Logo Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft Unterwegs zu einer planetarischen Solidarität Menü

Mitgliederbrief 2021-07

Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft e.V.

Dieser Arbeitsdienst also – und ohne ihn werden die Nationen nie zueinander finden – hat mich die ganze Weite der Gesellschaft in Rassen, Religionen, Altern, Geschlechtern zu ehren gelehrt. Daß er Arbeitsdienst heißen muß, das hängt wohl damit zusammen, daß durch ihn der Arbeiter seine Klassenlast, nur Arbeit, nackte Arbeit zu leisten, der gesamten Gesellschaft mitteilt, so daß wieder auch dies Element des Lebens wie alle anderen, sich in uns allen vorfinde. Jeder trage des andern Last. Dem Arbeitsdienst verdanke ich es, Kriegsdienst und Friedensdienst nicht zu verwechseln. Aber beide genügen nicht. Denn beide sind noch mythische Zustände. Da so viel von Mythos die Rede ist, so will ich vorsorglich definieren, was am Heer und an der Arbeit mythisch ist. Nun, beide sind reine Kinder der Zeit, denn der Zeitgeist führt die Kriege herbei; der Stand der Wissenschaft ist für den Stand der Technik verantwortlich. Zeitgeist und Wissenschaft ändern sich unaufhörlich. Die Soldaten aber und die Arbeiter sind diesen Neuesten Nachrichten ausgeliefert. Mythisch lebt der Mensch, der bloßer Zeitgenosse zu sein hat. Der mythische Mensch ist ein Gefangener des Zufalls seiner Geburt in diesen zufälligen Augenblick hinein. Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie I, 1956, p.10

Vorstand/board/bestuur: Dr. Jürgen Müller (Vorsitzender);
Thomas Dreessen; Andreas Schreck; Sven Bergmann
Antwortadresse: Jürgen Müller, Vermeerstraat 17, 5691 ED Son, Niederlande,
Tel: 0(031) 499 32 40 59

Brief an die Mitglieder Juli 2021

Inhalt

  1. Einleitung - Jürgen Müller
  2. Das Volk und die Völker –- Volk im Werden! - Thomas Dreessen
  3. Rainer Maria Woelki, das Kirchenrecht und Rudolph Sohm - Sven Bergmann
  4. Berliner Jugend unter wilhelminischer Kuppel - Sven Bergmann
  5. Brief an Ernst und Nelly Michel - Sven Bergmann
  6. Nachruf Horst-Klaus Hofmann - Thomas Dreessen
  7. Nachruf Karin Scheer - Thomas Dreessen
  8. Nachruf Karl-Johann Rese - Thomas Dreessen
  9. Wenn der Urwald den Atem anhält - Claus Friese
  10. Jahrestagung und Mitgliederversammlung 2021 - Jürgen Müller
  11. Adressenänderungen - Thomas Dreessen
  12. Hinweis zum Postversand - Andreas Schreck

  13. Mitgliederbeitrag 2021 - Andreas Schreck


1. Einleitung

Liebe Mitglieder und Freunde, die Corona-Zeit scheint im Westen fürs erste zu Ende zu gehen. Was wird bleiben? Die Wichtigkeit sozialer Beziehungen? Ein stärkeres Bewußtsein weltweit miteinander zu leben? Rein technisch sind wir weiter zusammengewachsen. Wird daraus eine neue Solidarität folgen?

Im Werk Rosenstock-Huessys hat Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution grundlegende Bedeutung. In den letzten Jahren haben wir uns intensiv damit befasst. Zwei der folgenden Beiträge greifen Aspekte davon auf. Rosenstock-Huessy kündigte darin eine neue Zeit an. Die getrennten Welten waren eine geworden.

Unsere Website (www.rosenstock-huessy.com) ist nach Jahren des Dahinsiechens auf eine neue technische Basis gestellt. Die Struktur ist unverändert, der Inhalt erweitert, aber noch nicht abgeschlossen. Schauen Sie rein und geben Sie Rückmeldung.

Jürgen Müller

2. Das Volk und die Völker – Volk im Werden!1

In den letzten Jahrestagungen haben wir intensiv gearbeitet über Rosenstock-Huessys Buch: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution2, das seine Zeitansage ist für uns in Deutschland, Europa auf dem Planeten nach dem 1. Weltkrieg:

Er sagte schon 1919: Die Zeit des Nationalstaats ist vorbei.3 Gemeint ist damit der Nationalstaat als Ideologie, die Identität von Volk und Staat als Gottesersatz nach dem Tode Gottes(Nietzsche).
Bis heute wird Rosenstock-Huessy wenig gehört obwohl seine Deutung, seine Zeitansage hochaktuell ist. Ich finde sie ohne Bezug auf ihn in den Büchern von Aleida Assmannn: Die Wiedererfindung der Nation – Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen (2020)4 und in Pankaj Mishras brillanter Analyse: Das Zeitalter des Zorns – Eine Geschichte der Gegenwart.5

Assmann spricht insbesondere Deutschland an. Sie setzt sich auseinander mit der Leugnung des Volkes in der herrschenden Erzählung. Sie erkennt, dass die moderne politischen Kategorien links und rechts nicht mehr gelten….. , dass Völker nicht in idealistischen Kategorien gegründet sind und leben können. Sie erkennt und beschreibt, dass die Völker in Narrativen leben, und ohne gemeinsame Erzählung kein Frieden, kein Zusammenleben nachhaltig möglich ist. Sie diagnostiziert dieses Problem sowohl in Deutschland mit seiner nur negativen Geschichtserzählung und den verschiedenen Erzählungen in West und Ost, als auch in USA …, Israel-Palästina …, Großbritannien,…
Sie votiert für den Verfassungsstaat mit positiver Religionsfreiheit. Wie aber das Vertrauen zwischen den Menschen und Völkern in der Gesellschaft gestiftet werden kann? Diese Frage stellt sie nicht!

Mishra blickt auf Europa und erkennt den europäischen Nationalismus als die Inspiration, mit der ausgerüstet die Intellektuellen im Angesicht von Europas industriell und der militärisch rücksichtslos durchgesetzten nationalen Egoismus versuchten ihre Völker in die Zukunft zu retten – indem sie den Vorbildern Europas folgten. Der Nationalstaat mit Industrie wurde zum Versprechen der Freiheit und des Glückes.
Dem judenfeindlichen Unternehmerphilosophen Voltaire, der den individuellen Eigennutz vergötterte und Traditionen und auf ihnen fußende Institutionen verachtete, und sein Antipode in Frankreich, Rousseau, der die Inspiration für das Volk als natürliche Identität schuf war gemeinsam das Ressentiment, also die Abgrenzung von den anderen, ein Feindbild, notwendig für die eigene Identität.
Die idealistisch rationalistischere Variante ist im Kemalismus wirkungsvoll verkörpert. Er war eine technokratische Despotie voller Verachtung für die Geschichte und das wirkliche Leben der Völker in der Türkei. Nicht zufällig war Atatürk leuchtendes Vorbild des Gelingens für Hitler, für Pahlevi im Iran, Indien, …. uvm. – Sozialexperimente.6
Für die völkisch nationalistische Variante habe Deutschland im 19.Jahrhundert das Vorbild geschaffen in der Auseinandersetzung mit Napoleon und der wirtschaftlichen Dominanz der früher industrialisierten Länder England und Frankreich.
Mishra zeigt auf, dass der Terrorismus in unserer Zeit seine Wurzeln nicht in obsoleter Vergangenheit hat, sondern in der radikalen Veränderung und rücksichtslosen Zerstörung von historisch gewachsenen Ordnungen des Zusammenlebens im Namen der individuellen Freiheit. Bakunin war explizit Vorbild. Und der „Heilige Krieg“ wurde Anfang des 19.Jahrhunderts von Theodor Körner gegen Frankreich ausgerufen. Mimesis der europäischen Vorbilder hat diese Sozialexperimente beflügelt.

