sollte. Die Dualität von Kirche und Staat und die damit einhergehende gegenseitige Korrektur ist charakteristisch für West-Europa. Die Osteuropäer hatten dafür keinen Sinn, aber auch viele Europäer haben (so Ehrenberg seinerzeit) keine Vorstellung mehr von der kritischen Rolle der Kirche gegenüber dem Staat in früheren Zeiten. Der Staat im Osten, so Ehrenberg, ist nicht in die christliche Gelehrtenschule eingetreten und “übertrifft die Reichskulturen des alten Ostens an despotischer Brutalität”, weil er Despotismus nicht nur zu einer Tatsache, sondern sogar zu einem Recht macht 44. Dieses gewaltsame Durchgreifen macht im Osten also den Staat zu einem Problem. Im Westen ist es die Kirche. Zu dieser zweiten Frage kommt Ehrenberg in seinem Nachwort zum zweiten Band.

Die russischen Denker, die Ehrenberg in diesen beiden Bänden anspricht, sind durch den Austausch mit dem Westen zu ihrer Theologie und Philosophie gekommen, haben aber dennoch ihre verborgenen Quellen und Inspirationen in der russisch-orthodoxen Kirche. Diese steht noch in der Tradition der alten Kirche, die im Westen nach dem Investiturstreit von der römisch-katholischen Kirche abgelöst wurde. So steht die Russisch-Orthodoxe Kirche gegenüber dem Westen als Erbin der christlichen Antike. In ihr ist die Spiritualität der ersten 1000 Jahre noch bewahrt. Damit eröffne die orthodoxe Ostkirche dem Westen eine neue Inspirationsquelle, die der Westen, so Ehrenberg, dringend benötige. “So öffnet sich Russland zwar nach Europa - daran kann kein Zweifel bestehen -, aber der Kraftstrom fließt bei dieser Kapitulation von den Besiegten zu den Siegern. Dem Christentum des Abendlandes wird vom christlichen Osten sein gutes Gewissen im Leben und Denken zurückgegeben” 45. Die östlich-orthodoxe Spiritualität kann den Westen neu beleben. Auf natürliche Weise gewinnt der Westen, auf übernatürliche Weise gewinnt die russische Orthodoxie.

Die Kirche des Ostens wird von Ehrenberg als die johanneische Kirche charakterisiert 46. Das Evangelium und die Briefe des Johannes finden Worte für das kosmische Geheimnis des Christentums: Die Welt ist durch das Wort geschaffen, und Christus herrscht von Anfang bis Ende. Dieses geistliche Geheimnis der Weltgeschichte ist der eine Teil der Gaben des Johannes an die Kirche. Die Liebe als sich selbst hingebende Liebe, die das ganze Geheimnis des christlichen Lebens ausmacht, ist der andere Teil. Im Westen wird diese Liebe jedoch im kanonischen Recht und in einem System sozialer und ethischer Regeln umgesetzt und gestaltet. Im Osten hat sich diese Verbundenheit mit Christus nie in Regeln und Gesetze verwandelt, sondern ist viel mehr geistig geblieben. Die Kraft der Seele ist direkt unter der Oberfläche präsent, nicht vermittelt durch und nicht begraben unter Regeln. Berdjajew drückt es so aus: “Bei den Russen fehlt diese Ehrfurcht vor der Kultur, die für die westlichen Menschen so charakteristisch ist. Dostojewski sagte, wir seien alle Nihilisten. Ich würde sagen, dass wir Russen entweder Nihilisten oder Apokalyptiker sind. Wir sind Apokalyptiker oder Nihilisten, weil unsere Energien auf das Ende gerichtet sind und wir nicht viel Verständnis für die Allmählichkeit des historischen Prozesses haben.”47 Die irdische Wirklichkeit ist hart. Aber die östliche Orthodoxie weiß um ein Geheimnis, das dem Auge durch eine Mauer der Trennung sichtbar verborgen ist, das aber deshalb den Menschen umso spiritueller berühren kann. Der Mensch wird auf Distanz gehalten. Er sieht, dass er keinen Zugang hat. Seine Sehkraft ist begrenzt. Umso mehr kann sich sein Gehör für das öffnen, was aus dem Jenseits kommt: Gott, der durch seine Liebe letztlich die Welt regiert. So funktioniert die Ikonostase in der Kirche. - Aus dieser geistigen Quelle schöpfen russische Denker offen oder verdeckt. Und gleichzeitig sind sie, ebenso wie die westlichen Denker, dem Einfluss der Entwurzelung ihrer Traditionen ausgesetzt. Es ist eine Situation voller innerer Widersprüche. In Russland (1923), so Ehrenberg, gibt es gleichzeitig diese Verwurzelung und diese Entwurzelung: “So viel Nihilismus, so viel gestaltlose Menschlichkeit, so viel Verwurzelung und Entwurzelung zugleich!” 48.

Warum ist die russische Orthodoxie dennoch der geistige Sieger? Hierfür gibt es mehrere Gründe, sowohl kirchliche als auch gesellschaftliche. Um mit dem ersten zu beginnen: In Deutschland hat die Kirche das Vorrecht ihrer kirchlichen Verwaltung an die Regierung ausgelagert (so ist es auch 1923 noch) und das Vorrecht ihrer kritischen Botschaft an die Universität. Seit der Reformation waren insbesondere die theologischen und juristischen Fakultäten immer das Gewissen der Regierung. Die Universität hatte diese Rolle seit der Reformation in Analogie zur Rolle des Papsttums im Mittelalter, einerseits als Legitimation und andererseits als Orientierung. Die Universitäten konnten von sich aus die Regierung auf Missstände aufmerksam machen und diese untersuchen. Das war Teil der akademischen Freiheit. Die Freiheit der Universität, Kritik zu üben und politische Maßnahmen für die Regierung zu gestalten, ist aber nach der Gründung des deutschen Einheitsstaates unter Bismarck nicht mehr das, was sie war. Schließlich konnte man in der Vergangenheit jederzeit in ein anderes Fürstentum überlaufen 49. Die Freiheit der Universität wird und verkommt nun zur Freiheit der Kritik als Wert an sich, zum Relativismus also. Ehrenberg spricht hier von einem babylonischen Exil sowohl der Kirche als auch der Universität. Rationalismus und Positivismus haben sich durchgesetzt. Das hat Folgen für Kirche und Theologie. Der Glaube an die Trinität wurde wegrationalisiert und vom Glauben an den Heiligen Geist ist nur noch ein individualistisches Projekt übrig geblieben - wie im Pietismus. Christus wurde monophysitisch interpretiert, indem man seine Göttlichkeit in den Vordergrund stellte. So hat die katholische Kirche als Anbieterin von Gnadenmitteln fungiert. In der evangelischen Kirche hat Christus keinen Raum für den Vater und den Geist gelassen. Die Schöpfung wurde zur Natur verwässert und die Frömmigkeit individualisiert. Wegen dieser Individualisierung der Frömmigkeit hat die Kirche auch die Bedeutung der sozialen Frage nicht erkannt. Sie konzentrierte sich nur auf die innere Frömmigkeit und die persönliche Moral.

Am Ende seines zweiten Epilogs formuliert Ehrenberg eine Reihe von Forderungen an Kirche und Theologie, durch die insbesondere seine eigene Kirche, die evangelische, zu einer Neubesinnung kommen sollte, und zwar zu einer Neubesinnung auf dem Nährboden östlicher Spiritualität. Wir fassen einige zentrale Punkte zusammen:

  1. Die Person, von der die Lehre ausgeht, ist die Kirche, und zwar nicht als eigenständige Organisation wie im Katholizismus oder gar ersetzt durch ein Buch, so dass die Kirche selbst unsichtbar bleibt, wie im Protestantismus. Die Kirche ist der Heilige Geist, der von Gott ausgeht und durch Christus in den Menschen verkörpert wird (Ehrenberg lehnt das Filioque ab). Die Kirche ist also nicht in erster Linie eine rechtliche Institution, wie die katholische Kirche, und nicht in erster Linie eine lehrhafte Institution, wie die evangelische Kirche. Die Kirche existiert leibhaftig in den Menschen, die ihr angehören, so wie sich die russische Orthodoxie darstellt.
  2. Die Verbindung von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung mit den drei organisch verwandten Worten Haupt, Leib, Glieder ist die Lehre von der Trinität. So wird einerseits die Heilsgeschichte in ihrer Abfolge der Epochen in der Trinität zusammengefasst. Andererseits beschreibt sie aber auch die bleibenden Formen der Gegenwart Gottes bei den Menschen in der Gegenwart.
  3. Jede Lehre, die mit einem allgemeinen “Begriff “ von Gott beginnt, lässt die Wurzel der Geschichte in Israel absterben und setzt an ihre Stelle eine künstliche philosophische Wurzel. Israel ruft den Namen Gottes über alle Namen und über alle Mächte an. Dies geschieht nicht aufgrund einer Theorie und eines Begriffs, sondern aufgrund schlechter Erfahrungen mit allen sogenannten höheren Mächten, d.h. dem Ahnenglauben und dem Glauben an die kosmische Hierarchie der umgebenden Völker. Israel ist auf der Suche nach einer Macht, die darüber steht. In diesem Sinne ist Israel dualistisch, d.h. es greift von der Erde zum Himmel, in die Zukunft. Dieses Ausstrecken und Anrufen einer Macht, die über den Mächten steht, beruht nicht auf einem Begriff oder Verständnis, sondern ist in erster Linie ein Ereignis, eine Geschichte. Es ist ein Ruf nach Gerechtigkeit, an eine Macht, die über den Mächten steht, die erst noch kommen und die Mächte richten wird. Wegen dieses Verlangen nach die Zukunft sind Gebet und Lobpreis charakteristisch für Israel. Für die christliche Kirche hingegen ist das Bekenntnis charakteristisch. Denn es ist etwas geschehen, eine Veränderung hat stattgefunden, die Anerkennung verlangt. Dieses Ereignis besteht in Kreuz und Auferstehung Christi, dem nun alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist. Es ist der Weg des liebenden Leidens, der die Tür zur Zukunft und damit einen Weg von immer weiteren Schritten öffnet. Die Vollendung wird nicht auf einmal erreicht, sondern jede Generation geht einen Schritt weiter. Damit wird der Dualismus von harter Realität und transzendenter Hoffnung überwunden. Die Kirche bekennt sich zum Namen der Heiligen Dreifaltigkeit, und dieses Bekenntnis ist auf die Erlösung ausgerichtet. So haben die Heiden Boden unter den Füßen. Israel hat einen Himmel über sich, die Zukunft. Die Kirche hat sowohl Boden als auch Himmel, indem sie nach Gerechtigkeit strebt und die liebende Hingabe bekräftigt, aus der sie lebt.
  4. Die Lehre des Heiligen Geistes ist auf die Vollendung ausgerichtet, was konkret bedeutet: Die Frucht der Lehre ist das Leben. Die Lehre gipfelt im Leben. Dies zeigt sich auch in der Abfolge Haupt, Leib, Glieder. Das Haupt der Kirche, Christus, ist im Himmel: So ist das Zeugnis der Kirche der ersten tausend Jahre. Die zweiten tausend Jahre, in der römisch-katholischen Kirche, zeigen die Dominanz der Kirche als Leib Christi auf Erden. Die Kirche ist führend bei der Einigung der Welt. Von nun an, in der nachkirchlichen Zeit, verkörpert sich der Geist in den Gliedern. Die Glieder führen ihr Dasein im gesellschaftlichen Kraftfeld. In diesem Sinne ist die Gesellschaft Tochter und Erbin der Kirche 50.
  5. Monophysitischen Tendenzen in der Lehre von Christus, das heißt der einseitigen Betonung seiner göttlichen Natur (mono-physis), und in der Lehre von der Kirche, die meint, über die Mittel der Gnade zu verfügen, ist entgegenzutreten. Christus ist die erste von Gott angesprochene Du-Person, und so bedeutet die Offenbarung in Christus das Lebendig-werden eines neuen Menschen. Entsprechend der dogmatischen Grundlage der Offenbarung des Sohnes in Christus muss sein Menschsein voll zum Ausdruck kommen. Die leidende Kirche des Altertums konnte das noch nicht in angemessener Weise tun. Damals ging es nur um Buße und Bekehrung. Erst jetzt, im Zeitalter des Geistes, werden die schöpferischen Kräfte des Heiligen Geistes weiter entfaltet. Es wird etwas aufgebaut. Das ist die Zeit, die vor uns liegt.

    In der Formulierung “Christus als Du-Person” übernimmt Ehrenberg den Sprachgebrauch Florenskis. Florenski zeigt in seiner Sprachphilosophie eine faszinierende Ähnlichkeit mit der Sprachphilosophie von Rosenstock-Huessy 51. Für das Verständnis der beiden steht am Anfang aller Sprache der Imperativ. Selbst Namen wirken als Imperative. Der Mensch ist immer ein antwortendes Wesen. Das Gebot der Liebe setzt die göttliche Ich-Person voraus. Eigentlich gibt es nur ein Ich: “…denn ich bin der Herr, dein Gott…”. Der Mensch ist die antwortende Du-Person, und Jesus Christus ist der erste und einzige, der dies voll und ganz ist, durch die sich selbst verschenkende Liebe, die ihn ans Kreuz bringt. Die Glieder seines Leibes sind das Wir, das folgt. Die Erlösung der Welt wird dadurch bewirkt, dass die Menschen dem Ruf gehorchen, nicht nur als Einzelne, sondern durch diesen Befehl und die Antwort des Sohnes werden sie zu einem Wir zusammengeschmiedet.

    Der Protestantismus hat Christus primär zum Zentrum des göttlichen Handelns gemacht und die Lehre von Schöpfung und Erlösung verkürzt. Berdjajew weist in seinem Beitrag zu Ehrenbergs Textsammlung darauf hin, dass der Mensch nicht nur durch den Glauben, sondern auch “durch Kreativität” gerechtfertigt wird. Damit meint er: Wir Menschen haben unseren schöpferischen Beitrag für die Zukunft zu leisten. Der Mensch wird nicht nur klein und demütig, indem er seine Sünden bekennt und zum Glauben kommt, sondern Glaube bedeutet auch, schöpferische Schritte in die Zukunft zu tun, größer zu werden als der, der man war. So tragen die Menschen als Glieder der künftigen Weltgesellschaft konkret und greifbar zum Heil bei, und so kommt die Menschlichkeit des Lebens als neuer Mensch und damit das Wirken des Geistes zum Tragen.
  6. Die Gabe des Heiligen Geistes bedeutet, dass wir einen geistigen Zugang zu Gott haben und dass dieser Geist ständig auf die Menschen ausgegossen wird. Dieser Zuwachs an Erkenntnis ist eine Erkenntnis von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz, in vollkommener Liebe.

