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Andreas Möckel zu Die Europäischen Revolutionen

ANDREAS MÖCKEL
Von Luxburg-Str. 9
97074 Würzburg
Tel. 0931-832854
moeckel@mail.uni-wuerzburg.de

10. Juni 2005

Lieber Simon,

diesen Brief solltest Du schon kurz nach Deiner Konfirmation im Jahre 2003 erhalten. Du hattest Dir ein Buch von Eugen Rosenstock-Huessy gewünscht – erstaunlich genug für einen Dreizehnjährigen. Ich nehme an, dass in Eurer Familie und im Kreise der Freundinnen und Freunde der Familie oft genug von „Eugen” die Rede war, so dass Du etwas von dem mitbekommen hast, was er selbst und was seine Schriften für sie bedeuten. Im Gespräch mit Deinem Vater kam der Gedanke auf, es solle das Buch „Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen” sein. Mir fiel sogleich ein, dass ich vor vielen Jahren dieses Buch lange gesucht hatte. Sowohl die erste Ausgabe im Verlag Eugen Diederichs in Jena (1931) als auch die nach dem Zweiten Weltkrieg überarbeitete Ausgabe im Verlag W. Kohlhammer (1951, 1961) waren damals vergriffen und die Ausgabe des Brendow Verlages in Moers (1987) war noch nicht erschienen.

Als ich das Buch in einem Antiquariatskatalog entdeckte, griff ich zu und erhielt zu meiner Überraschung ein Exemplar der ersten Ausgabe mit dem Namenseintrag Carl Schmitt. Das Exemplar war zwar noch nicht ganz aufgeschnitten und daher auch nur in Teilen gelesen, aber dennoch enthielt es stenographische Notizen, einige Unterstreichungen und „dezidierte” Randbemerkungen. Ein heißes Buchexemplar. Carl Schmitt kannte die Theorie der Revolutionen, auch wenn er die Seiten des Buches nicht aufschnitt. Eugen hatte ihm den ersten Teil zugesandt und ihn in Bonn besucht. Wie in einer Nussschale sammelt sich in Deinem Exemplar, das ich binden ließ, um es etwas ansehnlicher zu machen, die Brisanz des Themas. Ich will später zu Carl Schmitt und den Randnotizen etwas schreiben.

Zunächst sollst Du wissen, warum ich das Revolutionsbuch für außerordentlich wertvoll halte und Dir wünsche, dass Du es mit Freude liest, auch wenn es mit seinen rund 600 Seiten den Lesegewohnheiten in der Zeit der Personalcomputer und des Fernsehens nicht gerade entgegen kommt. Ich kürze hierbei gelegentlich ab und nenne nur den Vornamen Eugen. Was spricht nach wie vor für dieses Buch?

Zunächst ist das Revolutionsbuch, wie ich es abgekürzt nennen will, eine Geschichte Europas aus einem Guss. Es erzählt vom Entstehen des geistigen Europa im abgelaufenen Jahrtausend unter dem Schlüsselthema „Revolutionen”. Die gab es in einem strengen Sinne nur in Europa und sonst auf keinem anderen Kontinent. Ein Militärputsch oder ein Massenaufstand ist noch keine Revolutionen. Diesen Unterschied legt das Buch klar.

Es wird heute immer wahrscheinlicher, dass die lang ersehnte Europäische Union gelingen kann, aber erreicht ist sie noch nicht. Das bisher Geschaffene ist das Ergebnis eines teuer bezahlten, historischen Lernprozesses. Es gibt eine europäische Währung (den EURO), eine europäische Grenze, ein europäisches Parlament in Straßburg, einen europäischen Gerichtshof, eine Art europäische Regierung, die „Europäische Kommission” in Brüssel mit europäischen Ministern (Kommissare). Alle Mitgliedstaaten sind vertreten. Vielleicht erhalten wir eine europäische Verfassung, einen europäischen Außenminister und eine europäische Militäreinheit, auch wenn Frankreich und die Niederlande in Volksabstimmungen einen Verfassungsentwurf gerade erst ablehnten.