Auch für Mishra ist der politische Gegensatz links rechts, der im 19. Jahrhundert Freiheit von erstarrten Traditionen verhieß, unfähig die brennenden Herausforderungen unserer Zeit zu beschreiben und zu bewältigen: Migration, Zerstörung der Lebensgrundlagen, Zerfall der seit dem 19.Jahrhundert gemachten Staaten, Wiederkehr des Nationalismus auch in Europa. Er weist hin auf Profeten wie Dostojewski, Rabindranath Tagore und andere Denker, die die zerstörerischen Wirkungen des Nationalstaats nach französischem und amerikanischem Muster weltweit und für den Planeten bewirken würden.
Die „Financial Times“ hat dieses Werk Mishras als „Genau die Analyse die die Welt gerade jetzt braucht.“ bezeichnet.7

Beide Bücher halte ich für Zeitansagen die die Ohren und Herzen öffnen für die Lebensarbeit Eugen Rosenstock-Huessys an unserer Bestimmung revolutionsentsprungen ein Menschengeschlecht zu werden! Mit seinen Worten: die vier Zeitkrankheiten zu überwinden: Dekadenz, Anarchie, Krieg und Revolution.

Dazu bedarf es neuer Wissenschaft nach Theologie und Philosophie, einer Grammatik als Sozialwissenschaft, wie er sie in seiner Soziologie erstmalig 1925 vorlegte. Heute, in dem Zeitalter, in dem die Völker ihre Kraft zur Reproduktion verloren haben, muß Wissenschaft erstmalig in der Geschichte des Menschengeschlechts auf diese Herausforderung Antworten geben.

Dazu bedarf es neuer Bildungsformate, die nicht auf Schulwissen und Logik/Mathematik, beruhen, sondern auf dem Gespräch und der Biografie von Menschen und Völkern. Denn niemals sind wir Zuschauer der Geschichte, also des wirklichen Lebens. Jeder und jede muß heute ursprünglich schaffen, erwartungsvoll hoffen und entscheidend lieben. Jeder und jede sind dazu bestimmt wie Abraham und Sarah ein Volk zu stiften, das zum Segen werde für alle Menschen und Völker auf unserem Planeten.

Die Völker haben alle messianischen Charakter im Zeitalter des Nationalismus bekommen. Aber die Gestalt des Nationalstaates als das einzige öffentliche WIR lässt sie erstarren zum „Volk zu Schutz und Trutz“ (Treitschke zitiert von ERH). Im Unterschied zum Staat, der zeitweilige Ordnung verkörpert, und zur weltweiten Gesellschaft des gemeinsamen Wirtschaftens in der Gegenwart, ist aber ein Volk lebendiger sich wandelnder und zukunftsoffener Generationenzusammenhang. Völker sind „Pflanzgärten von Menschenarten“ die den leiblichen und geistigen Tod überwindend leben. Sie sind immer Völker im Werden. Wie es die biblische Bestimmung Israels, des „Experimentes Gottes“ (Leo Baeck), ist: Harrend ihrer wahren Zukunft.8 Oder: „to change with honor“.9

Mit der Akademie der Arbeit in Frankfurt, der Volksbildungsarbeit zur Verhinderung des Lügenkaisers in den 1920ern und Camp William James10 in USA suchte er den Krieg zu überwinden, der in der Seele der Moderne begründet ist. Diese Arbeit wahrzunehmen wird gebraucht um das Vertrauen unter den Bewohnern des Verfassungsstaates zu schaffen, um das Ressentiment zu überwinden im Leben jedes Menschen. „Musikalisch leben“ hat Rosenstock – Huessy angesagt, tanzend leben.
Die wichtigste Frucht dieser Arbeit in Deutschland bildet der Kreisauer Kreis. Freya von Moltke, hat sein Ziel einmal formuliert: „Wir müssen miteinander leben lernen …!“11

1965 wurde er gebeten die Aufgabe des kurzen Kabelstücks noch einmal zu formulieren. Er zeigte uns in Dienst auf dem Planeten – Kurzweil und Langeweile im 3.Jahrtausend als Not-wendendes Bildungsformat zur Überwindung der vier Zeitkrankheiten. Es ist die Konzeption einer Hoch-zeit in der wir aus unseren Funktionen zusammenkommen zu gemeinsamem Dienst für die Zukunft des Lebens auf unserem Planeten.

Jakup Petuchowski, der erste Professor weltweit für christlich-jüdische Studien an einem jüdischen Rabbinerseminar hat uns ein schönes Bild geschenkt, in dem ich die Orientierung Rosenstock-Huessys und seine Partner finde:

„Gott hat uns nicht dazu angehalten, irgendein Instrument des ihm ein ‚Hallelujah’ spielenden Orchesters der Weltreligionen auszuschalten oder zwei verschiedene Instrumente identische Töne hervorbringende lassen. Dennoch aber wäre es wünschenswert, daß sich die Instrumentalisten bewußt werden, daß sie, trotz aller Verschiedenheit der Töne, immerhin im selben Orchester die gleiche Symphonie spielen.“12

Thomas Dreessen

3. Rainer Maria Woelki, das Kirchenrecht und Rudolph Sohm

„Das Wesen der Kirche ist geistlich, das Wesen des Rechts ist weltlich.“

Der Kölner Kardinal Woelki hat in dem von ihm beauftragten zweiten, streng juristischen Gutachten zum Mißbrauch in der katholischen Kirche eine Entlastung gesehen. Damit hat er gleichzeitig eine Selbstbeschreibung seines Amtes gegeben. Wohl kaum ein anderer Rechtsgelehrter hat dem Verhältnis von Geistlichem und Weltlichem so tief nachgespürt wie Rudolph Sohm. Heute ist der Jurist vergessen. Allenfalls über den Begriff des Charisma wird er als Anreger für Max Weber oder Carl Schmitt angeführt. Dabei war der Jurist des Jahrgangs 1841 (gleichaltrig mit Otto Gierke) wenn nicht der berühmteste Jurist seiner Zeit. Der klassische Germanist hatte 1884 mit seinen Institutionen die führende Einführung in das Römische Recht vorgelegt und bis zum letzten Atemzug 1917 an seinem zweibändigen Kirchenrecht gearbeitet. Damit legte er bahnbrechende Werke in allen drei Kontinenten der Rechtsgeschichte: Romanistik, Kanonistik  und Germanistik vor. Besonders umstritten war seine Feststellung aus dem ersten Band des Kirchenrechts von 1892, daß das Kirchenrecht im Widerspruch zum Wesen der Kirche stehe: „Die Kirche des Urchristentums (Ekklesia) ist eine rein geistliche, die katholische Kirche eine geistlich-weltliche, die evangelische Kirche im Rechtssinn, wie sie heute vor uns steht, eine rein weltliche Organisation.“ Sohm sah sich in der Tradition Martin Luthers, dessen eigentliche Leistung im Bestehen auf der Unsichtbarkeit der Kirche Christi gegen den Katholizismus liege:

Durch die Unterscheidung der unsichtbaren (nur dem Gläubigen sichtbaren) Kirche Christi von der rechtlich verfaßten Kirche befreite Luther sein religiöses Leben von dem römisch-katholischen Kirchenrecht, von der geistlichen Macht der kirchlichen Organisation. (Rudolph Sohm, Wesen und Ursprung des Katholizismus (= Abhandlungen d. Kgl. sächs. Gesellsch. d. Wissenschaften: Phil.-hist. Kl.; Bd. 27,10), Leipzig: B.G. Teubner 1909, S.344.)

Das Aufkommen der katholischen Kirche hat er als den wichtigsten Vorgang „in der ganzen Kirchengeschichte“ bezeichnet, der noch nicht recht verstanden sei. „Durch den Katholizismus ist alles Folgende bedingt, auch die Reformation als die Gegenbewegung gegen das katholische Prinzip.“ Erst durch den Impuls der christlichen Reformbewegung und im Konflikt mit dem Kaiser werde aus der „Griechenkirche“ Altroms die Staatskirche und der Kirchstaat. „Die Welt sollte zu einem Reich Christi werden. Aber das Reich Christi verwandelte sich vielmehr in ein Reich der Welt.“

Auch Sohms Spätwerk über „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians“ belegt dieses Forschungsinteresse für das „Wesen des Katholizismus“. Schon der Titel verrät das Zwiegespräch mit Adolf von Harnack. Immerhin hatte sich der jüngere Theologe in der sechsten Vorlesung seiner Jahrhundertreihe „Das Wesen des Christentums“ von 1900 eingehend mit dem Verhältnis „Das Evangelium und das Recht“ befaßt und insbesondere mit der These Sohms und der Weltanschauung Leo Tolstois:

Sohm ist so weit gegangen, daß er in seinem Überblick über die älteste Entwicklung der Kirche geradezu einen Sündenfall der Christenheit in dem Momente annimmt, wo sie Rechtsordnung in ihrer Mitte Raum gewährt hat. Indessen hat er doch das Recht auf seinem Gebiete nicht antasten wollen. Jedes Recht hat ihm aber Tolstoi im Namen des Evangeliums abgesprochen. (Adolf Harnack, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin, 4. Aufl., Leipzig: J.C. Hinrichs‘sche Buchhandlung 1901, S.68ff. Das Zwiegespräch scheint bisher weder bei „Schmittianern“, noch „Weberianern“ unter der Lupe gewesen zu sein.)