Die Zeilen, die Ehrenberg hier mit einer Würdigung der ostorthodoxen Spiritualität für die Zukunft darlegt, gehören alle in das Zeitalter des Geistes. In dem Buch Heimkehr des Ketzers argumentiert Ehrenberg, dass die Zeit vorbei ist, in der christliche Kirchen und Gruppen in ihrer Einseitigkeit und “Häresie” jeweils eigene Wege gingen. An die Stelle einer Zeit der Divergenz ist eine Zeit der Konvergenz getreten. Im Zusammenspiel der Netzwerke der entstehenden globalen Gesellschaft werden die sozialen Akteure von einer Vielfalt spiritueller Quellen genährt. Der gemeinsame Nenner all dieser Inspirationen ist der zukünftige Frieden. Die Ernährung durch diese verschiedenen religiösen Inspirationen ist notwendig, denn ohne sie sind die gesellschaftlichen Akteure nur Kräfte im Raum. Endlose Zusammenstöße sind daher unvermeidlich. Die nackten Kräfte im Raum brauchen die Bekleidung durch geistige Mächte, um Frieden zu schaffen.

Konstruktion und Energie

Die obigen Ausführungen sind nicht nur theologisch, sondern vor allem auch soziologisch von Bedeutung. Ehrenberg legt stets großen Wert auf die geistige Durchdringung der Offenbarung in der östlichen Orthodoxie. Es scheint, dass Ost und West unterschiedliche Lösungen für die Vermittlung zwischen Gott und Mensch anbieten. Dies hängt mit der räumlichen Aufgabe zusammen, die sich die Kirche im Westen in Abgrenzung zum zeitlich orientierten Osten gestellt hat, und macht diese notwendig. Ehrenberg schließt sich Rosenstock-Huessys Interpretation der westlichen Geschichte an. Menschliche Konstruktionen, allgemeine Begriffe und Regelungen, wie sie im Kirchenrecht verankert sind, werden notwendig und unumgänglich, um eine einheitliche Herrschaft in der Gesellschaft einzuführen. Alle Sünden und Irrlehren des Westens lassen sich auf diese Notwendigkeit zurückführen.

Der Osten macht den umgekehrten Weg. Er bleibt erfahrungsorientiert und damit auch der von Ehrenberg favorisierten geschichtlichen und narrativen Entwicklung des Dogmas treuer, wie sie sich in den oben genannten theologischen Forderungen widerspiegelt. Dazu gehört auch seine Ablehnung des Filioque. Der Geist geht vom Vater durch den Sohn aus und inkarniert sich in der kirchlichen Gemeinschaft, die den Kern der Gesellschaft bildet. So geht die Bewegung Gottes auf den Menschen zu. So lernen wir Gott kennen, in seinem Wirken in der Geschichte: sein Wirken, seine Energien. Seit Palamas ist die Unterscheidung zwischen Essenz und Energie im Osten weit verbreitet. Gott ist in seiner Essenz für den Menschen unzugänglich. Er wohnt in einem unzugänglichen Licht (I Tim. 6: 16). Sein Wirken hingegen wird vom Menschen erfahren. Der Geist kommt zu uns durch die sich selbst verschenkende Liebe des Sohnes, und von ihm her nehmen wir die Güte des Vaters wahr (1 Korinther 12,4-6). Während der Westen versucht, sich Gott durch menschliche Konstruktionen und intellektuelle Spekulation anzunähern, versucht der Osten, das Wesen Gottes abzuschirmen und zieht die Vermittlung der Energien Gottes vor. Daher wird im Osten immer wieder das Problem diskutiert, ob Gottes Wirken an uns wirklich göttlich ist 52. Haben wir es bei dem Wirken Gottes, das wir erfahren, mit Gott selbst zu tun, und wenn ja, führt dies nicht zu einer Verdoppelung Gottes? Im Westen stellt sich die umgekehrte Frage, ob die menschlichen Konstruktionen den Gläubigen wirklich Gott selbst in seinem innersten Wesen durch einen Spiegel zeigen, und wenn nicht, führt das nicht zu einer Verdoppelung des Menschen, so wie im Osten die Gefahr einer Verdoppelung Gottes besteht?
Zur Verdeutlichung hier eine Skizze:

Osten Westen Gott

Was Niemandes Absicht ist, aber unmittelbar vorhanden ist, wird früher oder später unweigerlich zur Realität. Im Osten verschwindet Gott in seinem Wesen und im kirchlichen Ritual, und die Gesellschaft bleibt unorganisiert. So bleiben Gott und Mensch getrennt. Gottes Heiligkeit steht in direktem Gegensatz zu einer rauen Gesellschaft. Im Westen wird die Gesellschaft durch menschliche Konstruktion und Regulierung organisiert, aber sie wird immer menschlicher. So verschwindet Gott schließlich in einem deistischen und naturalistischen Glauben. Das Regelsystem, das Gottes Güte und Liebe widerspiegeln sollte, verselbständigt sich und wird zu einem anonymen Regelsystem. Infolgedessen wird die Gesellschaft zu einer Maschine und der Mensch zu einem Rädchen in ihr.

Naturalismus, Utilitarismus und Rationalismus

Die Gesellschaft wird zu einer Maschine - diese Entwicklung vollzog sich in zwei Phasen. Allgemeingültige Theologie und Rechtswissenschaft definierten im Mittelalter das Verhältnis zwischen Kirche und Staat und ebenso die Spielregeln der Bürger untereinander in ihren Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften waren Klöster, Zünfte, Städte, Bruderschaften. Sie befreiten die Bürger von ihren familiären Bindungen und gaben ihnen im Gegenzug eine neue Familie in der Gemeinschaft. Diese Phase haben wir oben besprochen. Die zweite Phase besteht in der Entstehung der liberalen Nationalstaaten. Diese waren neben einer liberalen Staatsphilosophie auch geistig stark vom Protestantismus beeinflusst. Sowohl durch den Liberalismus als auch durch den Protestantismus wurden unternehmungslustige Personen wiederum aus den mittelalterlichen Gemeinschaften herausgelöst. Der Protestantismus, sowohl in seiner lutherischen als auch in seiner calvinistischen Form, konzentrierte sich auf die Gesellschaft und ersetzte die Gemeinschaften des Mittelalters weitgehend durch die handwerkliche Produktion der Unternehmerhäuser. Diese handwerklichen Produktionsstätten befanden sich zwar im Besitz einzelner Familien, aber in diesen Häusern, d. h. in Bauernhöfen, Schuhmachereien und anderen Handwerksbetrieben, einschließlich Handelshäusern, waren viele Arbeiter aus zahlreichen Familien beschäftigt 53. Dies war in der Zeit vor der Trennung von Haus und Arbeit. Die soziale Regulierung wurde der katholischen Kirche entzogen und in die Hände des Staates gelegt. Das Selbstverständnis des Staates hingegen wurde von einer utilitaristischen oder rationalistischen Staatsphilosophie bestimmt.

Letzteres geschah unter dem Einfluss des naturwissenschaftlichen Denkens und der Wiederentdeckung der Antike. In Analogie zu den kirchlichen Gesetzen, die im katholischen Kirchenrecht verankert sind, wurden in der naturwissenschaftlichen Forschung immer mehr sogenannte Naturgesetze entdeckt. Offenbar enthielt die Natur selbst ein Regelsystem, das logischer und quasi mathematischer Natur war. Wenn die gesellschaftlichen Gesetze auf solchen quasi-mathematischen und logischen Gesetzen beruhen würden, könnte die Konkurrenz zwischen protestantischen und katholischen Regierungen der Vergangenheit angehören, und damit auch die Religionskriege und alle anderen Konflikte, dachten viele. Und mit einem Schlag würden in einer solchen Zentralregierung, die die Gesellschaft nach allgemeingültigen Naturgesetzen regiert, alle Verwaltungsebenen, in denen das Modell der Kommunitäten, also Zünfte, Städte, Bruderschaften, der freien unternehmerischen Produktion im Wege stehen, abgeschafft werden. Dies war das utopische Ideal von Thomas More und anderen: eine reibungslos funktionierende, mechanische Gesellschaft. Damit wurde auch der Begriff der Natur mechanistisch und nicht mehr organisch-biologisch verstanden. Auch der Begriff der Wirklichkeit wurde in diesem Veränderungsprozess neu verstanden. Er bezeichnete nicht mehr das Wirken der Energien Gottes in der menschlichen Gesellschaft. Er bedeutete nun eine empirische Realität, die hypothetischen, von Menschen aufgestellten allgemeinen Naturgesetzen gehorchen kann oder nicht 54. Der Mensch wäre nun nicht mehr Sklave der Natur, sondern “befugter Richter” (Kant). Als solcher stellt der Mensch überprüfbare Hypothesen auf, die durch wiederholbare Experimente bestätigt oder widerlegt werden. Die Analogie zu den theologischen Auffassungen des Mittelalters besteht darin, dass die Wirklichkeit selbst (früher die Wirklichkeit Gottes) außerhalb der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen bleibt. Die Analogie besteht aber auch darin, dass die konstruktivistische Erkenntnistätigkeit des Menschen eine brauchbare Vorstellung oder einen Suchentwurf von der (immer noch nicht erkennbaren) Realität außen aufstellt. Denn darauf zielen die Naturgesetze ab. Es geht nicht darum, zu zeigen, wie sie ist, sondern ob sie nach den etablierten Naturgesetzen funktioniert. Aus Fakten und Beobachtungen werden allgemeine Regeln abgeleitet, mit deren Hilfe dieser Vorgang vorhergesagt werden kann. Denn so kann man sich die Kräfte der Natur zunutze machen. Wie es da draußen “ist”, ist nicht zugänglich (das Ding an sich (Kant) oder die räumliche Ausbreitung (Descartes)) 55.

Diese empirische Naturwissenschaft in Verbindung mit einer liberalen Gesellschaft, die sich seit der Französischen Revolution auf den Aufbau wissenschaftlich geleiteter Großbetriebe konzentriert, hat der Hausproduktion ein Ende gesetzt und die für die heutige Zeit charakteristische Trennung von Haus und Arbeit eingeführt. Dies führte auch zu einer mechanistisch geprägten Ethik. Diese wurde von Spinoza vorbereitet und im kantischen Rationalismus und Utilitarismus von Bentham und anderen voll entwickelt. Hier werden das moralische Empfinden des Herzens und des Gewissens sowie die traditionellen Regeln der Kirche durch allgemeine quasi-mathematische Regeln ersetzt. Im Utilitarismus besteht diese Regel darin, das größte Glück für die größte Anzahl von Menschen anzustreben. Dieser Ansatz lässt sich in einer einfachen Kosten-Nutzen-Analyse ausarbeiten. In Kants Rationalismus der praktischen Vernunft besteht die allgemeine Regel in der Rationalität selbst, die sich nicht selbst widersprechen darf und daher Fairness, vor allem gerechtes Teilen, und Universalität erfordert. Diese allgemeinen Regeln funktionieren mehr oder weniger wie allgemeine Naturgesetze, so wie Spinoza sie für die Ethik mit der geometrischen Methode abzuleiten versuchte.

Das Europa, dem die russischen Denker im 19. und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts begegneten, ist, daran sei erinnert, das Europa, in dem diese mechanistische Denkweise und Ethik noch vorherrschend waren. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig festzustellen, dass diese mechanistische, auf Naturgesetzen beruhende Weltanschauung nichts anderes ist als eine säkulare Fortsetzung des spekulativ-konstruktivistischen Kirchenrechts und der scholastischen Theologie.

Das Gesetz der Technik und die Grammatik der Sprache

Inzwischen hatten Wissenschaft und Technik die Gesellschaft grundlegend verändert. Die Fabrikproduktion brachte die Trennung von Arbeit und Wohnen mit sich, wodurch das Gleichgewicht zwischen einer protestantischen Gesellschaft und einer liberalen Regierung aufgehoben wurde. Die protestantische Gesellschaft konzentrierte sich auf Bildung und Professionalität. Die liberale Regierung und die liberalen Unternehmer neigten vor allem dazu, die Arbeit als eine von vielen Naturkräften einzusetzen und zu behandeln, während sie sie als frei verfügbar auf dem Markt einkauften. Auf diese Weise wurde die Mehrheit der arbeitenden Menschen zunehmend einer sozialen Maschinerie unterworfen. Man wurde zu einem Rädchen in der Produktion und zu einer Nummer in der Gesellschaft, entwurzelt und desorientiert. In der Konkurrenz zwischen diesen Regierungen und den so geführten Volkswirtschaften sahen die Regierungen im “Ausland” vor allem Märkte, und auch die Nationalstaaten nahmen sich gegenseitig nicht als etwas anderes wahr als Kräfte im Raum “draußen”. Man suchte nach Absatzmärkten und ließ sich von rationaler Zweckmäßigkeit leiten, ohne zu fragen, was das eigene Handeln für den anderen bedeutete 56. Diese Entwicklung kulminierte im Kladderadatsch (Marx) und Hexensabbat (Nietzsche) des Ersten Weltkriegs. Derselbe Krieg löste die Russische Revolution aus, die der Instrumentalisierung der Arbeit (in Russland des Bauernproletariats, das diese Instrumentalisierung nur in der Kriegsmaschinerie selbst in vollem Umfang erfuhr) durch eine Totalkalkulation der gesellschaftlichen Bedürfnisse und eine geplante Produktion zur Befriedigung dieser Bedürfnisse entgegenwirken wollte.