Seit die Europäische Union immer mehr Gestalt annimmt, wird auch die Frage laut, ob es – außer den europäischen Institutionen – eine spirituelle europäische Einheit gibt oder – wenn es sie nicht gibt – wenigstens geben sollte. Das Revolutionsbuch ist vor rund 75 Jahren geschrieben worden. Es bezeugt die spirituelle Einheit Europas. In der historischen Fachliteratur gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert hervorragende Werke zur Geschichte Europas. Einer der größten deutschen Historiker, Leopold von Ranke, hat alle seine Werke aus einem europäischen Horizont heraus geschrieben. Eugen Rosenstock-Huessy ist es 1931 mit dem Revolutionsbuch gelungen, einen Nerv, vielleicht den Nerv der europäischen Geschichte zu treffen und zugleich eine Theorie der Revolutionen zu schaffen. Sein Buch hat mir wie kein anderes das Ohr für die Mehrstimmigkeit der europäischen Nationen geöffnet. Das ist nicht selbstverständlich; denn ich bin auch noch in einem – mir heute peinlichen – nationalen Geist erzogen worden, dessen Macht sich damals noch nicht – wie heute – in Randgruppen verzogen hatte, sondern die Mitte der Gesellschaft durchdrang – und nicht nur bei den Siebenbürger Sachsen. Eugen Rosenstock-Huessy zeigt, wie sich die Hauptstimmen der Nationen nacheinander „zu Wort melden” und wie sie zusammen einen Chor anstimmen, in dem sich – um es pathetisch zu sagen – die „Seele Europas” ausspricht.

Der zweite Gesichtspunkt, den ich nennen möchte, hängt mit dem ersten eng zusammen. Ein Buch, wie das Revolutionsbuch braucht Zeit um zu reifen. Eugen Rosenstock-Huessy kam die Idee zu dem Buch im Ersten Weltkrieg in Frankreich. Er war Artillerieoffizier und erlebte und durchlitt die technischen Vernichtungsschlachten zwischen Franzosen und Engländern auf der einen und den Deutschen auf der anderen Seite. In den „Materialschlachten” behandelten die Befehlshaber die Söhne ihrer Völker, die Soldaten, wie Sachen – wie Waffen. Flieger und Flugzeuge, Panzersoldaten und Panzer, Sprüher von Giftgas und das Giftgas selbst, Bunker und Bunkerbesatzungen, Schützen und Schützengräben, das fügte sich alles zusammen zu einem System, in dem die Menschen nur ein Faktor unter anderen technischen Faktoren der Kriegführung waren. Die hohen Offiziere sprachen schon vor dem Jahr 1914 unverblümt von gutem oder schlechtem „Offiziersmaterial”. Die Kriegführung war aus den Proportionen geraten. In der Sprache („Menschenmaterial”) hatte es begonnen. Diese Sprache hatten übrigens auch Pädagogen übernommen. Stell Dir vor, Eure Lehrerinnen und Lehrer sprächen, um die Schüler einer Klasse zu loben, im Konferenzraum davon, dass in der 3a oder in der 4b ein „ausgezeichnetes Schülermaterial” vorhanden sei. Das wäre kein Lob, sondern die vorweg genommene Verwandlung der Kinder in Gebrauchsmaterial. Das klingt vielleicht übertrieben, aber ich könnte noch eine Reihe von Beispielen nennen, in denen eine verhängnisvolle Abwärtsbewegung in der Sprache begann. Die technischen Vernichtungsschlachten des Ersten Weltkriegs erschütterten Eugen Rosenstock-Huessy und viele andere. Leider zogen aber nicht alle die gleichen Konsequenzen daraus; nicht alle sagten sich von der Nationalgeschichte los. Fast in allen Völkern hatte das enge nationale Denken zu einer arroganten Überheblichkeit gegenüber den Nachbarn geführt, statt zur Achtung voreinander. Zum Glück gab es früher schon Menschen, die Europa gerade wegen der Unterschiede der Völker liebten. Johann Gottfried Herder sammelte die „Stimmen der Völker”. Johann Wolfgang von Goethe dachte europäisch. Auf engem Raum hatten die Völker Europas einen großen Reichtum an Glaubensformen, an Kunstwerken, an wissenschaftlichen Werken, an Kulturlandschaften hervorgebracht. Aber im Weltkrieg überschlug sich das Nationale und endete in einem europäischen Bruderkrieg. Eugen war kein Pazifist, aber auch kein Bellizist. Er sah keinen Sinn mehr darin, für das Nationale solch unerhörte Menschenopfer zu bringen wie im Kampf um die Stadt Verdun und daher suchte er die Aussöhnung und den Frieden. Das Revolutionsbuch ist ein Beweis dafür. Ein anderer Beweis ist seine Hinwendung zur Erwachsenenbildung.