Bei aller Kritik an Methode und Ergebnissen des Kirchenrechts im Verständnis Rudolph Sohms hat Walther Schönfeld festgehalten: „niemals seit den Tagen Luthers, in dessen großem Schatten er ficht, ist das Problem von Recht und Religion als Problem des Kirchenrechts mit gleicher Wucht und Leidenschaft uns vor die Seele gerückt.“

Rudolph Sohm war als Mitbegründer des Nationalsozialen Vereins und Berater Friedrich Naumanns ein scharfer Kritiker der sozialdemokratischen „Irrlehre“. Er vermisste deren vaterländische Orientierung. Dabei war der „Sozialaristokrat“ Sohm ein engagierter Kämpfer für die politische, nationale Lösung der sozialen Frage. Das einheitliche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) hatte er als Repräsentant der Jurisprudenz vor dem Deutschen Reichstag verteidigt. In seinem Nachruf hat sein Freund Friedrich Naumann an den starken Charakter Sohms erinnert, eine „fast verschwundene Art politischer Professoren“. Umstritten sei zwar alles, was er schrieb, „denn überall verwarf er bisherige gangbare Meinungen, aber es scheint, als ob seine kirchen- und rechtsgeschichtlichen Auffassungen durch die weiteren Forschungen jüngerer Arbeitskräfte erfolgreich unterstützt werden.“ Als entschiedener Kritiker der romantischen Idee einer Verschmelzung von Staat und Kirche zu einem christlichen Staat wandte er sich gegen den Hofprediger Stöcker und dessen Bündnis von Thron und Altar. Rudolph Sohms Rede „Der Christ im öffentlichen Leben“ auf der Tagung der „Berufsarbeiter der Inneren Mission“ vom 23. bis 26. September 1895 in Posen hatte tiefen Eindruck auf Friedrich Naumann gemacht, der sich daraufhin grundlegend neu orientierte. „Leidenschaftlich überspitzend griff Sohm die Stahlsche Rechtslehre an“, den autoritären „Christlichen Staat“. Gerade in der Gründungsphase des evangelisch-sozialen Bewegung seit 1896 in Erfurt verliefen hier tiefe Differenzen innerhalb des deutschen Protestantismus. Nur so ist auch die Namensgebung der Bewegung Naumanns als „national-sozialer“, nicht „christlich-sozialer“ Verein verständlich. Die gleichen Bedenken wie Sohm artikulierte auch Adolf von Harnack. Nach dem Grundsatz der Reformation waren Weltliches und Geistliches „streng“ zu trennen. Die sozialdemokratische Ideologie wurde wegen ihres unchristlichen Internationalismus und Revolutionismus abgelehnt.

Rudolph Sohm hatte Eugen Rosenstock 1912 in Leipzig habilitiert:

One of the leading Protestants of my own life was so anti-Catholic that I thought he would not hold with the adoration of the saints. He wasn’t my teacher, but I revered him very much, and I began my career under him. He allowed me to begin to teach in his faculty. And I once talked to him about this problem of the Protestants and their relation to the saints. And he burst forth and said, “Well, if we did not look up to these sacred and saint souls in our sky, we wouldn’t deserve to have been ever led out of Egyptian darkness” (Universal History 1967)

Bei Rudolph Sohm konnte er das „Geburtsgeheimnis der abendländischen Kultur“ studieren. Eugen Rosenstock verfolgte schon während seines Studiums, nach einer „großen Biographie“ und „Institutionenuntersuchungen“ den Plan einer Kirchengeschichte. Seine Dankbarkeit gegenüber Rudolph Sohm hat er nicht nur mit seinem Beitrag zu dessen goldenem Doktorjubiläum dokumentiert, sondern vor allem mit seinem Aufsatz über die „Epochen des Kirchenrechts“. Die umfangreiche Rezension des Opus Magnum von Sohm über Gratian erschien in drei Abdrucken, zuerst im April 1919 in der katholischen Zeitschrift „Hochland“, 1920 im Buch „Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution und schließlich 1927 im Rahmen der Gemeinschaftsschrift mit Joseph Wittig „Das Alter der Kirche“. Schon dies unterstreicht die zentrale Bedeutung dieser „Zeit-Schrift“. Eugen Rosenstock kannte bei Abfassung seiner Würdigung bereits die Fachbesprechung von Ulrich Stutz in der Kanonistischen Abteilung der „Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte“ von 1918. Die Redaktion des „Hochland“ schickte Eugens Rezension die Bemerkung voraus: „(Dieses bedeutende Referat eines nichtkatholischen Mitarbeiters, der tiefer und entscheidender als selbst viele Katholiken das hier vorliegende unabsehbar fruchtbare Problem empfindet, geben wir mit dem Vorbehalt wieder, daß auch ein Vertreter des katholischen Kirchenrechts dazu Stellung nehme, was gegenwärtig zu erreichen nicht gelingen wollte.).“ (Eugen Rosenstock, Die Epochen des Kirchenrechts, in: Hochland, 16.Jg. (1919, April), S.64-78. Ob Carl Schmitt diesen Wink in seinem „Römischer Katholizismus und politische Form“ aufgegriffen hat?) Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Eugen Rosenstock bereits intensiv in die fachübergreifende Diskussion zur Genese der westlichen Welt eingearbeitet:

Seit Troeltsch und Max Weber vom Ursprung des modernen Kapitalismus gehandelt haben, ahnt die Welt, daß hier ein religiöses Problem vorliegt. Jetzt merkt das auch die katholische Welt. Ein junger Katholik, Franz Müller, hat soeben eine Abhandlung über Funktionen und Psychologie des modernen Unternehmertums im 24. Jahrgang der katholischen „Sozialen Revue“ veröffentlicht. Franz Müller nun ist Sombart-Schüler. Es ist eigenartig, wie sich heut die Fäden aus dem Lager der Universität und der christlichen Ecclesia magistra hinüber- und herüberziehen. (Eugen Rosenstock, Unternehmer und Volksordnung (zuerst veröffentlicht 1924), in: Werner Picht und Eugen Rosenstock, Im Kampf um die Erwachsenenbildung 1912 – 1926 (Schriften für Erwachsenenbildung; 1.Bd.), Leipzig: Quelle & Meyer 1926, S.176)

Durch seine Forschungen war Rudolph Sohm zu der Einsicht gekommen, daß zwischen dem ersten und zweiten Jahrtausend ein zentraler Umschwung in der Kirchengeschichte einsetzt:

Die Siebenzahl der Sakramente, die Umbildung der Kirchenrechtswissenschaft aus Theologie in Jurisprudenz, die Entstehung der Papstmonarchie, alles vollzieht sich gleichzeitig und in innerem Zusammenhang miteinander. Um 1200 ist im Abendlande der altkatholische in den neukatholischen Kirchenbegriff, die altkatholische in die neukatholische Kirche, das altkatholische in das neukatholische Kirchenrecht verwandelt worden. Die treibende Kraft aber, welche die ganze Entwicklung herbeiführte, lag, wie aus dem soeben Gesagten von selbst hervorgeht, in der großen kirchlichen Reformbewegung, die um die Mitte des 11. Jahrhundert einsetzte und im 12. Jahrhundert zum Ziel gelangt war. (Rudolph Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, München und Leipzig: Verlag von Duncker & Humblot 1918, S.589.)