Rosenstock-Huessy stellte das folgende Gesetz der Technik auf: Technik vergrößert den Raum, verkürzt die Zeit und löst eine bestehende Gemeinschaft auf 57. Technologie bedeutet Größenvorteile, Mobilität, einschließlich sozialer Mobilität, Geschwindigkeit der Kommunikation und damit auch die Notwendigkeit und Möglichkeit, aus bestehenden Gemeinschaften auszusteigen. Dies hat zur Folge, dass sich traditionelle Gemeinschaften immer mehr auflösen. Die Entwurzelung großer Gruppen von Menschen aus ihren sozialen Bindungen ist die Ursache für die faschistische oder populistische Versuchung, den Ausgleich in der eigenen Wir-Gruppe, dem eigenen Beruf, der eigenen Nationalität oder Rasse zu suchen 58. Die Utopie einer technologiegeleiteten Gesellschaft ist in der Dystopie zweier Weltkriege untergegangen. Die Tatsache, dass Naturwissenschaft und Technik nicht automatisch zu Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand führen, disqualifiziert die Technik als solche nicht, bedeutet aber, dass Technik und Naturwissenschaft nicht führend sein können, sondern selbst Führung und Gegengewicht brauchen. Damit verabschiedet sich das 20. Jahrhundert von dem mechanistischen utopischen Denken, das mit Thomas More begann.

In unserer Zeit sprechen wir freilich weniger von einer mechanistischen Weltanschauung. Im digitalen Zeitalter sehen wir den Menschen eher als eine bloße Funktion in einem umfassenden System. Aber auch die Existenz als Funktion in einem Algorithmus oder in einem Protokoll wird der menschlichen Verantwortung nicht gerecht. Bis zu einem gewissen Grad ist diese funktionale Seite zwar auch Teil des Menschseins, aber wenn die gesamte Existenz davon ausgefüllt ist, verliert der Mensch seine Elastizität. Seine/ihre Verantwortung wird nicht mehr herausgefordert und so wird man zu einem geistigen Zwerg, einem engstirnigen Konsumenten, zu gehorsam, ängstlich. Für Rosenstock-Huessy besteht das Gegengewicht zu dieser - noch mechanistisch - reduzierten Menschlichkeit in der Sprache. Russische Philosophen wie Florenski und Berdjajew und andere sahen dieses Gegengewicht vor allem in der Seele, deren Kräfte in der östlichen Orthodoxie gerettet und gesichert wurden. Doch von diesem Ausgangspunkt aus bewegten sie sich aufeinander zu, denn für Rosenstock-Huessy ist nicht die Sprache als System die Antwort auf die mechanistisch gewordene Gesellschaft (also die Sprachauffassung des Strukturalismus), sondern die lebendige Sprache, die aus dem Herzen, aus der Seele gesprochen wird. Umgekehrt sahen die russischen Philosophen die Zeit gekommen, dass die Seele, die bisher in der Liturgie der östlichen Orthodoxie geborgen war, nun im sozialen Kraftfeld selbst zu Wort kommen sollte. Sowohl für Rosenstock-Huessy als auch für Florenski beginnt alle Sprache mit dem Imperativ. Florenski spricht vom göttlichen Ich, das den Menschen imperativisch als Du anspricht. So angesprochen, antworten die Angesprochenen als Wir, und so bewirkt die Sprache ein gegenseitiges Verstehen und eine neue Grundlage des Zusammenlebens. Rosenstock-Huessy sieht den Beginn der Sprache in dem Imperativ, der den Menschen als Du anspricht: Jetzt ist es am Menschen, zu antworten und Ich zu sagen. Im Dialog machen die Menschen Vorschläge und Gegenvorschläge, und dies ist nicht mehr nur ein intellektueller Prozess. Die Menschen werben auch umeinander, öffnen sich füreinander, übernehmen die Standpunkte des anderen, und so entsteht nicht so sehr ein abstraktes Verständnis, sondern ein Verständnis füreinander, so dass ein Wir 59 entsteht. Namen, Geschichten sind Mächte, die die Kräfte der Menschen beanspruchen, und es liegt an den Menschen, die auf das höhere Kommando hören, hier Ordnung zu schaffen und einen Weg zu wählen, miteinander in Einklang zu kommen und zum Handeln zu kommen. Es würde zu weit führen, diese Sprachphilosophie russischen und westlichen Stils hier näher zu erläutern. Aber der Einsatz und der Impetus sind derselbe. Der gemeinsame Nenner ist auch, dass Sprache als lebendige Rede, als rechte Rede, ein religiöses Ereignis inmitten einer vermeintlich säkularen Gesellschaft ist. Das Ringen um das rechte Wort und die Sensibilität für das rechte Wort werden nicht mehr nur in der kirchlichen Liturgie oder Predigt praktiziert, sondern dort, wo Menschen im gesellschaftlichen Kräftefeld die Welt der Zukunft gestalten. Damit beginnt das Zeitalter des Geistes, der aus der Seele spricht, die schon jenseitig ist, die schon in der Vollendung wohnt. Die Seele ist schon auf der anderen Seite, schon am Ende, und wir haben die gegenwärtige Situation nur verstanden, wenn wir nicht nur mit Ursache und Wirkung rechnen, sondern die gegenwärtige Situation als Zwischenschritt und Vorbereitung auf die Vollendung verstehen. Von der Vollendung her zieht der Sohn alle Dinge zu sich (Johannes 12,32). So wirkt der Geist durch den Sohn. Das gerade und wahre Wort muss inmitten des sozialen Kraftfeldes gefunden und gesprochen werden, wo die wirtschaftliche Produktion und die Gestaltung der Zukunft stattfinden. Im sozialen Kraftfeld fallen die Entscheidungen. Dort müssen sie auch fallen. Die Kirchen treten in den Hintergrund, sind aber dennoch auf diese Weise, aus diesem Hintergrund, orientierend präsent. Sie verkörpern die langjährige Tradition und lassen die Stimmen der Vergangenheit zu Wort kommen, aber die Entscheidung über den nächsten Schritt, die Kreativität, mit der eine neue Gesellschaft initiiert wird, fällt in das Feld, in dem die gesellschaftlichen Kräfte interagieren. Das ist der Ort, an dem sie ihre Bekleidung durch historische Mächte erhalten müssen, um nicht nackt aufeinander zu prallen, sondern den Beitrag des anderen anzuerkennen. Die Kirche und die kirchliche Tradition wirken auf der Distanz des Geistes.

Fazit: eine gemeinsame Mission für Ost und West

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden das lebendige Sprechen und die Grammatik der Sprache als Quelle gesellschaftlicher Orientierung entdeckt. An dieser Entdeckung waren sowohl russische als auch westliche Theologen und Philosophen beteiligt. Sie sahen in der entstehenden globalen Gesellschaft den Beginn des Zeitalters des Geistes. Für Ehrenberg, insbesondere in seinem Buch Die Heimkehr des Ketzers, bedeutet dies ein globales gegenseitiges (oder allseitiges) Erbe der Traditionen der jeweils anderen. Für Russland und Europa sollte dies laut Ehrenberg einerseits die Russifizierung Europas und andererseits die Europäisierung Russlands bedeuten. Die Russifizierung 60 Europas befreit das westliche Denken von der Instrumentalisierung des Menschen in der Sphäre der Arbeit und von einer rein rationalistisch-utilitaristischen Ethik im gesellschaftlichen Verkehr. In der Sowjetunion übernahm der wissenschaftliche Sozialismus diesen westlichen Ansatz und setzte ihn noch konsequenter um. Die östlich-orthodoxe Spiritualität aber legt einen Boden liebender Selbsthingabe unter die Existenz durch den Geist, der vom Vater ausgeht und durch den Sohn unter uns wirkt. Es ist jedoch an der Zeit, dass diese gläubige Erkenntnis aus den verborgenen Tiefen der Kirche in den öffentlichen Raum der Gesellschaft getragen wird. Dies kann geschehen, indem diese theologische Formulierung vom Geist, der vom Vater ausgeht und durch den Sohn zu uns kommt, aus dem geschlossenen Raum der kirchlichen Liturgie in das gesellschaftliche Leben getragen wird. Dann wird der Mensch in die Position des antwortenden Du versetzt und als Antwort auf den Appell der Liebe zu einem Wir geführt, das in gegenseitiger Verantwortung die Gesellschaft der Zukunft aufbaut 61. So weit ist es nicht, noch nicht - noch nicht im Osten, aber auch nicht im Westen.

Und doch hat sich in den rund hundert Jahren seit den Entdeckungen von Rosenstock-Huessy und Ehrenberg etwas verändert, denn es hat sich eine Ethik der Verantwortung und der gegenseitigen Kommunikation herausgebildet, die das immer noch vorherrschende instrumentelle Denken ergänzt. Der Appell an die Verantwortung und die gegenseitige Kommunikation wird oft dann laut, wenn eine Krise auftritt, die nicht mehr durch kühles Kalkül und Planung gelöst werden kann. Dann bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als mit dem Räsonieren aufzuhören und miteinander zu reden.

Um die vorherrschende Instrumentalisierung im gesellschaftlichen Verkehr und in der Arbeit zu kompensieren, suchen die Menschen im Westen nach Selbstbestimmung und konzentrieren sich auf das individuelle Glück in der Sphäre der privaten und konsumtiven Existenz. Das Gleiche geschieht in Russland und vielen anderen “östlichen” Ländern. Kleine und verkürzte Menschen flüchten sich in eine Existenz als Konsumenten und Privatleute, im Osten nicht durch den internationalen Wettbewerb der Großkonzerne, sondern unter dem Einfluss eines alles beherrschenden Staates, der nicht, wie von Dostojewski gewünscht, zur Kirche, sondern zu einem zentral gesteuerten hierarchischen Großkonzern geworden ist. Westliche Institutionen, insbesondere eine offene Zivilgesellschaft des gegenseitigen Vertrauens, garantiert durch unabhängige Rechtsinstitutionen, das Erbe der westlichen Geschichte, leiden im Westen oft unter Verschleiß und führen im Osten meist ein Randdasein. Es ist der tapfere ukrainische Staat und die ukrainische Nation, die angesichts des hierarchischen russischen Regimes genau ihren Anteil an diesem westlichen Erbe aus der Zeit vor dem UdSSR 62 wiederbeleben.

Aber wenn die Sprache als Mittel der Verständigung und als Mittel zur Schaffung von Verständnis und Gleichzeitigkeit auf beiden Seiten ernster genommen worden wäre, hätte es diesen Konflikt nicht geben müssen. Dann hätte der Westen Russland in den 1990er Jahren möglicherweise nicht einseitig Liberalisierung und Marktkräfte aufgezwungen. Er hätte verstanden, dass dies in Russland, wo es eine Zivilgesellschaft des Vertrauens und der gegenseitigen Zusammenarbeit nicht gab, nur kontraproduktiv sein kann. Dies war der Fall, und das Ergebnis war die Kleptokratie von Putin und seinesgleichen. Russland hätte das westliche Erbe der Rechtsstaatlichkeit und der Zivilgesellschaft in einem langsameren Tempo übernehmen müssen. Wäre umgekehrt die Entdeckung der Sprache des Appells und der Antwort der Religion auch in Russland stärker in die Gesellschaft hineingetragen worden, wie es sich Florenski und Ehrenberg vorstellen, hätte Russland vielleicht nachgedacht und von seinem Versuch Abstand genommen, den ukrainischen Staat zu übernehmen. Wenn man den Mantel der Sprache abwirft, bleiben Nihilismus und Verlogenheit übrig. Putin und seinesgleichen tun nicht nur der Ukraine Gewalt an, sondern auch ihrer eigenen russischen Tradition. Sie haben sie in einen engstirnigen Nationalismus und Imperialismus verwandelt, der vom Schatz der Barmherzigkeit der orthodoxen Tradition abgekoppelt ist. Weder Russland noch der Westen hatten die nötige Größe, um diesem Konflikt zuvorzukommen und ihn abzuwenden.

Kleine und kurzlebige Menschen - darauf weist Rosenstock-Huessy immer wieder hin - gehen auf die Suche nach Wir-Verbindungen, entwurzelt und auf der Suche nach Identität. Doch sich selbst überlassen und ohne Inspiration suchen sie nun nicht das Wir der Vollendung, als Antwort auf den Ruf des göttlichen Ichs und in Nachahmung der göttlichen Du-Person, sondern sie leben in einem vergangenheitsorientierten Wir und greifen auf alte Mythen zurück. Wem der Mut für die Zukunft fehlt, der weicht immer wieder in die Vergangenheit aus. Diese Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es nicht gibt, die nicht mehr möglich ist und die es eigentlich nie gegeben hat, ist der gemeinsame Nenner vieler Weltpolitiker und Bevölkerungen in Ost und West. Sie finden ihre Anhänger in mutlosen Menschen ohne Inspiration, die sich mit dem zufrieden geben, was das Schicksal ihnen zuwirft. In ihrer Phantasie sind sie allmächtig, und alles Recht ist immer auf ihrer Seite, und sie fühlen sich immer angegriffen, weil der andere die Ursache für das erlittene Leid ist.

Ist eine wirklich multipolare Weltgesellschaft möglich, in der die Gesellschaften nicht nur gleichgültig nebeneinander existieren, sondern voneinander lernen und die Perlen des gegenseitigen Erbes übernehmen 63? Rosenstock-Huessy spricht von einem mehrsprachigen Frieden 64. Damit meint er dasselbe wie Ehrenberg mit der Heimkehr der Ketzer: Die Kostbarkeiten der eigenen Tradition werden in das umfassende Netzwerk der Weltgesellschaft eingespeist und es findet ein Austausch statt. Gegen die Instrumentalisierung und Unterwerfung von entmündigten Menschen die von Tag zu Tag leben suchen sowohl Ehrenberg als auch Rosenstock-Huessy nach Menschen, die über ihren eigenen Leben hinausschauen können. Solche Menschen leben aus einer länger andauernden Geschichte und versuchen darüber hinaus, den nächsten Schritt zum Vollendung zu verkörpern. Sie leben aus der Inspiration einer Zeit vor ihnen, die sie als Erben verkörpern, und einer Zeit nach ihnen, die ebenfalls in ihrer Lebensweise Gestalt annimmt. So werden sie größer als sie waren, größer als Rädchen in der Maschine der Produktion und des Konsums, Menschen die von Tag zu Tag leben und nicht wissen, woher und wohin. Johannes nennt diese Überschreitung der eigenen Lebenszeit in seinem Evangelium immer “ewiges Leben”. Die Menschen werden zu Inkarnationen der gesamten Weltgeschichte und machen ihre Inspirationen zu Beiträgen für die Gesellschaft von morgen, im Konzert, in Reaktion auf und in Verbindung mit anderen Inspirationen, die zum Frieden beitragen. Die gegenwärtige Situation mit ihren Konflikten und Spannungen unterstreicht die Notwendigkeit dieser Aufgabe. Doch inmitten aller Entmutigung gibt es einen Trost: Das, was nötig ist, geschieht, denn das Werk des Geistes wird immer im Verborgenen vorbereitet. Das ist die Art und Weise, wie der Geist wirkt.