Eugen hatte seine Hochschulexamina schon vor dem Ersten Weltkrieg abgeschlossen und an der Universität Leipzig als Privatdozent gelehrt. Die Erfahrung des Weltkriegs zwang ihn zu einem neuen Anfang. Er widmete sich – zunächst ganz, später in Verbindung mit seinem Hochschulberuf – der Volksbildung, und zwar erfindungsreich und mit großer Hingabe. Damals entstanden in Deutschland an vielen Orten neue Volkshochschulen. Das war, so würde man heute sagen, ein richtiger Trend. Damals sagte man „eine Bewegung”, noch genauer könnte man von einer „spirituellen Bewegung” sprechen. Dazu kann Dein Vater Dir viel sagen; denn er lebt als Volkshochschuldozent in dieser geistigen Tradition, die inzwischen leider stark verblasst ist. Die Volkshochschulen hatten damals eine Kraft, neudeutsch würde man sagen, eine Power, wie heute Greenpeace oder Attac oder Die Grünhelme e. V. Rupert Neudecks, der das Schiff Cap Anamur ausgestattet hat. Darum widmete sich Eugen der Andragogik. Einen modernen, demokratischen Staat kann man nur aufzubauen, wenn man die Menschen innerlich für die Zustimmung gewinnt. Die Menschen müssen – politisch – erkennen, was „die Stunde schlägt”. Gerade wenn die Veränderungen sehr schnell vor sich gehen, brauchen sie eine Grund-Orientierung und klare Maßstäbe. Der Wandel der Verhältnisse verlief nach 1918 ähnlich rasant wie in unserer Zeit. Ganze soziale Schichten verarmten. Die Erwachsenenbildner in der Weimarer Republik, so wie die besten sich damals verstanden, wollten in einer Zeit der Desorientierung orientieren, um die Menschen vor politischen Rattenfängern zu bewahren. In diesem gesellschaftspolitischen Rahmen ist das Revolutionsbuch entstanden. Man hat von der Weimarer Republik zutreffend gesagt, sie sei eine Demokratie ohne Demokraten gewesen. In unseren Tagen zweifeln wieder manche an der Demokratie, und Politiker erinnern daher an das Schicksal der Weimarer Republik. Die demokratischen Überzeugungen sind heute besser befestigt als in der Zeit der Weltwirtschaftkrise nach 1929. Aber eine politisch historische Orientierung und das entschiedene Eintreten für Versöhnung und die Unterstützung derer, die Frieden stiften, sind auch heute noch dringend. Das Revolutionsbuch hat eine Perspektive und lässt erkennen, wie es in Europa zu demokratischen Verfassungen gekommen ist und was das für die Aufgaben Europas in der Zukunft heißt.