Dieser Einsicht ist Eugen Rosenstock-Huessy gefolgt und hat auf dieser Periodisierung sein Werk über „Die Europäischen Revolutionen“ aufgebaut. Gerade 1918 verloschen all die großen Dynastien Welf, Habsburg, Zollern, Wittelsbach, die sich alle um 1100 erhoben hatten. Sein Werk setzt mit der „Papstrevolution“ des 12. Jahrhundert ein und beschreibt die Korrespondenzen der Völker des zweiten Jahrtausends. Der Bruch des Geschichtsbildes durch Renaissance und Reformation werde geheilt, darum habe vor allem Rudolph Sohm gerungen. An Stelle der protestantisch-neuzeitlichen Periodisierung mit Einschnitten bei Konstantin und der Kirchenspaltung rücke nun der Übergang vom ersten zum zweiten Jahrtausend und die Kirchenreform in Verteidigung gegen die theokratische Anmaßung weltlicher Herrscher:
Die Christianisierung des germanischen Staates führt diesen also in rein geistlichen Bereichen zu Machtansprüchen, durch die das pneumatische, sakramentale Gefüge der Kirche durchlöchert zu werden droht. Sohm zeigt, wie die bloße Notwehr es ist, die – im Investiturstreit – das Neue gebiert, das der Kirche die Freiheit gegen den zwar weltlichen, aber doch eben auch christlichen Arm des Staates sichert, das ihr weltliche Handlungsfähigkeit und Selbstverteidigung gegen die Welt, Menschensatzung und Körperschaftsrecht ermöglicht.
Deshalb ist die Verteidigung der Kirche und die teilweise Verpanzerung der Kirche mit der Waffe des Rechts auf einer höheren Ebene aufgehoben und legitimiert: Gegen die Allgewalt der Blutsbande des hohen Adels steht der Papst bewußt als weltlicher Politiker, Staatsmann und Regent im Felde. (Durchführung des Zölibats, Kaiserwahlbeeinflussung, Ehehinderungsgesetzgebung, Ehescheidungsrecht, Bistumsverwaltung durch Koadjutoren, Ausrottung des staufischen Bluts noch in die weibliche Linie [Albrecht von Habsburg] hinein: das alles muß unter diesem einheitlichen Gesichtspunkt gesehen werden.) Gegen das Blut wird nicht nur der Kirchenstaat, sondern auch der Geist heraufbeschworen, gegen das Stammesrecht die Philosophie und Jurisprudenz der Alten.

Karl der Große trete in Nachfolge der Caesaren, während Friedrich Barbarossa in ein neues Reich und eine neue Zeit falle. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß der Papst als planetarische Institution zwar nicht in Deutschland, aber zweifellos an vielen Orten der Welt weiter gefestigten Familien- und Geschlechterverbänden gegenübersteht.

Die Kirchenrechtler der Neuzeit haben aus der Kirche eine Anstalt, einen Verein, eine Korporation, eine juristische Person „gemacht“. Rudolf Sohm hat dies 300jährige Trachten der „Ulrich Stutze“ niedriger gehängt, und die Naturrechtler und Aufklärer haben ihm das mit unauslöschlichem Haß und Totschweigen vergolten. Naturgemäß. Denn die Kirche und Rudolf Sohm waren und sind nicht von dieser Welt. Die Aufklärer aber wollten und wollen die Kirche in die Natur der Dinge hinunterzerren. Sie unterhalten Gesandtschaften beim Vatikan, weil das für ihre „Staaten“ klug ist; Mussolini gab dem Papst die Vatikanstadt aus Machiavellismus. Im vierten Aspekt ist also das Papsttum Macht unter Mächten. Das ist die Natur der Kirche, ihre alle Verständigen zum Einhalten zwingende Eigenschaft. Natur ist Raumding. (Eugen Rosenstock, Der Datierungszwang und Giuseppe Ferrari (1812-1876), in: ders., Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1950 bis 1957, hrsg.v. Georg Müller, Stuttgart: W.Kohlhammer Verlag 1958, S.40)

1964 schickte Eugen Rosenstock seinem alten Freund Erwin Jacobi seine im Selbstverlag gedruckte Abrechnung mit der Jurisprudenz „Die Interims des Rechts“ mit der Widmung:

„Kirchenrechten, Staatenrechten
Hast Du nachgedacht
Kirchenunrecht, Staatenunrecht
Hat mich aufgebracht
Weihnachten 1964“

Im gleichen Jahr hatte sich der Leipziger Jurist und Kirchenhistoriker letztmals über „Rudolf Sohm und das Kirchenrecht“ geäußert. Er sprach zum Thema „als Schüler Sohms, als einer seiner Nachfolger in Sohms Professur für Kirchenrecht und vor allem als überlebender Mitherausgeber von Sohms posthumem Nachlaß“. Insbesondere stellte er sich der Aufgabe, die These Sohms aus dem ersten Band des Kirchenrechts: „das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch“ zu präzisieren. Er konnte dabei auf eigenen Forschungen aufbauen, die er in Anlehnung an Ulrich Stutz 1913 just zu Gratian, dem vermeintlichen Vater des Kirchenrechts, erstmals veröffentlicht hatte. Sein letztes Wort zu Rudolph Sohm faßte er im Abstand von 50 Jahren zusammen:
Die Anerkennung geschichtlichen echten Kirchenrechts durch Sohm gilt daher nur für die Zeit des christlichen Mittelalters. Von der neuzeitlichen Aufklärung an ist nach Sohm die Volksgemeinschaft, der Staat, die einzige Quelle und der einzige Herr des Rechts. Mit dieser Zeitwende ergibt sich für Sohm der Widerspruch zwischen dem Wesen der Kirche Christi als einer geistlichen Gemeinschaft und der äußeren menschlichen Gemeinschaft des Volkes und Staates als einzigem Ursprung des Rechts. Damit wird für Sohm echtes Kirchenrecht unmöglich. (Erwin Jacobi, Rudolph Sohm und das Kirchenrecht, in: Forschungen und Fortschritte, 38.Jg., H.11 (1964, November), S.347)

An die Stelle echten Kirchenrechts trete „staatliches Religionsgesellschaftsrecht“ für Anhänger christlicher wie nichtchristlicher Religionsgemeinschaften. Für Eugen Rosenstock hatten staatliche Souveränität und kirchliche Hierarchie seit 1918 ihre überragende Macht eingebüßt, oder um es mit Max Weber zu formulieren, die Selbstverständlichkeit ihres jeweiligen Monopolanspruchs psychischer oder physischer Gewaltsamkeit. Das Kirchenrecht Rudolph Sohms bildete einen wichtigen Bezugspunkt des Gesprächs von Eugen Rosenstock und Erwin Jacobi über ein halbes Jahrhundert, bis sich der Kreis 1964 rundete.

Religio Depopulata

In seiner Breslauer Zeit bezog Eugen Rosenstock-Huessy Position im „Fall Wittig“. Der Breslauer Pfarrer Joseph Wittig geriet durch seine „religiös-pädagogische Betätigung“ und seinen Eintreten für eine Volkskirche in Ungnade der katholischen Hierarchie in Person des Fürstbischofs und Kardinals Karl Bertram. Nach der päpstlichen Indizierung seiner Bücher 1925 und dem Entzug der Lehrbefugnis gipfelte das Verfahren 1926 in seiner Exkommunikation. In dieser existenzbedrohenden Lage unterstützte Eugen Rosenstock-Huessy den Verfemten moralisch wie politisch und setzte sich für die Anerkennung von dessen Pensionsansprüchen bei der preußischen Kultusverwaltung ein. Mit dem Katholiken Joseph Wittig konnte er in Breslau an das Leben im Zeichen von Patmos anknüpfen, einer Gemeinschaft, die ihn mit Werner Picht, Hans und Rudolf Ehrenberg, Karl Barth sowie Leo Weismantel verband. Im Berliner Verlag Lambert Schneider erschienen zunächst seine Schrift „Religio depopulata“ und schließlich von 1927 bis 1928 das Gemeinschaftswerk „Das Alter der Kirche“, das neben Beiträgen zur christlichen Kirche und seinem „Sohm-Aufsatz“ im dritten Band Akten und Gutachten zum Verfahren gegen Joseph Wittig dokumentierte. „Religio depopulata“ sprach vom „Erschöpfungszustand“ der Papstkirche, von einer „Kirche ohne Volk“. Kaum erkannt wurde, daß der Autor hier an die Kriegsschrift von Léon Bloy, „Jeanne d’Arc und Deutschland“ von 1915 anknüpfte, die die Anklage gegen den Breslauer Bischof metaphorisch auf die Spitze trieb. Bloy hatte als „Religio depopulata“ die „kriminelle Taubheit“ des Erzbischofs von Reims und den „unerbittlichen Ungehorsam dieses Hohepriesters“ charakterisiert. Implizit rückte Eugen Rosenstock Wittig in Parallele zur Volksnähe Jeanne d’Arcs. In seinem ersten Beitrag zu der Gemeinschaftsschrift mit dem Titel „Das Herz der Welt“ äußerte sich Eugen Rosenstock 1927 bestimmt über die „Armut der heutigen weltlichen Staatswissenschaft“. Das Drama zwischen Staat, Kirche und Volk werde nicht zur Kenntnis genommen, stattdessen beschränkten sich Juristen auf das jeweils geltende Recht des Staates:

Die Rechtswissenschaft kennt nur die Einrechtswelt des Erfolges, da sie dem jeweiligen Machthaber dient. Sie ist ihrem Wesen nach also bislang krasses Heidentum geblieben. Der Sinn der Kirche, die ständige Gegenbewegung des Kreuzes gegen die runden, glatten Tagesgrößen, das Geheimnis der europäischen Kultur also, ist für die Jurisprudenz noch keine Tatsache. (Eugen Rosenstock-Huessy, Das Herz der Welt, in: ders. und Joseph Wittig, Das Alter der Kirche, Bd.I, neu hrsg. von Fritz Herrenbrück und Michael Gormann-Thelen, Münster: agenda Verlag 1998, S.50)

Wie kaum ein zweiter hat Wolfgang Ullmann die Grundgedanken Eugen Rosenstock-Huessys aufgegriffen und im Blick auf das dritte Jahrtausend neu belebt:
Das ist eine Vereinfachung und zugleich eine Verharmlosung der Tatsache, daß auch in unserem pluralistischen Jahrhundert gerade die Religionen es sind, deren Fanatismus das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu unterhöhlen oder gar zu beseitigen droht. Denn genau das ist der Punkt, auf den Rosenstocks Analyse der Kirchengeschichte aufmerksam machen will: Auch dort, wo die religiöse Praxis längst aufgehört hat, von einer Bevölkerungsmehrheit getragen zu werden – gerade dort können im völlig irreligiösen säkularen Alltag, Traditionen wirksam sein, die gerade deswegen so schädlich sind, weil sie aus einem moralisch bedenkenlosen Fundamentalismus kommen oder Verhaltensstrukturen weiterführen, deren Äußerlichkeit sie zu keiner kritischen Reflektion mehr gegenüber jenen Traditionen befähigt, von denen sie abstammen.
(Wolfgang Ullmann, Ama quia durissimum. Imperativ der Menschlichkeit inmitten der Gefahr enthnokratischer Regression, in: Eugen Moritz Friedrich Rosenstock-Huessy (1888-1973), Tumult No.20, hrsg.v. Frank Böckelmann, Dietmar Kamper, Walter Seitter, Wien: Verlag Turia & Kant 1995, S.84)

Ob der Kölner Erzbischof noch ein Geistlicher ist?

Sven Bergmann

4. Berliner Jugend unter wilhelminischer Kuppel

Der „Chorknabe“ Eugen Rosenstock

Sein Freund Franz Rosenzweig hat Eugen Rosenstock im September 1918 scherzhaft vorgeworfen, „der letzte Monarchist“ geblieben zu sein, obwohl die Monarchen selbst nicht mehr an ihr Gottesgnadentum glaubten. Vor dem Hintergrund seiner preußischen Lehrjahre ist diese Einstellung wenig überraschend. Bevor Eugen Rosenstock im Mai 1906 zum Studium in Zürich wechselte, besuchte er in der Hauptstadt der Hohenzollern zunächst das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium nicht weit vom Potsdamer Platz und dann das Joachimsthaler Gymnasium. Seine Mitschüler kamen aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft. Geboren im 1888 noch selbständigen Steglitz zog die neunköpfige Familie nach der Jahrhundertwende in die Hauptstadt. Die Königin-Augusta-Str. 44, direkt am Landwehrkanal, lag nur wenige Schritte vom Kaiser-Wilhelm-Gymnasium entfernt. Im Haus wohnten außerdem der Generalfeldmarschall von Haeseler und der Generaladjutant Wilhelm von Hahnke, der wichtigste Militärberater des Kaisers. Bezeichnend war von Hahnke mit 67 Orden der meistdekorierte Preuße. Eugens Vater Theodor war solches Gehabe verpönt: „der hat den Großen Adlerorden abgelehnt und den Kommerzienratstitel selbstverständlich abgelehnt und alles andere, was an Titeln abzulehnen war. Der hat gesagt: Was, von diesen Leuten soll ich mich ehren lassen, von einem Kaiser, der zu seinem Volk „Kanaille“ sagt? Damit habe ich nichts zu tun. Darauf bin ich sehr stolz!“ (Eugen Rosenstock-Huessy, Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung. Gastvorlesung an der theologischen Fakultät der Universität Münster/Westfalen Sommersemester 1958, hrsg.v. Rudolf Hermeier und Jochen Lübbers, Münster: agenda Verlag 2002, S.104).
Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren prägende Jahre für die rasant wachsende Stadt. 1905 überschritt Berlin die Marke von zwei Millionen Einwohnern. Oft hat Eugen Rosenstock an das „amerikanische Tempo“ seiner Jugend erinnert:

Wir sind Kinder einer wirtschaftlich materiellen „realistischen“ Zeit. Von Idealismus wurde zwar reichlich geredet in deutschen Landen zwischen 1870 und 1914. Aber das schwamm nur wie Schneeschaum auf der Biersuppe des Alltags. Der Alltag, aus dem wir kommen, war so „real“, daß er stumm, unverklärt, nackt, formlos, stillos, materiell war: er hieß PS PS PS, Soldaten Soldaten Soldaten, Schiffe Schiffe Schiffe, Telefon Telefon Telefon, Großstadt, Großmacht, Größenwahn. Und heute überschlägt sich dieser stumme, unverklärte Realismus in Radio, Kino, Zeppelin. (Eugen Rosenstock-Huessy, Hegel und unser Geschlecht (1924/25), in: ders., Friedensbedingungen der planetarischen Gesellschaft. Zur Ökonomie der Zeit, hrsg. von Rudolf Hermeier, Münster: Agenda- Verlag 2001, S.288)

Als Eigentümer einer Privatbank drehte sich das Berufsleben seines Vaters rund um die Börse der Hauptstadt. An Handelstagen versammelten sich dort mehr als 4000 Kaufleute. Auf dem gleichen Grundstück war 1906 an der Spandauer Straße 1 die von der Kaufmannschaft getragene Handelshochschule eröffnet worden und nur eine Querstraße weiter befand sich die alte Synagoge an der Rosenstraße. Gleich gegenüber der Börse, auf der Spreeinsel, wuchs in diesen Jahren die größte Baustelle der Stadt, der Dom zu Berlin. Lange bevor der neue Dom 1909 eröffnet wurde, veränderte er als Bollwerk des Protestantismus in der Welt bereits markant die Silhouette der Stadt: „Der Dom beherrscht mit seiner Baumasse nicht nur den Lustgarten und seine Umgebung, sondern bestimmt durch seine hohe Kuppel den Charakter des ganzen Stadtbildes.“ Der Schüler Eugen Rosenstock konnte Tag für Tag verfolgen, wie der Dom in den Himmel wuchs. Sicher wird der Vater dem Pennäler seinen Arbeitsplatz gezeigt haben. Dabei war die Architektur des Doms heftig umstritten: „Der Bau, den wir vor uns haben, ist ein protestantischer Dom, kein katholischer; und der Stil, in dem er ausgeführt wird, ist ein katholischer, kein protestantischer. Mit dem theatralischen Reichtum der Renaissance ist ganz von selber die Vorstellung der katholischen Kultur verbunden. Hat sich dazu der Protestantismus losgerissen, daß er nach vierhundert Jahren in seiner deutschen Hauptkirche wieder die Sprache derer spricht, von denen er sich losriß?“ In der Innengestaltung spiegelte sich das protestantische Selbstbewußtsein: „Der Haupteingang befindet sich in einer hohen Rundbogennische, über der zwei Bronzeengel ein Schild halten. Doppelsäulen begrenzen die Nische; davor in Kupfer getrieben, über bronzenen Sockelreliefs, die Evangelisten: l. über Luther in Worms Matthäus und Markus, von Janensch, r. über Luthers Bibelübersetzung Lukas und Johannes, von Götz; auf dem Kämpfergesims Gnade und Wahrheit, bronzene Engelgestalten von Widemann.“ „Am Fuß der Kuppel acht 4m hohe Standbilder: Luther und Melanchthon neben der Apsis; nach l. Zwingli, Philipp der Großmütige, Friedrich der Weise; nach r. Calvin, Albrecht von Preußen und Joachim II. Der 1960 Sitzplätze enthaltende Kirchenraum hat die Gestalt eines ungleichseitigen Achtecks.“ Erster Organist des neuen Doms war der Musikpädagoge Hermann Kawerau, Eugens Musiklehrer am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium:

Von Sexta ab oder von der Nona – das weiß ich auch nicht mehr – nahm ich am christlichen Religionsunterricht und vor allem vom ersten Tag an auch am Choralsingen teil. Wir hatten einen herrlichen Chororganisten, Kaverau, bei dem mein Herz heute noch lacht: die Händel- und Bach-, die höchst christlichen Weihnachts-, Ostern- und Pfingstfeiern zu Hause waren höchst eindringlich.