Otto Kroesen

5. Oligarchii post portas

P. Clodius Pulcher als Exemplar eines politischen Hasardeurs

Michael Sommer, Volkstribun. Die Verführung der Massen und der Untergang der Römischen Republik, Stuttgart: Klett-Cotta 2023.

Donald Trump kommt aus New York und er entstammt einer vermögenden, bürgerlichen Familie des städtischen Geschäftsadels. Daß er deshalb besonders gebildet sei, kann man nicht behaupten. Es ist eher verwunderlich auf welchem Niveau er „performt“. Man könnte es positiv wenden: Er hat sich erfolgreich auf das Angeben spezialisiert. Und das imponiert, zumindest in den Vereinigten Staaten. Donald Trump dürfte der erfolgreichste Populist der Gegenwart sein. Aber auch in anderen Regionen des Globus ist die Phalanx der Populisten in den letzten 30 Jahren erheblich gewachsen und das dürfte kein Zufall sein.

In den Zeiten des Oligarchenkapitalismus kann es nicht überraschen, wenn das Vertrauen immer größerer Teile der Bevölkerung in die etablierten Institutionen erodiert. Wie Dietmar Dath in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung feststellte, geht es dabei immer weniger – klassisch demokratisch - um rechts oder links: „Man hat es bei Silicon Valley weniger mit einem dieser vielberedeten Hufeisen zu tun, dessen Extreme einander zugeneigt sind, als vielmehr mit einem Hase-und-Igel-Arrangement: Wer weder Kapital noch Immobilien hat, mag Demokraten oder Republikaner wählen, die Tech-Biester warten egal weg auf beiden Seiten nur darauf, das Leben zu „siliconisieren“ – so nennt es Erin McElroy, Autorin der eben erschienenen lehrreichen Untersuchung „Silicon Valley Imperialism“ einen gigantischen Prozess der Zurichtung wirtschafts- und sozialpolitischer Gegebenheiten nach Tech-Imperativen, dessen Reichweite, wie McElroy aufzeigt, von Kalifornien bis Rumänien historisch nie dagewesene Effekte zeitigt.“65

Donald Trump, Peter Thiel, Elon Musk, Bill Gates, Curtis Yarvin, Mark Zuckerberg, Tim Cook oder Sundar Pichai haben mit ihren Milliardenvermögen sittenwidrige Einflußmittel auf die öffentliche Meinung und untergraben so jedwede demokratische gesellschaftliche Ordnung. Mit ihren monopolartigen Geschäftsmodellen führen sie jedwede Form von sozialer Marktwirtschaft ad absurdum. Erst wird geklaut, dann honoriert man die besten Anwälte, um sich Schadensersatzforderungen vom Leib zu halten! Dagegen sind Deutschlands einflußreiche „Oligarchen-Erb-I-nnen“ und Merkel Freundinnen Mohn, Springer, Miele, Bauknecht, Kladden oder Schaeffler fast harmlos. Kein Wunder, dass normale Bürger die Faxen dicke haben und der seit den 80er Jahren vordrängenden abgehobenen politischen karrieregeilen Snobelite mit ihren Angeberphrasen und geschönten Lebensläufen nicht mehr über den Weg trauen. Trump steht als Exempel für das Bündnis von Mob und Elite, von dem Hannah Arendt gesprochen hat. Und er ist nicht ohne Vorgänger, selbst in der alten Welt.

Nach dem ersten verlorenen Weltkrieg war der Ruf nach einem Führer besonders stark, nicht nur in Deutschland. Und die immer nationalistischere Abschottungspolitik vieler Staaten führte dann fast zwangsläufig in eine Weltwirtschaftskrise, die neuen Heilsbringern einen Standortvorteil gab.

Vor der Versuchung des großen Führers sah sich Eugen Rosenstock gefeit, weil durch seine Valediktionsarbeit ernüchtert. Als eine solche „Schulabgangsarbeit“ widmete er sich dem Intimfeind des größten klassischen römischen Rhetors, Cicero.

Während meiner letzten Schuljahre wurde dieses Wühlen in Geschehnissen und Wörtern – alles Sprachliche berauschte mich – allmählich ergänzt durch meine ersten Versuche echten Schaffens. Das Leben eines römischen Schurken, des Publius Clodius Pulcher, wurde verfaßt als Werk der „Valediktion“ an mein Gymnasium, ein Tribut, wie er an gewissen alten humanistischen Anstalten jeweils von einem oder zwei Vertretern des Jahrgangs der Alma mater geliefert wird. Dieses mein erstes längeres Buch enthielt gewiß keinen Satz, für den die alte Quelle nicht von mir gefunden und nachgewiesen war. Und ich macht eine Anzahl von einschlägigen Entdeckungen. Sie liegen noch unentdeckt in dieser Monographie, die in einigen Abschriften in den Regalen der Bibliothek des Joachimsthaler Gymnasiums begraben wurde, nachdem der Direktor einige passende Worte der Anerkennung gesagt hatte. Da dieser Mann einer der hervorragendsten Kenner Ciceros war und da Clodius der größte Feind Ciceros gewesen ist, hielt meine Enttäuschung über dieses 5-Minuten-Interview lange an.66

Über Jahrhunderte bildete das Römische Imperium einen Maßstab großer Politik, mindestens im westlichen Kulturkreis.67 Noch darüber hinaus verweist der Name Zar nach Caesar auf die langfristigen Prägungen des Altertums. Dies gilt für die Architektur wie für die überlieferten Textzeugnisse. Für die amerikanische Republik führte der Weg genauso über Rom (die Einzelstaaten mit ihrem Capitol Hill) wie in Frankreich oder Großbritannien. Auch St. Petersburg wurde maßgeblich von italienischen Arbeitern und Architekten erbaut. Entsprechend wurden die klassischen Sprachen gepflegt, wann immer eine Gesellschaft einen machtvollen Anspruch erhob. Ein klassischer Topos in der internationalen Politik ist seit Edward Gibbon „The Decline and Fall of the Roman Empire“. Daß er die Relevanz des Christentums für den Untergang die antiken Welt betonte, verschaffte seiner These umso mehr Aufmerksamkeit. Welches Echo Rom für die aufstrebenden Giganten China und Indien überhaupt haben kann, wird sich zeigen. Europa hat seit Bologna abgedankt, auch bildungspolitisch. Es sollte nicht verwundern, dass in Japan mehr Exemplare der Max Weber Gesamtausgabe verkauft wurden, als in Deutschland und dass Carl Schmitt in China ernsthaft studiert wird. Beide Vordenker sind Musterexemplare der preußisch-deutschen Hegemonialbestrebungen im 19. Jahrhundert. In die gleiche Kategorie fällt auch Eugen Rosenstock-Huessy. Von früh an bildungsbeflissen und „neuer Dinge begierig“ sprach und schrieb er Latein wie seine Muttersprache. Und er war als Abiturient so tief in die römische Geschichte eingetaucht, dass er die Machtspiele der herrschenden Elite souverän und plastisch beschreiben konnte. An den führenden Gymnasien war nicht nur die klassische lateinische Literatur vorhanden, dort wurden auch die führenden altertumswissenschaftlichen Fachzeitschriften in einem Ausmaß abonniert wie heute nicht einmal mehr in durchschnittlichen Universtätsbibliotheken. Nicht erst der Auswanderer schleppte waschkörbeweise Bücher aus der Bibliothek des Dartmouth College nach Four Wells.

Einer der nach wie vor bedeutendsten wie lesenswerten Pädagogen Preußens hat in seiner „Geschichte der gelehrten Unterrichts“ das Lateinische als die Nabelschnur bezeichnet, „wodurch zwischen der neuen und der alten Bildung der Zusammenhang erhalten wird.“68

„Endlich noch ein Vorteil: die Sprache der Alten ist abgeschlossen und unveränderlich; die Verhältnisse der geistigen Welt sind begrenzt und übersehbar; die großen Schriftsteller liegen in einer nicht allzu großen Zahl nicht allzu umfangreicher Werke vor und beziehen sich alle aufeinander: in dieser begrenzten und in sich abgeschlossenen Welt kann schon der Schüler so heimisch werden, daß er sich mit einer gewissen Selbständigkeit darin bewegt. Hier kann er arbeiten lernen, kleine Untersuchungen mit begrenztem Material ausführen, Untersuchungen über sprachliche Erscheinungen oder über sachliche und persönliche Verhältnisse. Man nehme die Gruppe der lateinischen Schulschriftsteller: Caesar, Tacitus, Livius, Cicero, Virgil, Horaz. Auf dem engen Raum laufen überall Beziehungen hin und her, schon der Primaner kann dahin kommen, dieses Stück geschichtlichen Lebens — und wie wichtig ist es: es umfaßt die Zeit, wo im Osten das Christentum aufgeht und im Norden das Germanentum die erste Berührung mit der alten Kulturwelt hat — als ein Ganzes zu sehen, öffentliche und private, literarische und wissenschaftliche Verhältnisse und ihre Wechselwirkung aufzufassen. Wo wäre etwas Derartiges auf modernem Boden möglich?“69

Eugen Rosenstock ist für diese These ein exemplarischer Fall. Geboren in eine wohlhabende Familie war er einer der vielen Erfüllungsträumer seiner Generation. Anders als die Naziprototypen der Generation nach 1900 oder der von Max Weber als Epigonen der Reichsgründung charakterisierten Jünglinge nach 1848, profitierten die Erfüllungsträumer von Bildung und Besitz ihrer Väter. Diese hatten ihre geistigen Ambitionen zurückgestellt und in harter Arbeit die Vermögen geschaffen, in deren Sicherheit die Söhne ihre geistigen Träume (auch ihrer Mütter) Wirklichkeit werden lassen konnten, wie Walter Benjamin, Siegfried Landshut, Ernst Cassirer, Norbert Elias, Franz Rosenzweig, Karl Mannheim, Georg Lukacz, Ernst Walter Curtius, Hannah Arendt, Theodor Wiesengrund, Friedrich Oppenheimer und andere. Daß die Pennäler des Kaiserreichs keine Skrupel hatten, ihre „Klassiker“ zu kritisieren, demonstriert der vorwitzige Max Weber. Seinem kaum älteren Schwager Fritz Baumgarten teilte er schriftlich mit: „Was nun den Cicero betrifft, so kann ich nicht behaupten, dass mir derselbe besonders gut gefallen hat. Ich finde z.B. dass seine erste catilinarische Rede durchaus aller Feurigkeit und Entschiedenheit entbehrt. Ich habe bisher fast in jedem Buche über Cicero, das ich gelesen habe, ihn gelobt gefunden, aber ich weiß wirklich nicht, worauf sich dieses Lob gründet.“70

Der Name Cicero ist dank seiner geschliffenen Rhetorik nach wie vor einschlägig bekannt. Dagegen dürfte Publius Clodius Pulcher vollständig unbekannt sein. Sein Biograph hält ihn für eine Schlüsselfigur der späten Republik.71 Changierend zwischen den militärisch erfolgreichen „Machern“ Pompeius und Caesar sowie dem mit seinem Riesenvermögen unumgänglichen Crassus wechselte Clodius unentwegt seine Mitspieler und bediente sich fast jedes Mittels, um möglichst hoch hinaufzukommen, auch wenn er nach altem Recht und den alten Formen der Republik unerhört agierte: „Dem Neuplebejer Clodius spielte offensichtlich ein in der späten Republik laxer gewordener Umgang mit früher penibel gehandhabten Instrumenten des Sakral- und Zivilrechts in die Hände.“72 Er entstammte der Familie der Claudier und damit dem römischen Altadel. Seine Vorfahren hatten die höchsten Ämter der Republik bekleidet und galten als mustergültige und uneigennützige Diener des Staates. Die ersten Schritte des Nachfolgers sind ohne dieses Ahnenkapital gar nicht verständlich. Das Leben des Clodius sollte dieses Erbe auf den Kopf stellen, ja schon sein Namenswechsel von Claudius zu Clodius signalisierte seinen revolutionären Anspruch.

„Einst hatte sich der ehrgeizige Spross aus gutem Haus als Offizier des Lucullus verkleidet, um an dessen Orientfeldzug teilnehmen zu können. Dann hatte sich der designierte Quästor als Frau verkleidet, um zu den Feiern für die Bona Dea in Caesars Haus zu gelangen. Und jetzt verkleidete sich eben ein blaublütiger Vertreter des alten römischen Adels als Plebejer, um Volkstribun werden und auf popularem Ticket den Kredit sammeln zu können, den er für seine weitere Karriere brauchte.“73

Umfassend und anschaulich schildert der klassische Philologe Michael Sommer den Aufstieg und Fall des Volkstribunen. Akribisch geht er den Wurzeln der Familie und ihrer Einbettung in die herrschende Elite der späten römischen Republik nach. Dabei scheut er sich nicht, mit einzelnen Vokabeln Parallelen in die Gegenwart zu ziehen, ein Geschäft, daß schon Theodor Mommsen ausgiebig betrieben hatte. Es fällt auch das Wort des „Durchregierens“. In seiner Schilderung des Hasadeurs fällt viel Schatten auf die politischen Wettstreiter seiner Karriere und damit auf die herrschenden Kreise Roms: „Vatinius hatte zur Jagd auf den Leviathan geblasen, doch Clodius brachte ihn mit seiner Taktik des Terrors durch wohldosierte, chronische Gewalt zur Strecke.“74 Clodius war vor allem deshalb besonders auffällig, weil er sich immer genau dort tummelte, wo etwas zu holen war. Er war zwar skrupellos, aber er hatte auch politischen Instinkt. „Er spielte an den entscheiden Punkten seiner Karriere gerne Vabanque, mit geradezu schwindelerregend hohen Einsätzen.“75

Die Pointe der Studie von Michael Sommer ist die Spekulation, daß die Römische Republik vielleicht länger bestanden hätte, wenn Clodius nicht vom Schachbrett gefegt worden wäre, sondern weiter zwischen allen Parteien intrigiert hätte. Eine interessante Spekulation, aber auch nur das.

Und genau mit diesem Revolutionär der Römischen Republik befaßte sich der Schüler Eugen Rosenstock, etwa zwei Jahre, bevor er die Ausarbeitung seinem Joachimsthaler Gymnasium verehrte. In vier Kapiteln auf 70 Schreibmaschinenseiten entfaltete er ein Panorama der späten römischen Republik und näherte sich dem Begriff der Revolution, um das Titel und Themen seiner späteren Arbeiten kreisen sollten. Minutiös konsultierte er alle Originalquellen, auch wenn dies nach der damals neuesten Ausgabe des einschlägigen Lexikons leicht zu bewerkstelligen war.76 Ob ihm dabei die klassischen Valediktionsarbeiten von Leopold Ranke, Friedrich Nietzsche oder Ulrich Wilamowitz-Moellendorf vor Augen standen mag offen bleiben.

Es war ein Glück für mich, daß der Held meiner Valediktionsarbeit von 1904 bis 1906. P. Clodius Pulcher, ein solches Scheusal war, daß mir schon damals beim Schreiben aufging, es sei denn doch in der Geschichte ohne Auslese nicht auszukommen. Die um jene Zeit umgehende blinde „Renaissance-Begeisterung“ rühmte ja Cesare Borgia und alle die anderen Hitler jener Zeit. Mein Schufterle Clodius – seine Schwester machte meinen geliebten Catull unglücklich – nahm es an Spitzbüberei mit jedem Renaissancehelden auf. Daher war ich imstande, die Verbindungsfäden zu ziehen und den Gobineau-Geymüllerschen Kult von „uns Bürgern der Renaissance“ auf Grund meiner klassischen Philologie abzuschütteln. Damit schüttelte ich die zentralen Zeitmode ab, ohne es zu wissen. Ich bin durch jenen Schritt ein für allemal gegen die Dunstkreise Stefan Georges, Spenglers, Marxens, Nietzsches immunisiert worden. Die Gleichsetzung des Verbrechers und des Übermenschen hat mich seitdem nie wieder versucht.77

Auch nach mehr als einhundert Jahren kann der Schüler mit dem Professor von heute mithalten, was allein schon beeindruckend ist. Mehr als Michael Sommer geht Eugen Rosenstock auf die sozialgeschichtlichen Umstände der späten Republik ein. Sommer kennt die Valediktionsarbeit nicht, aber auch bei ihm fällt der Begriff des Hexenkessels, mit dem der Abiturient schließt: „In einem brodelnden Hexenkessel wallt eine schillernde Blase empor und zerplatzt“78 Worauf der Schüler dabei anspielte ist nicht schwer zu ergründen. Es war ein Referent an seinen Charlottenburger Nachbarn Theodor Mommsen. Michael Sommer führt dessen Zitat vom „Hexensabbat“ bei Caesars Weggang aus Rom an. „Der wichtigste Spieler in diesem Spektakel war Publius Clodius.“79 Und er hatte ein vollkommen neues Spiel eröffnet, das bis in die Gegenwart aufgeklappt wird:
Clodius hatte das Freiheitspathos, das die Republik seit dem Ende des Königtums hochhielt, mit einem völlig neuen Sinn aufgeladen. Libertas, das war nicht nur die negative Freiheit von etwas: der tyrannischen Gewalt eines Königs. Libertas war jetzt auch die positive Freiheit aller Bürger im Sinne von Isaiah Berlin: eine Ermöglichungsfreiheit, in der die Vision von einem erfüllten Leben steckt, davon „Subjekt, nicht Objekt“ zu sein, „eigenen Gründen und bewußten Absichten zu folgen“.80

Als Folge seiner Intrigen fällt Clodius einem Attentat zum Opfer. Donald Trump ist dieses Schicksal knapp erspart geblieben.

Sven Bergmann

6. Die Wiederkehr der Stämme

Bausteine einer „Ökonomie“ der Menschenheit

Erst kürzlich sind erneut beeindruckende Werke zu ethnographischen Themen erschienen: Charles King widmet sich dem weit vernetzten Schülerkreis von Franz Boas. Karl-Heinz Kohl und Klaus Theweleit legen je eine altersweise Quintessenz ihres Arbeitsfeldes vor. Alle Werke sind klar strukturiert und bieten auch für Laien spannende und lehrreiche Einblicke in ihre Forschungen. Karl-Heinz Kohl hat neun Stämme verschiedener Kontinente, Kulturkreise und Zeiten ausgewählt, um charakteristische Merkmale einzelner Stämme vorzustellen. Schon klassisch ist der Fall der Irokesen, deren beratende Demokratie schon Lewis Henry Morgan fasziniert hatte, dessen Studien von Karl Marx und Friedrich Engels aufgegriffen wurden. Für jeden der neuen Fälle trägt er zusammen, wie die Geschichte des Stammes überhaupt überliefert und erforscht wurde sowie welches Echo die jeweilige Entdeckung im westlichen Kulturkreis hatte. In der Vergangenheit waren es vor allem die zuhörenden, zugewandten, emphatischen Forscher, die wesentliche Erkenntnisse über die Stammeskulturen sammeln konnten. Zum Teil waren die ersten Kontakte der Stämme mit Eroberern oder Forschern aus dem Westen friedlich, zum Teil brutal; immer aber war die Spannung zwischen den, aus europäischer Sicht exotischen Ritualen und Gewohnheiten und der durch starre bürgerliche Konventionen geprägten westlichen Gesellschaften produktiv. Vieles ist nur überliefert, weil Menschen bereit waren, Lebenszeit mit einem Stamm zu teilen. Die ersten Aufzeichnungen sind meist subjektiv, unreflektiert und mit einigem zeitlichen Abstand verfaßt. Später kommen Ton- und Filmaufnahmen, etwa vom Schlangenritual der Hopi hinzu, das zu einer Touristentattraktion des gehobenen Bürgertums mutierte. Die soziologische Methode des Interviews zog mit Margaret Mead erst im frühen 20. Jahrhundert in die Forschung ein. Wurden Stammeskulturen anfangs noch statisch dem so umtriebigen Westen entgegengestellt, war es eine Erkenntnis der ethnographischen Kontroversen der Moderne, daß auch die Stämme oder vielleicht sogar gerade die Stämme immer wieder existentiellen Verwandlungsprozessen unterlagen und unsere Überlieferung nur einen ganz kleinen Teil der Wirklichkeit aufdecken kann.

Der Gang hub an beim vorgeschichtlichen Stamm, bei einer kleinen Gruppe rasender und erschreckter, schreiender und hüpfender Menschen, die sich ein Herz faßten, sprachen und tanzten, und so von Schrecken, Geschrei und Rennen zu einer geistgetriebenen Ordnung des Lebens fortschritten. Sie stellten einander unter Verben, Pronomina, Namen und Zahlen. Die Sprache machte sie menschlich, sie bekleidete sie und erfüllte sie mit Kraft als Kinder des Menschen, als Vernehmer der Geister ihrer Toten, als Vorfahren und Nachfahren. Ihre Zeiten wurden ihnen eingeätzt. So wußten sie, in welche Zeit sie gehörten.81

Die dritte Perspektive, die Kohl in das Gespräch einbezieht, ist das Echo der Stämme und ihrer „Produkte“ in den westlichen Gesellschaften, insbesondere in der künstlerischen Avantgarde. Das Spektrum reicht von den unappetitlichen Menschenschauen um die Jahrhundertwende bis zum Surrealismus, für den die Stämme ein tieferes, ehrlicheres Menschentum verkörperten, als der korrumpierte obsessive Westen, ganz in der Nachfolge Rousseaus. Die Südseebegeisterung der Brücke, des Expressionismus oder des Kubismus wären zu ergänzen. Die für das 20. Jahrhundert so revolutionäre Komposition des „Rite of Spring“ von Igor Stravinsky ist ohne seinen Austausch mit dem Ethnologen Nicolas Roerich undenkbar. Auch hier katapultierte der Erste Weltkrieg mit seinen „exotischen“ Kolonialtruppen auf verschiedenen Schlachtfeldern das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne auf eine ganz neue Ebene. Und natürlich spielte sexuelle Freizügigkeit im Kontrast zum zugeknöpften Westen immer eine Rolle. Was der Wirklichkeit entsprach oder in die harmonische Stammeswelt hineinprojiziert wurde, wird sich nie mit Sicherheit feststellen lassen. Immerhin hat der Westen seine Überheblichkeit eingebüßt. Und doch muß man feststellen, dass sich das Verhältnis zu den - so sie denn noch existieren - Stämmen generell zum besseren entwickelt hat: Die überhebliche, abwertende Einstellung, die wir im 16. oder 17. Jahrhunderte bis hin zu den Menschenschauen des 19. Jahrhunderts finden können, sind heute nicht mehr denkbar. Fraglich ist allerdings auch, ob hinter den bewahrten Formen der Vergangenheit noch der ursprüngliche teils brutale, schmerzhafte oder streng dem Gruppenverhalten verpflichtete Impetus steckt. Und auch das ist eine Erkenntnis der Ethnographie des 20. Jahrhunderts: Die Vorstellung, dass die Stämme statisch ohne historische Veränderung gelebt hätten ist irrig. Das Leben ist in Bewegung jenseits von Stämmen, Reichen oder Gesellschaften. Schon in einer seiner früheren Veröffentlichung hatte Karl Heinz Kohl betont, daß die Kosmogonie und Mythologie der afrikanischen Dogon der der alten Ägypter, Griechen und Römer und auch Chinas und Indiens in nichts nachstehe.82 Kohl war viele Jahre Direktor des Frobenius Instituts an der Frankfurter Universität und ist einer der besten Kenner der anthropologischen Forschung. 2024 wurde ihm der renommierte Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zuerkannt. Dabei steht er gänzlich über den sterilen Aufgeregtheiten des Tages, die mehr über ihre Protogonistinnen und Propagandisten aussagen, als über die historische Entwicklung. Denn die immer wieder behauptete Überheblichkeit ist dem Westen schon lange abhanden gekommen:

Stellt es nicht ein Hindernis für das wechselseitige Verstehen dar, wenn es nur noch den Angehörigen der eigenen Kultur erlaubt sein soll, über deren Geschichte und gegenwärtige Lebensformen zu forschen? Und betont es nicht gerade den besonderen Wert der eigenen Kultur, wenn ihre künstlerischen Formen weltweit aufgegriffen werden oder eine ganze Gesellschaft sich dazu entschließt, die in der Fremde vorgefundenen demokratischen Institutionen zum Vorbild der eigenen zukünftigen politischen Verfassung zu nehmen, wie dies in den nordmerikanischen Siedlerkolonien des 19. Jahrhunderts geschah?83

Max Weber hatte schon vor einhundert Jahren jegliche Überheblichkeit und Fortschrittseuphorie in die Schranken verwiesen:

Der Fortschritt der gesellschaftlichen Differenzierung und Rationalisierung bedeutet also, wenn auch nicht absolut immer, so im Resultat durchaus normalerweise, ein im ganzen immer weiteres Distanzieren der durch die rationalen Techniker und Ordnungen praktisch Betroffenen von deren rationaler Basis, die ihnen, im ganzen, verborgener zu sein pflegt wie dem „Wilden“ der Sinn der magischen Prozeduren seiner Zauberers. Ganz und gar nicht eine Universalisierung des Wissens um die Bedingtheiten und Zusammenhänge des Gemeinschaftshandelns bewirkt also dessen Rationalisierung, sondern meist das gerade Gegenteil. Der „Wilde“ weiß von den ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner eigenen Existenz unendlich viel mehr als der im üblichen Sinn „Zivilisierte“. Und es trifft dabei auch nicht universell zu, daß das Handeln des „Zivilisierten“ durchweg subjektiv zweckrationaler ablaufe. Dies liegt vielmehr für die einzelnen Sphären des Handelns verschieden: ein Problem für sich. Was der Lage des „Zivilisierten“ in dieser Hinsicht ihre spezifisch „rationale“ Note gibt, im Gegensatz zu der des „Wilden“, ist vielmehr: 1. der generell eingelebte Glaube daran, daß die Bedingungen seines Alltagslebens, heißen sie nun: Trambahn oder Luft oder Geld oder Gericht oder Militär oder Medizin, prinzipiell rationalen Wesens, d.h. der rationalen Kenntnis, Schaffung und Kontrolle zugängliche menschliche Artefakte seien, - was für den Charakter des „Einverständnisses“ gewisse gewichtige Konsequenzen hat, - 2. die Zuversicht darauf, daß sie rational, d.h. nach bestimmten Regeln und nicht, wie die Gewalten, welche der Wilde durch seinen Zauberer beeinflussen will, irrational funktionieren, daß man, im Prinzip wenigstens, mit ihnen „rechnen“, ihr Verhalten „kalkulieren“ , sein eigenen Handeln an eindeutigen, durch sie geschaffenen Erwartungen orientieren könne. Und hier liegt das spezifische Interesse des rationalen kapitalistischen „Betriebes“ an „rationalen“ Ordnungen, deren praktisches Funktionieren er in seinen Chancen ebenso berechnen kann wie das einer Maschine. Davon an anderer Stelle.84

Das war auch die Position von Franz Boas und seiner Schule, für die der Begriff des Kulturrelativismus sehr schlüssig angeführt worden ist.

Aber warum sind diese Studien im Zusammenhang von Eugen Rosenstock-Huessy von Interesse? Wie kaum ein anderer Soziologe, Historiker oder Philologe hat er sich mit Stämmen beschäftigt, ohne eine Fährte zu legen oder genauer: ohne zumindest ein adäquate Menge an Fußnoten zu hinterlassen.85 Dreimal hat er seine Bibliothek für das wirkliche Leben geopfert. Wieviele Bücher seine Pferde von Dartmouth nach Four Wells getragen haben, läßt sich nur erahnen. Für die Rekonstruktion dieser Anregungen ist der Überblick von Karl-Heinz Kohl goldwert. Ergänzt er doch die schon bekannten Schriften von Friedrich Engels, Eduard Meyer, Max Weber, Kurt Breysig oder andere dürftige Anmerkungen.86 Der Weg zur Rekonstruktion seiner fiktiven Bibliothek ist noch unabsehbar.