Der mehrstimmige Choralgesang war gerade deshalb geschaffen worden, weil sich der katholische Ritualgesang nicht für den protestantischen Gemeindegottesdienst eignete. Er lehnte sich deshalb an das Volkslied an, das er hymnenartig bearbeitete. Der Choral mit seinen Höhepunkten bei Bach und Händel wurde zum Mittelpunkt des Gottesdienstes und bildet den Inbegriff protestantischer Musik. Die Berliner Sing-Akademie ist bis heute eine der weltweit führenden Institutionen der Bachpflege. Hermann Kawerau hat sich in dieser Tradition große Verdienste erworben. Mehrfach aufgelegt wurde sein Choral-Buch zu den Melodien für das Evangelische Gesangbuch. Im Jahr 1891 war er führend an der Säkularfeier der von Carl Friedrich Fasch gegründeten Sing-Akademie beteiligt und gab anschließend einen Bericht über die Feierlichkeiten. Als Dank für das erfolgreiche Jubiläum führte der Chor Händels Dettinger Te Deum sowie dessen Komposition zum 100 Psalm auf. 1900 verzichtete Kawerau, für das Amt als Direktor der Singakademie zu kandidieren. Der Choralgesang hat Eugen Rosenstock tief geprägt. Im Abschlußkapitel seiner Soziologie „Im Kreuz der Wirklichkeit“ spricht er von der Geschichte des Menschengeschlechts als einem großen Sang. „Die Partituren dieser Komposition, die Geschichten, müssen in so vielen Auflagen umgeschrieben werden, wie es Geschlechter der Menschen gibt. Denn die Komposition wird ja in jedem Geschlecht von denen umkomponiert, deren Lieben ein Morden oder Sterben überwindet.“

Sven Bergmann

5. Brief an Ernst und Nelly Michel

Ernst Michel und Eugen Rosenstock lernten sich 1920 an der Frankfurtere Akademie für Arbeit kennen. Eugen Rosenstock als deren erster Leiter und der Linkskatholik Ernst Michel als Referent. Richtig schätzen gelernt haben sich die beiden allerdings erst nach dem Abschied des Gründers aus Frankfurt. Es wurde eine Lebensfreundschaft. Ägypten faszinierte schon den Berliner Schüler, der Vorlesungen bei dem berühmtesten deutschen Ägyptologen der Zeit Adolf Erman hörte. Nach dem zweiten Weltkrieg besuchte er mehrfach die Altertümer der pharaonischen Kultur. Ägypten hat den Himmel auf die  Erde geholt, deshalb sind die Pyramiden auch eckig und nicht rund. Ägypten symbolisiert die Brücke von den Stämmen zum Reich, bildet eine wesentliche Voraussetzung für die jüdische Geschichte und damit eine Etappe auf unserem Weg von heute in die Zukunft. Im Zusammenhang des Briefes ist zu bemerken, das Ernst Michels Buch über die Ehe von 1948 von der Kirche auf den Index gesetzt worden ist.

Eugen und Margrit Rosenstock-Huessy an Ernst und Nelly Michel, Luxor, Oberägypten, 18. Feb. 1950
Lieber Ernst und so dürfen wir wohl heut schreiben, liebe Nelly,
in zehnstündiger Fahrt sind wir von Kairo das unbeschreiblich schmale Band Oberägyptens hinaufgefahren und residieren zu unserem eigenen Staunen in dem durch 25 Jahre liebevoller Jahre der Hingabe angepflanzten Chicago Hotels in Luxor, d.h. mitten unter den Tempelsäulen Thebens am Nil. Tropisch. Mendrisio sieht von Vermont so unerreichbar südlich aus; wie überhaupt der Name Tessin seit meiner Kinderzeit diesen Mignonfarbenen Ton an sich trägt. Aber nun haben wir Euch überboten, aber nur räumlich. Die Seelen hingegen leben in der Zeit. Und da gibt es kein überbieten; sondern nur die Herrlichkeit des zur rechten Zeit lebens für alle Beteiligten oder genauer, alle Zuerteilten.
Als solche Zuerteiler segnet Euch der Himmel, die ihre Zeiten in uns hineinwirkende, gefährliche, großartige, liebliche, herzgebietende Macht, von der in uns eben das Herz abgesenkt ist, denn es gehört schwerlich bloss dem eigenen Leibe zu.
Und so ruft in uns diese Macht den Gruß hervor, der sich Euren Lebens froh zu werden helfen möchte. Nichts ist geheimnisvoller, als „weiter“ leben zu dürfen, weiter, nachdem doch das 60. Jahr Schranken errichtet. Im Alter ist ja alles greifbarer, körperlicher. Der Geist braucht nicht so weit zu fliegen wie in der Jugend. Denn jeder Stengel, jeder Kelch verwirklicht das ganze Geheimnis.
Möge Euch der räumliche Himmel über den zeitlichen lächeln und so, weil Zeit und Raum übereinstimmen sollen, Euren Bund bestätigen. - Eugen und Margrit
Quelle: UB Frankfurt, NL Ernst Michel, Korr, Prof. Dr. Rudolf Ehrenberg

Sven Bergmann

6. Nachruf: Horst-Klaus Hofmann 20.11.1928 – 31.5.2021

Nie habe ich Horst-Klaus Hofmann persönlich erlebt und gesprochen. Jedoch haben wir eine tiefe Verbindung, die ich erst jetzt entdeckte. Hofmanns lebenslange Begegnung mit Eugen Rosenstock-Huessy begann mit dem Buch: Des Christen Zukunft oder: Wir überholen die Moderne. Er berichtet: In den 1950ern hat es „uns aufgerüttelt. Da zeigte einer in einer neuen Sprache, dass das Kreuzesdenken die Mitte des Lebens sein kann, dass Kreuzigung auch fortwährendes Abschiednehmen von der Vergangenheit und ständiges Wagnis von Neuanfängen ist.“
Rosenstock und seine Freunde und Freundinnen sind nach Hofmann „Anstoß und Anfrage“ an die Gemeinschaft OJC immer wieder „schöpferische, Fraktionen übergreifende Netzwerke von sich vertrauenden Menschen zu gestalten“.
Hier liegt die Wurzel der Einladung an Bas Leenman nach Reichelsheim zu kommen und eine Zeit mit der Gemeinschaft zu teilen. Bas kam und blieb von 1992 bis 1997. Es war eine Zeit der Erneuerung, wie Dominik Klenk in seinem Abschiedsbrief an den verstorbenen Bas Leenman dankbar es aussprach. Bis heute bietet die OJC Bücher von Eugen Rosenstock-Huessy und Ko Vos an und in aktuellen Publikationen ist der Anstoß zu spüren. Seit Anbeginn gehören die freiwilligen Arbeitslager zur Gemeinschaft.
1998 – zum 30jährigen Jubiläum der OJC - veröffentlichte Hofmann Rosenstock-Huessys Text: Symblysma aus dem Atem des Geistes unter der Übersetzung: Das Überströmen des Geistes. Er schrieb dazu: „Als ‚Gelbe Einlage‘ finden Sie diesmal einen Text, der ganz nach vorwärts weist und uns ausrichtet. Wer jung, mutig und geduldig genug ist, der kann die nächsten 30 Jahre an diesem Text mit seinem Kopf, seinem Herzen und mit seinen Freunden arbeiten. Wir glauben und wissen, dass wir nach vorwärts leben müssen. Der Text von Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973)ist lange vor Beginn der „Saison Offensive junger Christen“ geschrieben worden, kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Aber erst wenige Impulse dieses Textes wurden von uns schon in ihrer Bedeutung erkannt als Ermutigung für unseren Weg, den zurückliegenden und den vor uns liegenden.
Bitte erschrecken Sie nicht über die Dichte, Gewichtigkeit und Unvertrautheit seiner Gedanken. Sie wurden mit begeistertem Herzen und mit heißer Feder von einem universalen Sprach- und Geschichtsdenker geschrieben, der – wo immer er auftrat-, den Rahmen der traditionellen Wissenschaften sprengte und zur Zukunft hin öffnete.“
Wieviele Menschen über Horst-Klaus Hofmann Eugen Rosenstock-Huessy begegnet sind, wieviele die 30 Jahre Geduld auf sich nahmen und nehmen, das wissen wir nicht.
Ich danke Gott für ihn und sein Wirken zusammen mit seiner Frau Irmela.

Thomas Dreessen

7. Nachruf: Karin Scheer (29.12.1931-7.6.2021)

Nach schwerer Erkrankung ist am 7.6. unser Mitglied Karin Scheer in Köln verstorben. Karin wurde 89 Jahre alt. Sie war langjährig Mitglied in den Arbeitskreisen, die Eckart Wilkens nach seiner Zeit in der VHS Köln privat weiterführte. Ich habe Karin Scheer 2011 in Bielefeld, in Haus Salem kennengelernt. Sie war begeistert von unserer Versammlung, wie sie mir damals berichtete, da sie sich sofort aufgenommen, anerkannt fühlte. Diese Tage waren für sie inspirierende Höhepunkte ihres Jahres seither.
Karin hatte nach 1945 in England und Frankreich gelebt und gearbeitet. In unseren Versammlungen begegnete sie einem Geist, der ihr Leben achtete, was nach ihrer Erfahrung überhaupt nicht selbstverständlich war.
Es wird wohl kein Zufall sein, dass sie am Geburtstag ihres verehrten Lehrers und Freundes Eckart Wilkens starb.
Karin Scheer ist im Juni in Frankreich beerdigt worden.
Gott nehme Deine Seele, liebe Karin, auf in Seiner Engel Schar.

Thomas Dreessen

8. Nachruf: Karl-Johann Rese (5.12.1933-28.03.2021)

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Dieses Wort aus dem Hebräerbrief ist der Ruf, den Karl-Johann Rese gehört hat und auf den er mit seinem Leben zu antworten gesucht hat. Er lebte in Berlin und hat die großen gesellschaftlich und geschichtlichen Veränderungen miterlebt, und mitgestaltet. Er war beteiligt an der Vorbereitung von dem neuen Kreisau und hat die Freya von Moltke Stiftung bis zuletzt unterstützt. Ausdruck dafür ist auch die Spendenbitte für die Stiftung anlässlich seines Todes.
Die Veränderungen haben auch in seiner Familie Name und Gestalt gefunden. Darin sind wir uns begegnet, denn er suchte bei mir Beratung zum Zusammenleben mit Muslimen.
Später schenkte er mir ein Büchlein von Horst Dzubba, diesem Forscher der Geheimnisse der Sprache und der Wörter und den Zahlenbedeutungen darin. Auf den Versammlungen unserer Gesellschaft – früher – hab ich ihn erlebt als einen genauen Zuhörer, der selten sprach. Wenn aber, so hatten seine Worte Gewicht auf der Suche nach der zukünftigen Stadt, die uns verheissen ist. Wir werden Dich nicht vergessen!
Sei herzlich verabschiedet Karl-Johann!

Thomas Dreessen

9. Wenn der Urwald den Atem anhält

Als Claus Friese aus Dorfmark im September mit einer kleinen Gruppe zu einer Exkursion nach Brasilien aufbricht, steht der Urwald lichterloh in Flammen. Eine Katastrophe für die Indios, ein Verlust für die ganze Welt. Die Besucher schwanken zwischen Faszination und Sorge …
 Claus Friese Urwald Absolut lautlos geht es zu in den Wäldern der Suruí an diesem Tag im September 1969, als der weiße Mann zum ersten Mal hierherkommt. 50 Jahre später, im September 2019, ist es wieder so, als ob der Wald den Atem anhält – diesmal gelähmt von einer Gefahr, die noch größer ist, und einem Gegner, der noch entschlosener und stärker scheint: Feuer!

Dieses Mal schaut die ganze Welt zu. Viele erahnen das Ausmaß der Gefahr. Dieses Mal wird der Indio vor der Übermacht des technischen Fortschritts kapitulieren; er verliert die in Jahr- tausenden in seiner Natur und Kultur angelegte Kraft, mit der er das letzte jungfräuliche Territorium des Planeten für alle geschützt und bewahrt hat. Der Wald weicht mit dem Indio … Am 15. September empfängt uns Anine Suruí, Häuptling der Paiter Suruí, in seinem Reservat. Eine lange vorbereitete Expedition sollte beginnen. Die großen, mächtigen, noch wirklich starken Häuptlinge der brasilianischen Ureinwohner sind rar geworden. „Pouco guerreros”, sagt Anine. „Wenige sind es nur noch, die zu kämpfen, zum Widerstand bereit sind.“ Häuptlinge wie Davi Yanomami gehören dazu, ebenso wie der zum Friedensnobelpreis vorgeschlagene Raoni, Häuptling der Kayapos. Aber die großen und oft noch gefürchteten Streiter, wie sie unter den indianischen Stämmen auch noch bei den Tenharim, den Kamayuras oder den Suruí zu finden sind, sind in die Jahre gekommen. „Und meine Söhne denken nicht mehr wie ich“, findet sich ein weiteres Zitat Anines im Tagebuch unserer Exkursion. „Os guereros“, die Großen unter den Häuptlingen, werden nicht mehr eingeladen von Staatspräsident Jair Bolsonaro. Der hatte den französischen Staatschef Macron ausgeladen, als er darum bat, in Begleitung Raonis nach Brasilia kommen zu dürfen. Raoni Kayapo hatte zu Beginn der Feuersbrunst eine Brandrede Richtung Brasilia gehalten: „Mit diesem Feuer beginnt es. Man will Schluss machen mit uns.“

Wir sind zu fünft, als wir uns aufmachen am 14. September in Richtung Rondônia: Drei Männer aus Deutschland und der Schweiz, zwei Frauen, eine von ihnen Brasilianerin. Dazu stoßen mein brasilianischer Scout, der „gute alte Mann aus Sao Paulo“, und mehrere Helfer. Ich kenne meine Teilnehmer gut. Es ist niemand dabei, der bereits nach der ersten Nacht im Dschungelcamp auf „entgangene Urlaubsfreuden“ klagen würde. Die Reise ist als achttägige „Forschungsreise“ ausgegeben; und ein Forscher nimmt, was kommt. Die Zeit, die wir gewählt hatten, ist heikel. Als flögen wir mitten in eine Weltkatastrophe hinein! Alle Welt weis: Der Amazonas brennt. Wir erfahren: Agrarlobby, Soja- und Rinderbarone, große und kleine Fazendeiros hatten den lang ersehnten „Tag des Feuers” im Wald ausgerufen. Den günstigen Wind dafür hatte Bolsonaro lange vorher schon mit seinen ungeschickten Reden entfacht. Seine Politik kommt mir vor wie eine einzige Ermunterung zu kriminellen Handlungen.

Und dann der „Schwarze Freitag von Sao Paulo“, unmittelbar vor unserem Start. Dunkler rostfarbiger Rauch, der von den brennenden Wäldern gen Süden zieht, trifft dort auf eine Kaltfront und verdunkelt den Himmel über Sao Paulo. Schon am Nachmittag um 15 Uhr herrscht stockfinstere Nacht. Ab Cuiabá im Mato Grosso, von wo unser Flugzeug Richtung Rondônia aufsteigt, zeigt sich die Atmosphäre in einem seltsamen Licht. Während wir aufsteigen, hoffe ich, dass der Pilot den Weg findet durch den Dunst aus Asche und Staub, in dem die Sonne hängt. Er schafft es, landet in Cacoal, etwa 50 Kilometer entfernt von den Indioreservaten.