„Im Breysig bin ich jetzt beim Studium des Geschlechterstaates der Irokesen angelangt. Es ist das wirklich eine fesselnde Lektüre! Ich staune immer wieder über die Fülle des verarbeiteten Materials.“87

Neben dem Thema der Revolution tauchen die Stämme in der intellektuellen Biographie von Eugen Rosenstock-Huessy immer wieder auf. In seinem Studium bei dem führenden Berliner Ägyptologen Adolf Erman, in seinen Studien zum Sprachnamen deutsch zwischen „Königshaus und Stämmen“, bei dem Sprache und Religion eine gemeinsame friedensstiftende Klammer zwischen verschiedenen Stämmen in Mitteleuropa bildeten, in den Stämmen der Industrie, in der fundamentalen Bedeutung des Stammes für die Formierung von Familien mit Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Just in seinen Heidelberger Studienjahren wurde von der dortigen Universitätsbuchhandlung Carl Winter die neue ethnologische Zeitschrift „Wörter und Sachen“ verlegt. In deren Vorwort heißt es:

„Nach einer Periode heilsamer Beschränkung der sprachlichen Studien auf die Erforschung der lautlichen Veränderungen scheint die Zeit gekommen zu sein, den Wortbedeutungen, den Sachen, wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Unter Sachen verstehen wir nicht nur die räumliche Gegenstände, sondern ebensowohl Gedanken, Vorstellungen und Institutionen, die in irgendeinem Worte ihren sprachlichen Ausdruck finden. Jede Philologie kann auf einzelne überzeugende Etymologien hinweisen, die aus der Kenntnis der Sachen entsprungen sind. Daß man trotzdem nicht schon längst für alle Etymologie überhaupt das Herbeiziehen der Geschichte der Sachen verlangt hat, ist in dem fast ausschließlichen Interesse begründet, das die letzten Dezennien den „Lautgesetzen“ zuwandten. Diese Beschränkung entspricht nicht den Tatsachen. Mit vielen Anderen sind wir überzeugt, daß Sprachwissenschaft nur ein Teil der Kulturwissenschaft ist, daß die Sprachgeschichte zur Worterklärung der Sachgeschichte bedarf, sowie die Sachgeschichte, wenigstens für die ältesten Zeiten, der Sprachgeschichte nicht entraten kann. Wir glauben, daß in der Vereinigung von Sprachwissenschaft und Sachwissenschaft die Zukunft der Kulturgeschichte liegt.88

Das kann man auch als Programm lesen, dem sich Eugen Rosenstock-Huessy zeitlebens verpflichtet fühlte. In seiner Soziologie, vor allem im dritten Teil seiner Vollzahl der Zeiten unter dem Oberbegriff der “Institutionen”, wird er das Spannungsfeld und die historische Abfolge von Stämmen, Reichen bis hin zur globalen arbeitsteiligen Gesellschaft herausarbeiten, mit der Pointe, dass es im dritten Jahrtausend zu einer Bildung von Stämmen neuer Art kommen werde, von Stämmen, die nicht auf den Rückblick zu einem Ahnen festgenagelt sind, sondern sich vielstimmig zur Zukunft öffnen, zur „Vollzahl der Zeiten“. Deshalb seien hier nur kurz einige Aspekte seiner Typologie der Stämme angedeutet. Denn anders als Karl-Heinz Kohl suchte er das Typische der Stämme zu ergründen. Seine wichtigste Quelle zur Entschlüsselung der Stämme war die Sprache:

„Die Sprache ist die politische Verfassung einer Gruppe über die Lebenszeit und den Lebensraum jedes Individuums, über den common sense und die leiblichen Sinne hinaus.“89

Ohne eine gemeinsame Sprache kann es auch keinen Frieden zwischen menschlichen Gruppen und Verbänden geben:

„Die erste politische Gemeinschaft, der Stamm, wurde auf dem Frieden zwischen Familien errichtet. Die Familien sind Unterteilungen eines Stammes. Keine Familie kann außerhalb des Stammes bestehen. Das Gegengewicht zu dem Frieden der Familie sind die Orgien und Eheklassen des Stammes. Logischerweise geht die „Idee“ des Stammes der Familie voraus. Die herkömmlichen Sätze unserer Bücher, wonach Familien zu Stämmen heranwuchsen, müssen revidiert werden. Familien wachsen nicht zu Stämmen heran, sondern gehen von Stämmen aus.“90

„Dieser common sense bildet sich in einer Familie, einer Friedensgruppe, welche auf Eifersucht, Tyrannei, Rebellion und Mord verzichtet. Er hält die Gruppe im Schatten des Stammschutzes so weit für gesichert, daß er nicht nötig hat, die hohen Worte, Gesänge, Beschwörungen, Gelübde und Formeln zu gebrauchen, welche an den Festtagen des Stammes gesprochen werden. Der common sense verläßt sich auf diesen Hintergrund; während der ganze Stamm sich explizite (formal, genau) erklären muß, kann irgend eine common sense Gruppe implizite (nachlässig, formlos) verfahren.“91

Unter dem Druck der Gräber wird eine neue Sprache geschaffen, die Freundschaft und Feindschaft signalisiert und diese erste Sprache ist die Tätowierung der Haut:

Tätowierung ist aber die erste Schrift der Menschheit. Nomaden tätowieren, weil jeder Krieger die Verfassungsurkunde als eine lebenslängliche Buchausgabe auf sich trägt. Die Bibel eifert gegen diese Ätzrunen und belegt sie mit Todesstrafe. Natürlich, denn die Bibel hat zwei Fronten: gegen Ägypter und Nomadenstämme, gegen Schreiben und Tätowieren. In Kairo aber lebst Du nur, wenn Du den Kampf der Schreiber gegen die Tätowierer nachexerzierst, der Ägypter gegen die Beduinen. Die geheimnisvolle List des Schöpfers erhält jede ältere Stufe inmitten der jüngeren. Die Juden müssen unter den Christen verweilen; sonst werden die meisten Christen unvermerkt zu bloßen Juden, wie es die üblichen Kirchgänger ja sind.92

Aus solchen Überlegungen ergibt sich dann auch die Abfolge und Relevanz bestimmter Kulturen, die ihre Spuren bis in unsere Gegenwart hinterlassen haben. Die Anzahl der Stämme in der Geschichte der Menschheit ist unübersehbar groß. Nur ein winziger Teil ist in Form von bearbeiteten Artefakten, Masken, Idolen, Totempfählen, Booten etc. auf uns gekommen, der Großteil für immer verschwunden. Um zu überleben haben sich Stämme in verschiedenster Form spezialisiert, ja sie waren dazu gezwungen, um gegen Hitze oder Kälte, Trockenheit oder Überschwemmungen, gegenüber Raubtieren oder Naturkatastrophen und schließlich gegenüber anderen Stämmen zu bestehen. Stämme hatten ihre natürlichen Grenzen. Rosenstock-Huessy schätzt die maximal mögliche Population eines Stammes auf wenige tausend Menschen: „So sind meistens höchstens drei- bis fünftausend Zeitgenossen in einem Stamm vereinigt. Aber die Pharaonen haben diese Art der Vereinigung durch eine völlig neue Größenordnung übertroffen. Die Stämme zählten Ahnen, neun Generationen oder höchstens zwölf.“93 „So ein kleiner Stamm ist also eine respektable Großmacht. Seine Macht reicht durch Jahrtausende und über Erdteile. Obgleich er seinen lebenden Gliedern nur 150 oder 200 Jahre und ein paar tausend Quadratmeilen bewußt einprägt und erschließt, existiert er 6000 Jahre und länger; er vermag Asien und die 12 000 Kilometer des Stillen Ozeans zu überqueren.“94 Erst die Reiche haben die Stämme in Quantität und Kraftentfaltung übertroffen. Sie waren in der Lage zur Spezialisierung und sie haben die Sterne vom Himmel auf die Erde geholt. Wie konnte man dazu kommen, Sterngucker über vierhundert, sechshundert, tausend Jahre zu unablässiger, unaufhörlicher, seßhafter Beobachtung von Himmel und Land freizusetzen: „Den Häuptling zeichnet die Ahnenrune auf seiner Haut aus. Den Pharao bezeichnet die Steinrune auf seinem Haus. Sie läßt alle Teile, Bewohner, Mitglieder des Hauses frei verschiebbar gegeneinander. Indem die Schrift auf Stein geritzt wird, befreit sie den Ätzrunenträger, den Krieger, und erlaubt ein Gewimmel von Vielen, Hofstaat, Gefolge, Priester, Soldaten, Ärzte, Baumeister, von Ständen, alle mit unter die in die Steinrunen verewigte Verfassung zu treten. Das, was in den Stein eindringt, scheint nie zu sterben.“95 Und so erklären sich auch einige der Schwerpunkte mit denen sich Eugen Rosenstock-Huessy zeitlebens beschäftigte: den Stämmen, die dem Reich Ägypten vorauslagen und mit dem Volk Israel, daß gegen den Pharao revoltierte, mit dem Griechen, die bahnbrechend für die absichtslose Betrachtung der Natur waren oder mit dem Islam, der gegen den Trend revoltierte:

„Als den letzten freien Stämmen die Aufsaugung durch Reiche und Städte, Juden und Kirche drohte, brach Mohammed hervor und schuf einen Stamm aller Stämme. Nicht umsonst hat er an Abrahams Wüsten-Sohn, das Kind der Hagar, Ishmael, sein Werk geknüpft. Der Islam ist eine Anklage gegen die Unfähigkeit der Reiche, der Juden, der Griechen, der Kirche; sie hatten der Araber – oder Germanen, oder Bantus, oder Fischi-Insulaner – schriftlose, tempellose, bilderlose, reichslose Stammesalter nicht befriedigt. Wie Moses „sieben“ und „zwölf“ vertauscht hat, so hat Mohammed die Funktionen von Rausch und Frauenliebe ausgetauscht.“96

Und schließlich stellte das Christentum die vier Antiken auf den Kopf. Die vier Evangelien zielen jeweils gegen eine der vier in der Antike gegebenen Antworten auf die Frage nach dem richtigen Leben. Dieses Meisterstück wird in der „Frucht der Lippen“ als Teil und Sonderband aus der Sprache des Menschengeschlechts vorgelegt.

„Weil Israel die weltumfassende Wahrheit birgt, hat nur die Welt im Ganzen der erste Echo dafür ausbilden können. So etwas wie der Nazismus kann die Rolle des Judentums nicht einmal von ferne wahrnehmen, und eben deshalb kann er sie nicht ertragen. Wir Menschen sind aber noch gar keine Menschen, wenn wir nicht auch den von uns allerverschiedensten Menschen anerkennen. Denn vorher erkennen wir noch gar nicht die Großartigkeit und die Weite unseres eigenen Wesens. Das kleine Israel hat das Feinde-umfassende Zeitalter verbindende Geheimnis „Mensch“ zuerst abseits der Welt betreut. Dann kommt der König der Könige. Zwischen Jerusalem und Kyros aber standen noch eigensinnig sowohl um 1300 wie um 550 die Völker. Erst bei Konstantin sind 1. der Welt-Kaiser, 2. das Gottesvolk und 3. die vielen Völker alle drei auf Hörweite einander nahe gerückt. Wir werden also die Jahre 1280, 540 vor Christi Geburt und 325 unseres Herrn ineinander verknüpft zu lesen haben.“97

Wenn Eugen Rosenstock-Huessy 1950 in seiner Göttinger Universitätsvorlesung seine akademischen Zuhörer mit dem Vorwurf konfrontierte, zu kurz zu springen, so lösen Karl-Heinz Kohl oder Klaus Theweileit genau diesen Anspruch auf Horizonterweiterung ein. Damals in Göttingen machte er der Universität den Vorwurf „babylonischer Gefangenschaft“.98 Er regte einen Blick auf die „hohe Schule des Genies in Griechenland“ an. Aber selbst eine „so kurzatmige Weltgeschichte“ von Salamis und den Thermophylen bis zu Karl Jaspers könne man sich „nicht mehr leisten.“ (Ein Hinweis auf den Begriff der „Achsenzeit“, der von dem Heidelberger Ägytologen in seinem letzten Werk vor seinem Tod wieder aufgegriffen wurde99) Das Blickfeld müsse sich um 500 Jahre weiten „in die Zeiten der Argonauten und des Kadmos, der den Griechen die Schrift brachte“100. „Die ideale Hochschule bestände aus einem Vorfeld, in dem sich die Lehrer außerhalb der Staaten und die Schüler außerhalb ihrer Familien träfen.“ Erkennbar ganz im Gegensatz zur Zeitströmung in der Professoren Beamte ihrer Staaten wurden und Studenten in einem immer höheren Anteil auch während des Studiums im Kreis ihrer Familie wohnten. Beiden Polen der Universität fehle daher der Abstand und die Freiheit von den Machthabern, von Reichen und Stämmen. Für diesen Abstand stünden die Namen „Salamis“ und „Thermophylen“.101 Ob dieses Bild angesichts der neuen Harmonie- und Freudenhäuser mit einem Schwerpunkt bei den pseudo-angewandten Wissenschaften noch trifft, mag dahingestellt bleiben.