Den Gefahren des ursprünglichen Regenwaldes setzt sich die Gruppe bewusst aus. Im dichten Busch lauern Jaguare, Lanzenschlangen und Buschmeister. Wer sich nachts aus der Hängematte schwingen muß, darf dies auf jeden Fall nur mit funktionierender Taschenlampe wagen. Ameisenbären beschnüffeln das Camp, ein Fauchen, Brüllen, oder einfach nur ein Schleichen ist zu hören. Die Geräusche, das Konzert des großen Waldes, Vogelstimmen, Wind- und Fluslauftöne tun gut. Wir schwitzen, streifen unsere Gewohnheiten wie alte lästige Kleider ab und werden mit jedem Tag mental und körperlich frischer. Indianische Alleskönner begleiten uns. Sie bauen Brücken, damit wir nicht durch einen Fluss schwimmen müssen; sie errichten aus dem, was der Wald bereit hält, Gerüste für Hängematten, schlagen aus Ästen oder Stämmen Wasser, pressen wohlschmeckende Säfte aus unscheinbaren Gewächsen. Es gibt gebratene Fische und Porco do Mato (Wildschwein).

Wir haben Glück. Kein Feuer, kein Rauch; keine Gefahr durch eindringende Holzfäller oder Goldwäscher. Unser indianischer Begleittrupp trägt neben Macheten, Pfeil und Bogen auch ein Gewehr mit sich. Wir wissen: Es gibt „die Unsichtbaren“ in diesen Gegenden. Anine erzählt uns von ihnen. Letzte Gruppen und Kleinstämme indianischer Herkunft leben im Verborgenen, verstecken sich. Es gab Zeiten, in denen Kinder von Siedlern spurlos im Wald verschwanden …

Die Flammen fressen sich bis nach Ariquemes hinunter, etwa 100 Kilometer nördlich, und vernichten das gesamte private ökologische Urwald-Reservat eines Freundes dort, der vor Jahren noch mit der „Ökologischen Ehrenmedaille des Bundesstaates Rondônia“ ausgezeichnet worden war. Am Rande des Reservates, an der Linha 14, nicht weit von uns, hatten die Brandstifter es auch versucht. Ich höre Valantas, meinen jungen indianischen Freund, husten. Einmal sieht er mich dabei an, schlägt sich auf seine Brust und zwinkert mir zu: „Cinza! Fumaca!“ Er schlägt sich „Asche und Rauch“ aus seiner Lunge. „Alle Fragen der nationalen und internationalen Politik spiegeln sich in den Indianerdörfern direkt wider“, sagte einmal Erwin Kräutler, der Friedensnobelpreisträger vom Xingu. Valantas hustet, wie zur Bestätigung.

Am Tag unserer Rückkehr aus dem Wald nach Aldeia, dem Dorf der Suruí Indios, finden wir in der Schule von indianischen Kindern und Jugendlichen an die Tafel geschrieben: „Os alemães estão voltando do Mato“ („Die Deutschen sind aus dem Wald zurückgekehrt“). Wir haben also, wenigstens unter den jugendlichen Suruí, so etwas wie eine Bewegung rund um den großen Wald entfacht. Warum sind die so erstaunt? Weil wir sie an ihre Kultur erinnern, die sie im Begriff sind, zu verlassen?

Häuptling Aníne steht, so scheint es, wieder allein. „Die Jüngeren denken nicht mehr wie ich.“ Noch schlimmer: Die aktuelle brasilianische Regierung will Indios aus dem Wald vertreiben. Dabei hatte ein Gesetz 1988 den indigenen Nationen in ihren Reservaten die Selbstständigkeit ausdrücklich garantiert. Doch der Gouverneur von Rondônia ließ auf einer Wirtschaftstagung wissen: „Zwischen euch Indios und uns Weißen gibt es keine Unterschiede mehr, wenn wir alle für den Wohlstand und Fortschritt arbeiten. Wir wissen, dass der Indio arbeiten will, und die Regierung wird auf seiner Seite sein“. Mit anderen Worten: Die Regierung will in den Wald, ihn vorbereiten für die großen Märkte.

Am Morgen unseres Abschieds werfe ich einen Blick zurück auf den „Pawentiga“, den „Ort des Kontaktes“, hier im Dorf. Zwei Malocas stehen dort, indianische Sippenhäuser, die wir nach einem Sturm und einem Brand restauriert hatten. Die größere der beiden, ein indianisches Lehrhaus für die Wiederaufnahme des traditionellen indianischen Unterrichtes, wirkt wie eine „Kathedrale des Urwaldes“ oder eine Universidade de florestal indigena, eine „Universität des Waldes“.

Über ihrem Eingang steht in meiner Vorstellung eine Mahnung des früheren brasilianischen Umweltministers José Lutzenberger: „Nur in dem Maße, wie die sogenannte erste Welt bereit ist, neu zu lernen, umzudenken, wird ein Heilungsprozess in anderen Weltteilen möglich sein.“

Claus Friese

10. Termin der Jahrestagung und Mitgliederversammlung 2021

Die Jahrestagung und die Mitgliederversammlung 2021 haben wir jetzt vom 19. - 21.November 2021 im Haus am Turm in Essen-Werden geplant. Die Mitgliederversammlung wird sich mit den Jahren 2019 und 2020 befassen. Wir bitten Sie, sich diesen Termin vorzumerken. Thema und Programm werden wir Ihnen noch mitteilen.

Jürgen Müller

11. Adressenänderungen

Bitte senden sie eine eventuelle Adressenänderung schriftlich oder per E-mail an Thomas Dreessen (s. u.), er führt die Adressenliste. Alle Mitglieder und Korrespondenten, die diesen Brief mit gewöhnlicher Post bekommen, möchten wir bitten, uns soweit vorhanden, ihre Email-Adresse mitzuteilen.

Thomas Dreessen

12. Hinweis zum Postversand

Der Rundbrief der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft wird als Postsendung nur an Mitglieder verschickt. Nicht-Mitglieder erhalten den Rundbrief gegen Erstattung der Druck- und Versandkosten in Höhe von € 20 p.a. Den Postversand betreut Andreas Schreck. Der Versand per e-Mail bleibt unberührt.

Andreas Schreck

13. Mitgliederbeitrag 2021

Die „Selbstzahler” unter den Mitgliedern werden gebeten, den Jahresbeitrag in Höhe von 40 Euro (Einzelpersonen) auf das Konto Nr. 6430029 bei Sparkasse Bielefeld (BLZ 48050161) zu überweisen. IBAN-Kontonummer: DE43 4805 0161 0006 4300 29; SWIFT-BIC: SPBIDE3BXXX

Die Lastschrift-Abbuchungen des Beiträge 2020 und 2021 erfolgen in Kürze. Soweit Sie kein Mandat erteilt haben, nehmen Sie bitte die Überweisung vor, soweit noch nicht geschehen.

Andreas Schreck

zum Seitenbeginn

  1. 1924 veröffentlichte Eugen Rosenstock seinen Text Industrievolk in der Reihe Volk im Werden. Sein Motto: „Aus dem Zwischenraum zwischen / Technik und Weisheit / Aus der Zwischenzeit zwischen Krieg und Frieden.” 

  2. S. www.rosenstock-huessy.com/jahrestagungen/ 

  3. “Das Christentum ist keine Weltreligion, wohl aber ein Menschheitsereignis.” W.Ullmann Ama quia durissimum, in: Tumult No 20, s.89 

  4. ISBN 978 3 406 76634 3 

  5. ISBN 978 3 10 97265 8 

  6. S. Auch P.Mishra: Aus den Ruinen des Empires – Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens,2013 

  7. S.a. meinem Essay Miteinander leben lernen und auch Darin auch die Zeitansagen aus christlicher und muslimischer Perspektive zu unserer gemeinsamen Zukunft 

  8. S.dazu Rosenstock-Huessys Arbeiten: Industrievolk/ Volk Gottes in Vergangenheit-Gegenwart und Zukunft/ Laodizee- wie rechtfertigt sich ein Volk/ Soziologie I und II 

  9. So der Untertitel von Rosenstocks Vorlesung: Comparative Religion von 1954/5 in Dartmouth. 

  10. Cf. Stimmstein s. Beiheft Stimmstein 2 The Moral Equivalent of War / Die Seele von William James 

  11. Cj. Stimmstein 6, p.9 

  12. Zit nach Ramon Lull: Buch vom Heiden und den drei Weisen,Herder Verlag 1986, p.82