Der kurze Text nahm kaum eine Seite der Deutschen Universitätszeitung ein, aber er hatte es in sich. Das war eine Kampfansage, nicht nur in Göttingen! Während die körperlich und geistig ausgehungerten Ordinarien auf den nächsten Tag schauten, öffnete Eugen Rosenstock-Huessy den Horizont in Dimensionen, die er sich im Schatten der vergangen „tausend Jahren“ des Dritten Reiches erarbeitet hatte, die Einbettung der europäischen Geschichte in die Weltgeschichte und die besondere Bedeutung von Stämmen, Reichen, Nationen und der Gesellschaft in ihrer Bedeutung für die Welt in der wir im dritten Jahrtausend leben.102

Die Herren von Salamis waren also in Tyros und Sidon, in Byblos und Lybien beheimatet. Ihre Häfen verwerteten das Erbe der großen Festlandsreiche. Byblos war ein religiöser Vorort des Pyramidenreichs. Was für ein Abstand von ihrem Herkommen für Schüler wie Lehrer. Indoeuropäische Ritter gingen bei Schiffskapitänen aus Reichshäfen in entlegenen Emporien in die Schule. Als Pilot der Argos wird ein Phönizier genannt.103

Der Aufsatz endete mit einem Appell an Professoren und Studenten, diesen Abstand zu gewinnen, denn nur so könne es wieder eine Universität geben, die diesen Namen verdiene. Nur dann könnten beide „vielleicht“ dem Menschengeschlecht „in den Trümmern der Fabriken und Schulen, der Nationen und Religionen und Rassen zu Leben verhelfen.“104

Unsere Einfalt im Zeitalter der Naturwissenschaft ist stets die gleiche: die Menschen halten ihre politische Lebensordnung für natürlich und spotten des Glaubens. Denn sie leugnen, daß die Ordnung ohne ihre gläubige, tägliche, opferwillige Anerkennung zusammenfiele. Ein blendendes Beispiel dieser Einfalt ist heut die Behandlung der Keuschheit und der Blutschande. Daß Brüder und Schwestern, Eltern und Kinder in Frieden miteinander leben, galt durch Jahrtausende für so heilig, daß man es beim Einbruch des Atheismus seit 1850 bereits für einen Teil unserer Natur hielt. Da kam die Psychoanalyse. Und nun stellen unsere Dichter und Soziologen alle Regeln des häuslichen Lebens in Frage, nur weil das Haus und seine Keuschheit jetzt geehrt werden müßte als ein gläubig von uns erschaffenes unaufhörlich neu ins Leben gerufenes Gebilde. Das Haus ist nicht natürlich und trotzdem und gerade deshalb müßte es geheiligt werden. Das können Leute, die ein für allemal die Gesellschaft für unnatürlich erklären, aber die Natur heilig gesprochen haben, nicht denken.105

Das einzige, was die europäische Kultur von China, Babylon, Indien oder Ägypten unterscheidet bis heute, ist dieses Ringen zwischen Haupt und Herz, in dem der Leib Christi körperlich sichtbar jedem Machthaber entgegentritt, ohne ihn zu vernichten. Dies große Drama soll nach dem Willen seines Stifters der Welt seit jenen ersten Ostern immer neu gespielt werden. Wir sehen, der neue Proteus des Herzens, der sich den bloßen Naturgewalten im Völkerleben entgegenwirft, muß täglich überraschende Erfolge erzielen. Er muß das Leben besser meistern können als die bloßen Naturen.106

Ob wir dereinst vor diesem Anspruch bestehen werden?

7. Jahrestagung 11.10. - 13.10.2024

Eugen Rosenstock-Huessys Entdeckung des Kreuzes der Wirklichkeit ist nicht nur didaktische Erweiterung der Subjekt-Objekt-Beziehung von Ich-Es zur Vierzahl Du-Ich-Wir-Es, also ein Hinzufügen zweier fehlender Gesichtspunkte. Seine Entdeckung impliziert, von ihm selber oft aufgezeigt und bis jetzt noch verkannt, eine neue Grundlegung der sozialen Wissenschaften, ein Novum Organum für das dritte Jahrtausend.

In einer Zeit, in der sich, aus dem Gewahrwerden der Unterschiede, soziale Gruppen und Nationen auseinander bewegen und bekämpfen, stellt sich die Frage ob, und gegebenenfalls wie, ein friedliches Zusammenleben möglich ist und wie es gestaltet werden kann.

Rosenstock-Huessy deckt die sprachliche Verfasstheit sozialer Gruppen auf und zeigt wie wir im Angesprochenwerden und im Gegenwort auf eine Weise gebildet werden, die überkommene Grenzen überwinden und neue Einheiten stiften kann.

Auf unserer Jahrestagung mit dem Thema: „Haben wir das Friedenschließen verlernt? - Die Lektion Rosenstock-Huessys für ein friedliches Miteinander” wollen wir dem nachgehen. Als Textgrundlage sollen uns die beiden Stücke aus dem Jahre 1954: Dich und Mich dienen.107108

Die Jahrestagung findet vom Freitag 11.10. - Sonntag 13.10.2024 im Haus am Turm, Essen statt. Die Mitgliederversammlung wollen wir am Sonntagmorgen abhalten.
Sie sind herzlich eingeladen!

Um eine gute Planbarkeit zu gewährleisten, wollen wir sie bitten uns Ihre Teilnahme baldmöglichst an Thomas Dreessen mitzuteilen.

Programm der Jahrestagung:

Haben wir das Friedenschließen verlernt?
Die Lektion Rosenstock-Huessys für ein friedliches Miteinander

Freitag, 11.10 18:00 Eintreffen
  18:30 Abendessen
  19:30 Gesprächsfähigkeit gesucht
  21:00 Geselliges Beisammensein
Samstag, 12.10 8:30 Frühstück
  9:30 Textlesung: „Dich und Mich”
  10:45 Pause
  11:00 Stand der Wissenschaft bzgl. Rosenstock-Huessys Lehre
  12:30 Mittagessen
  15:00 Kaffeepause
  15:30 Frieden zwischen Sachsen und Franken. Werdener Führung
  18:30 Abendessen
  20:00 Dialogisches Musizieren nach Goethe
  21:30 Geselliges Beisammensein
Sonntag, 13.10 8:00 Morgenandacht
  8:30 Frühstück
  9:30 Rückblick – Plenumsgespräch
  10:45 Mitgliederversammlung
  12:30 Mittagessen
  13:00 Abreise

Jürgen Müller

8.
Einladung zur ordentlichen Mitgliederversammlung

      am 13. Oktober 2024, 10:45 Uhr
 Haus am Turm, Essen

9. Tagungsort und Anmeldung

Die Jahrestagung findet vom 11. bis 13. Oktober 2024 statt im
Haus am Turm, am Turm 7, 45239 Essen-Werden, Tel. 0201-404067.  
Beginn ist am 11. Oktober 2024 um 18 Uhr mit dem Abendessen.
Kosten
Die Kosten betragen € 140 bei Unterbringung im Doppelzimmer, € 180 bei Unterbringung im Einzelzimmer, für Bettwäsche wird € 8,50 berechnet. Die Anzahl der Einzelzimmer mit Bad/WC ist begrenzt. Interessenten, die die Tagungskosten nicht in voller Höhe aufbringen können, mögen sich bitte an Thomas Dreessen wenden.

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Thomas Dreessen

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zum Seitenbeginn

  1. Östliches Christentum. Dokumente, i.V.m. Nicolai v. Bubnoff hrsg.v. Hans Ehrenberg, Bd.I: Politik, München: C.H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck 1923; Östliches Christentum. Dokumente, hrsg.v. Nicolai v. Bubnoff, Hans Ehrenberg, Bd.II: Philosophie, München: C.H. Becksche Verlagsbuchhandlung 1925. 

  2. D-Day- War,Russia and Discovery, Seite 20 

  3. Der Begriff stammt von William James. 

  4. D-Day aao S.78 

  5. D-Day… aao Seite 110.94: Hans Ehrenberg hat 1925 in zwei Bänden unter dem Titel: Östliches Christentum – Dokumente I. Politik. II. Philosophie Dokumente der Arbeit russischer Philosophen, Theologen und Soziologen an der Begegnung Ost-West herausgegeben. Am Ende des 1.Bandes steht sein Kommentar: Die Europäisierung Rußlands. Am Ende des 2. Bandes steht sein Kommentar: Die Russifizierung Europas. 

  6. D-Day uam. 

  7. D-Dax.. aao 110 

  8. Eugen Rosenstock-Huessy und Dietrich Bonhoeffer-Zeugen der Wende in unserer Zeit, UNIVERSITAS, April 1966; Offensive 92/6 12/2016 

  9. Beyond Belief s.136 uö 

  10. Pp 187; uö 

  11. Von Vitalij Mahlin, Alexander Pigalev uam. Zunächst in US Verlag, dann in einem russischen Verlag. – Anm: Bis heute ist die deutsche Übersetzung von Dr. Eckart Wilkens + nicht veröffentlicht! 

  12. Gardner zitiert Kennan in der Einleitung zum Handbuch für Bürger Diplomaten, das er ihm gewidmet hat: „If we insist on demonizing these Soviet leaders – on viewing them as total and incorrigible enemies, consumed only with their fear or hatred of us, and dedicated to nothing other than our destruction – that, in the end, is the way we shall assuredly have them, if for no other reason than that our view of them allows for nothing else, either for them or for us.” (1981)- “For all their historical and ideological differences, these two peoples – the Russians and the Americans – complement each other; together, granted the requisite insight and restraint, they can do more than any other two powers to assure world peace.” (1983) 

  13. Beyond Belief 81f und 198f; cf. Letters… 3ff: Planetary Consciousness 

  14. Argonautik nennt ERH seine neue Wissenschaft im Unterschied zur Akademik. 

  15. Ehrenberg, H., 1923., Östliches Christentum, Bd. I, II, Rosenzweig, F., 1921., Der Stern der Erlösung, Rosenstock-Huessy, E., 1920., Die Hochzeit des Krieges und der Revolution, und 1924 Angewandte Seelenkunde. 

  16. Rosenstock Huessy, E., 1924., Angewandte Seelenkunde: Ein programmatische Übersetzung, Darmstadt, Röther-Verlag. 

  17. Lossky, V., 2022. The Mystical Theology of the Eastern Church, Crux Press, p. 25 (first edition 1944). 

  18. Rosenstock-Huessy, Christ, Moses, Pharao, 23-2-2024. 

  19. Van Kapella - das ist eine Anspielung auf die Kappa von Martin von Tour, dem großen abendländischen Heiligen. Karl der Große versuchte, aus seinem Andenken Autorität abzuleiten. Siehe: Rosenstock–Huessy, E., Wittig, J., 1998. Die Furt der Franken und das Schisma, in Das Alter der Kirche, in Agenda, Münster, pp. 460-533, (Orig. 1928). 

  20. Die Synode von Nizäa im Jahr 787 befasste sich mit der Frage, ob Ikonen in der Kirche zulässig seien. Der Islam hat ein striktes Bilderverbot, und unter seinem Einfluss wurde die Frage aktuell, ob die Kirche nicht auch dieser Politik folgen sollte. 

  21. Rosenstock-Huessy, E., 1998, Ibid. 

  22. Rosenstock-Huessy, E., 1998, Ibid. Das Nizänische Glaubensbekenntnis wurde auf dem großen ersten Konzil der Kirche festgestellt, das 325 unter dem Vorsitz von Konstantin dem Großen tagte, der gerade zum Christentum übergetreten war. In diesem Glaubensbekenntnis, in dem die Kirche ihren Glauben zusammenfasst, findet sich die Formulierung, dass die Kirche unter anderem “… an den Heiligen Geist glaubt, der Herr ist und lebendig macht, der vom Vater (und dem Sohn) ausgeht, der zusammen mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der durch die Propheten gesprochen hat”. In der Fassung von 325 fehlt der Klammerzusatz “und der Sohn”. Diese Formulierung wollten die Hoftheologen Karls des Großen einfügen. 

  23. Rosenstock–Huessy, E., 1989. Die Europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Moers, Brendow, p. 155, (Orig. 1931). 

  24. Rosenstock-Huessy, E 1963.Liturgisches Denken, p. 468, in Die Sprache des Menschengeschlecht, Bd. I, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg. 

  25. Rosenstock-Huessy, Ibid. 468. 

  26. Rosenstock-Huessy, Ibid. 475. 

  27. Rosenstock-Huessy, E., 1989, pp.169 vv. Es ist wichtig zu beachten, dass Städte auch von Bruderschaften regiert wurden. Alle Bürger der Stadt waren Mitglieder dieser Bruderschaft und leisteten einen Eid auf die so erlassenen Gesetze. 

  28. Rosenstock-Huessy, E., 1989, p.148. 

  29. Der besagte Text wird in den Statuten der Bruderschaften häufiger zitiert. Rosser, G., 2015. The Art of Solidarity in the Middle Ages – Guilds in England 1250-1550, Oxford, United Kingdom, p. 59. 

  30. Rosenstock-Huessy, E., 1998, pp. 38,39. 

  31. Greif, A. 2006. Family Structure, Institutions, and Growth: The Origins and Implications of Western Corporations, American Economic Review, 96 (2): 308-312. 

  32. Rosenstock-Huessy, Ibid., p. 41. 

  33. Rosenstock-Huessy, Ibid., p. 41. 

  34. Moore, R.I., 2000. The first European Revolution, 970-1215, Blackwell Publishing, Oxford, p.57. 

  35. Rosenstock-Huessy, Ibid., p. 45. 

  36. Rosenstock–Huessy, E., Wittig, J., 1998. Die Epochen des Kirchenrechts, pp.31-58, in Das Alter der Kirche Bd.II, in Agenda, Münster (Orig. 1928), p. 46. 

  37. Rosenstock-Huessy, Ibid., p. 58. 

  38. Rosenstock-Huessy, Ibid., p. 58. 

  39. Ehrenberg H., 1923. Östliches Christentum, 2Bd. Oskar Beck München. 

  40. Ibid. Bd. 1, p. 337. 

  41. Thon, N., 1986., Hans Ehrenbergs Auseinandersetzung mit dem “östlichen Christentum”, in Franz Rosenzweig en Hans Ehrenberg, Bericht einer Beziehung, Arnoldhainer Texte, Haag und Herchen, pp.150 e.v. 

  42. Ibid. Bd. 1, p. 344. 

  43. Ibid. Bd. 1, p. 336, zie ook: “Nur das politisch integrierte Russland in Europa, in der vollen Entfaltung seiner politischen Leidenschaften, schließt sich nun auch geistig an Europa an” p. 345. 

  44. Ibid. Bd. 1, p. 356 Ehrenberg sagt das über die Sovjet-Union. 

  45. Ibid. Bd. 1, p. 358. 

  46. Ehrenberg, H. 1920. Die Heimkehr des Ketzers – eine Wegweisung, Patmos Verlag, Würzburg, pp. 46 e.v. 

  47. Berdjajew, N., 1948., The Russian Idea, New York, MacMillan, (Orig. 1947), p. 128. 

  48. Ibid. 1923., p. 367. 

  49. Rosenstock-Huessy, 1989, p. 251. 

  50. Rosenstock-Huessy, 1920., Das Kapitel Die Tochter, pp.270-288. 

  51. Florenski, P., An den Wasserscheiden des Denkens, edition KONTEXT, pp. 76 e.v. 

  52. Melzer, F., 1973. Das Licht der Welt, Ev. Missionsverlag Stuttgart, p.52, weist darauf hin, dass Wirklichkeit ein Wort ist, das im Westen ebenfalls christliche Ursprünge hat, nämlich aus der Mystik als Übersetzung des lateinischen actualitas stammt. Es bezieht sich auf das Wirken Gottes. 

  53. Laslett, P., 2015. The World We Have Lost, Further Explored, Routledge, New York, (Original 1965). 

  54. In dieser scheinbar rein säkularen Betrachtung der Natur blieb ein wichtiges Element des Glaubens behalten. Denn man ließ sich nicht mehr von der chaotischen Welt in Panik versetzen, sondern wandte sich im Glauben furchtlos der scheinbar gespenstischen Welt zu und entdeckte dank dieses Glaubens eine Ordnung in ihr. Siehe Rosenstock-Huessy, E., 1964. In die Zahlensprache der Physik, in Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. II, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, pp.221-276. 

  55. Rosenstock-Huessy, E. 1970. Speech and reality, Norwich, Argo Books, p. 26, 27: “Natural philosophy and natural science endeavor that the facts which we obtain through the senses about physical nature and its elements, may be proved, with the exception of space and its expansion by necessary reasoning without the authority of our impression.” Auf der Seite davor hat er Anselms theologische Regel für die Scholastik wiedergegeben, die sich die Naturwissenschaft als Vorbild für den Umgang mit der “Wirklichkeit” nimmt. “The science of theology with its organon logic, is based on one irreducible datum in experience, the Crucifixion; all the rest is given to free research and disputation.” 

  56. Zo Rosenstock-Huessy über den Opiumkrieg, den England zum Wohle der indischen Opiumbauern gegen China führte. Mit diesem Krieg setzte sich England angeblich für den Freihandel ein, der von China bedroht wurde, ohne die schädlichen Auswirkungen des Opiums auf das chinesische Volk zu berücksichtigen. Siehe Peace Corps, 1966, https://www.erhfund.org/search-the-works/ 26-2-2024. 

  57. Rosenstock-Huessy, E., 2001, Friedensbedingungen der planetarische Gesellschaft: zur Ökonomie der Zeit, Ed. Rudolf Hermeier, Agenda Verlag, pp.103-112. 

  58. Rosenstock-Huessy, E., 1924. Industrievolk, Carolus-Druckerei, Frankfurt, p. 38. 

  59. Rosenstock-Huessy, E., 1970. Articulated speech, pp.45 - 66, in Speech and Reality. 

  60. Natürlich ist mit Russifizierung in Ehrenbergs Sprache etwas ganz anderes gemeint als das, was das Regime in Russland mit der Russifizierung der ukrainischen Bürger und Gebiete bezweckt. 

  61. Kroesen J.O., 2015. Towards Planetary Society: the Institutionalization of Love in the work of Rosenstock-Huessy, Rosenzweig and Levinas, in Culture, Theory and Critique, Taylor and Francis 56:1, DOI: 10.1080/14735784.2014.995770, pp. 73-86. 

  62. Hrytsak weist darauf hin, dass Peter der Große mit seiner Zentralisierungs- und Reformpolitik die damals gängige Ideologie des europäischen aufgeklärten Despotismus übernahm, Yaroslav Hrytsak, Ukraine – The Forging of a Nation, Sphere, Londen, 2023, p.112. Es ist ein gutes Beispiel dafür, was schief gehen kann, wenn Institutionen linear von einem Kontext in einen anderen übernommen werden. Schließlich hatte der aufgeklärte Despotismus trotz seines Namens in Westeuropa immer noch ein ausreichendes Gegengewicht und schaffte deshalb die Rolle der unteren Behörden nicht ab, sondern machte sie zweitrangig. Dieselbe Politik bedeutete in Russland, wo es diese Selbstorganisation von unten noch nicht gab, etwas ganz anderes. 

  63. Sowohl Putin als auch Xi behaupten, eine multipolare Weltordnung anstreben zu wollen. Aber gerade sie sind Vertreter eines zentralistischen Staatsapparates, der sich noch nicht für den Dialog, die Interaktion mit der Zivilgesellschaft mit ihren vielen Akteuren geöffnet hat. Eine wirklich multipolare Gesellschaft erfordert Vielstimmigkeit sowohl innerhalb als auch zwischen den Staaten. 

  64. Rosenstock-Huessy, E., 1993. Mad Economics or Polyglot Peace, in Stimmstein 4, Talheimer, pp. 24 – 69. 

  65. Dietmar Dath, Für eine Handvoll Metadaten. Egal, wie die Menschen in den USA im November abstimmen: Die Macht der politischen hungrigen Tech-Industrie wird sich kaum vom verfassungsmäßigen Souverän abwählen lassen, in: FAZ Nr. 185 v. 10.8.2024. 

  66. Eugen Rosenstock-Huessy, Biblionomica. Die neun Leben einer Katze, in: ders., Unterwegs zur planetarischen Solidarität: Sammeledition von Der unbezahlbare Mensch (1955),(1965), Ja und Nein - Autobiographische Fragmente (1968), hrsg. von Rudolf Hermeier, Münster: Agenda-Verlag 2006, S.292. 

  67. Zum Hintergrund aktuell: Aldo Cazzullo, Ewiges Imperium. Wie das Römische Reich die westliche Welt prägt, Hamburg: HarperCollins Verlag 2024. 

  68. Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, dritte, erw. Aufl., hrsg.v. Rudolf Lehmann, 2. Bd., Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter & Co. 1921, S.576. 

  69. Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, dritte, erw. Aufl., hrsg.v. Rudolf Lehmann, 2. Bd., Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter & Co. 1921, 653. 

  70. Max Weber an Fritz Baumgarten, 11. September 1878, in: ders., Briefe 1875-1886, hrsg.v. Gangolf Hübinger, Thomas Gerhards, Uta Hinz (= MWG II/1), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2017, S.121. 

  71. Michael Sommer, Volkstribun. Die Verführung der Massen und der Untergang der Römischen Republik, Stuttgart: Klett-Cotta 2023, S.36. 

  72. Michael Sommer, Volkstribun. Die Verführung der Massen und der Untergang der Römischen Republik, Stuttgart: Klett-Cotta 2023, S.165. 

  73. Michael Sommer, Volkstribun. Die Verführung der Massen und der Untergang der Römischen Republik, Stuttgart: Klett-Cotta 2023, S.166. 

  74. Michael Sommer, Volkstribun. Die Verführung der Massen und der Untergang der Römischen Republik, Stuttgart: Klett-Cotta 2023, S.280. 

  75. Michael Sommer, Volkstribun. Die Verführung der Massen und der Untergang der Römischen Republik, Stuttgart: Klett-Cotta 2023, S.155. 

  76. Art.: P. Clodius Pulcher, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Neue Bearbeitung, hrsg.v. Georg Wissowa, Siebenter Halbband, Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1900, S.82-88. 

  77. Eugen Rosenstock-Huessy, Mihi est propositum. Ein autobiographischer Zusatz zur „Sprache des Menschengeschlechts“, in: ders., Unterwegs zur planetarischen Solidarität: Sammeledition von Der unbezahlbare Mensch (1955),(1965), Ja und Nein - Autobiographische Fragmente (1968), hrsg. von Rudolf Hermeier, Münster: Agenda-Verlag 2006, S.241. 

  78. Eugen Rosenstock, P. Clodius Pulcher, S.71, DVD reel 1/005. Zitat von Sommer auf Seite 269. 

  79. Michael Sommer, Volkstribun. Die Verführung der Massen und der Untergang der Römischen Republik, Stuttgart: Klett-Cotta 2023, S.210. 

  80. Michael Sommer, Volkstribun. Die Verführung der Massen und der Untergang der Römischen Republik, Stuttgart: Klett-Cotta 2023, S.217. 

  81. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Frucht der Lippen, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.797. 

  82. Karl-Heinz Kohl, Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne, München: C.H. Beck 2024, S.247. 

  83. Karl-Heinz Kohl, Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne, München: C.H. Beck 2024, S.11ff. 

  84. Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie <1913>, in: ders., Verstehende Soziologie und Werturteilsfreiheit. Schriften und Reden 1908-1917, hrsg.v. Johannes Weiß i.Z.m. Sabine Frommer (= MWG I/12), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2011, S.440. 

  85. In einer der letzten Mitteilungen wurde schon auf seine Entdeckungen anläßliche einer Wanderung in British Columbis gesprochen. 

  86. Zu denken ist etwa an Bronislaw Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik, 1922 oder Richard Thurnwald, Economics in primitive societies, 1932. 

  87. Eugen Rosenstock-Huessy, Zurück in das Wagnis der Sprache. Ein aufzufindender Papyrus, Berlin: Käthe Vogt Verlag 1957. 

  88. Wörter und Sachen. Kulturhistorische Zeitschrift für Sprach- und Sachforschung, hrsg.v. R. Meringer, W. Meyer-Lübke, J.J. Mikkola, R. Much, M. Murko, Bd. I (1909), Heidelberg: Carl Winter‘s Universitätsbuchhandlung 1909ff.: Sprache und Recht 

  89. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2. Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.498. 

  90. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.495. 

  91. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2. Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.496. 

  92. Eugen Rosenstock-Huessy, Die angeschriebene Ewigkeit. Briefe nach Kairo, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.600. Vgl. dazu insbesondere: Otto Lauffer, Über die Geschichte und den heutigen volkstümliche Gebrauch der Tätowierung in Deutschland, in: Wörter und Sachen, Bd.VI (1914-1915), S.1-14. 

  93. Eugen Rosenstock-Huessy, Die angeschriebene Ewigkeit. Briefe nach Kairo, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.601. 

  94. Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie, 2. Bd.: Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1958, S.319. 

  95. Eugen Rosenstock-Huessy, Die angeschriebene Ewigkeit. Briefe nach Kairo, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.692. 

  96. Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie, 2. Bd.: Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1958, S.374. 

  97. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2. Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.760. 

  98. Diesen Begriff zitierte er von seinem Freund Hans Ehrenberg, der diesen in seiner Kritik des deutschen Idealismus angeführt hatte: Hans Ehrenberg,, Disputation. Drei Bücher vom deutschen Idealismus: Fichte. Der Disputation erstes Buch, München: Drei Masken Verlag 1923; ders., Disputation. Drei Bücher vom deutschen Idealismus, 2. Buch: Schelling, München: Drei Masken Verlag 1924; ders., Disputation. Drei Bücher vom deutschen Idealismus, 3. Buch: Hegel, München: Drei Masken Verlag 1925. Vgl.: Friso Melzer, Zur babylonischen Gefangenschaft der Universität und zu ökumenisch-indischen Erfahrungen, in: Jenseits all unsres Wissens wohnt Gott. Hans Ehrenberg und Rudolf Ehrenberg zur Erinnerung, hrsg.v. Rudolf Hermeier, Moers: Brendow-Verlag 1987, S.18-20. 

  99. Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, München: C.H. Beck Verlag 2018. 

  100. Zum Hintergrund: Angela Kühr, Als Kadmos nach Boiotien kam. Polis und Ethnos im Spiegel thebanischer Gründungsmythen (= Hermes – Einzelschriften; Bd. 98), Wiesbaden: Franz Steinr Verlag 2006. 

  101. Auf welchem Niveau sich deutsche Universitäten inzwischen wiederfinden, offenbart der nicht gehaltene Vortrag von Egon Flaig: Mathias Brodkorb, Akademischer Suizid? Die Ausladung Egon Flaigs durch die Universität Erlangen, in: FAZ Nr. 166 v. 20. Juli 2023. Weiter als zu den Griechen reicht der Horizont nicht. Eine neue Hörigkeit gegenüber Stämmen (Identität) und Reichen (Herrschaftsträgern und Geldgebern) dominiert.

  102. Seine „Soziologie“ lag zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht veröffentlicht vor, die Konzeption hatte er sich aber längst erarbeitet. Diese Konfrontation von geistiger Fülle und geistiger Dürre mußte die Angesprochenen überfordern. Den Ordinarien werden mit wenigen Ausnahmen die Ohren geklungen haben: Sie waren noch nicht einmal in Europa angekommen, da predigte man ihnen Weltverantwortung und griff historisch und geographisch über die bisherigen Grenzen griechischer Wissenschaft hinaus! 

  103. Eugen Rosenstock-Huessy, Salamis und die Thermopylen. Ein Beitrag zur Erneuerung der Universität, in: DUZ, V.Jg., H.3 (1950, 10. Febr.), S.5. Eugen Rosenstock hatte in seiner Jugend den Streit um „Bibel und Babel“ verfolgen können. Vgl. dazu: Martin Rade. Theologe, Publizist, Demokrat. 1857-1940. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Marburg (= Schriften der Universitätsbibliothek Marburg; Bd.47), Marburg 1990. 

  104. Eugen Rosenstock-Huessy, Salamis und die Thermopylen. Ein Beitrag zur Erneuerung der Universität, in: DUZ, V.Jg., H.3 (1950, 10. Febr.), S.5. 

  105. Eugen Rosenstock-Huessy, Die angeschriebene Ewigkeit. Briefe nach Kairo, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.625. 

  106. Eugen Rosenstock, Das Herz der Welt. Ein Maßstab für Politik, in: Kirche und Wirklichkeit. Ein katholisches Zeitbuch, hrsg.v. Ernst Michel, Jena: Eugen Diederichs Verlag 1923, S.246. 

  107. Rosenstock-Huessy, Eugen, Dich und Mich. Was folgt aus der empirischen Grammatik, in: Neues Abendland, 9.Jg., H.12 (1954), S.719-727. 

  108. Rosenstock-Huessy, Eugen, Dich und Mich. Lehre oder Mode?, in: Neues Abendland, 9.Jg., H.11 (1954), S.462ff.