Der dritte Gesichtspunkt, der mir das Buch wertvoll macht, bezieht sich auf den Horizont, aus dem heraus das Buch geschrieben ist. Das ist ein sensibler Punkt. Wenn man, wie Eugen Rosenstock-Huessy, ein Buch über ein ganzes Jahrtausend schreibt, muss man auch eine Vorstellung von der der Geschichte davor und vom Fortgang der Geschichte danach haben. Eugen Rosenstock-Huessy holte seinen wichtigsten Gesichtspunkt zum Verständnis der Geschichte Europas und der großen europäischen Nationen aus der Weltgeschichte. Vielleicht sollte ich gar nicht „Weltgeschichte” schreiben, sondern aus der Menschheitsgeschichte. Bei ihm könnte es heißen „aus der Geschichte des Menschengeschlechts”. Was war das Hauptthema der Geschichte des ersten Jahrtausends? Im frühen Mittelalter sind die europäischen Nationen christianisiert worden. Ein leitender Gesichtspunkt in dem Revolutionsbuch ist der Gedanke, dass die großen Nationen, trotz aller Fehler und Schwächen, trotz aller grausamen Revolutionskriege Gerechtigkeit verwirklichen wollten, weil sie sich nach Gerechtigkeit sehnten und unter großen Opfern Verfassungen fanden, die gerechter waren als vorher. Eugen erkennt in den Revolutionen kollektive Leistungen der Völker. Kollektiv sind die Ergebnisse einer Revolution deswegen zu nennen, weil sie nicht einem einzigen Menschen allein zugeschrieben werden können, selbst wenn er Martin Luther oder Oliver Cromwell oder Napoleon Bonaparte heißt. Die Ergebnisse sind aber auch nicht politisch gesellschaftliche Zufallsprodukte, sondern – wenn man die Geschichte in langen Zeiträumen betrachtet – eine Frucht der Christianisierung der europäischen Völker. Das war das Thema des ersten Jahrtausends. Die europäischen Völker sind von der Botschaft der Evangelien im Laufe der Jahrhunderte durchdrungen worden. Die meisten Menschen halten diesen Vorgang für abgeschlossen. Geläufiger ist der entgegengesetzte Gedanke, dass die Völker im Laufe der letzten Jahrhunderte gelernt haben, immer weltlicher zu denken. Die Geschichte der vergangen Jahrhunderte ist dann eine Geschichte der Säkularisation. Eugen Rosenstock-Huessy erkannte in den turbulenten Veränderungen, die jede Revolution bewirkt hatte, Ähnlichkeiten. In allen Revolutionen war es beispielsweise strittig, was Gerechtigkeit jetzt und hier heißen sollte. Eugen erkannte, dass diese Frage nach der Gerechtigkeit auf dem Boden der Christianisierung der europäischen Völker erwachsen ist. Wie sollte ein Abglanz vom himmlischen Jerusalem auf die Erde kommen? Die großen europäischen Nationen sprachen ihre tiefsten Überzeugungen, das erkannte er, in revolutionären Taten aus. Das darf man nicht vordergründig verstehen. In der Konfirmation bekennen junge Menschen mit Worten, was sie gelernt haben – aber die ganze Gemeinde weiß, dass es dabei nicht bleiben soll. Nur was sich im Sprechen und im Verhalten zu Hause und in der Schule, in der Freundschaft und später im Beruf, in der Liebe und in der politischen und in der kirchlichen Gemeinde bewährt, ist Ziel der Konfirmation. Die Bewährung im Leben ist die Antwort des Konfirmanden auf die Evangelien, die in der Konfirmation vorläufig gegeben wird. Im Leben der Völker ist es noch komplizierter. Und doch spricht Eugen Rosenstock-Huessy kühn aus, dass die Revolutionen Antworten der Nationen sind, die auf die Völker zurück wirken und ihnen eine Prägung geben – ihr Gesicht. Noch einmal: Das darf man sich nicht naiv vorstellen. Die Bestimmung einer Nation ist nicht wie Frage und Antwort im Konfirmationsunterricht. Politische Glaubensfragen sind heute und waren auch früher nie ganz eindeutig. Das Jahr 1933 in Deutschland ist ein Lehrstück für eine falsche kollektive Entscheidung und zugleich ein Lehrstück dafür, was Glaubensentscheidungen sind. Wie kam es zu dieser Fehlentscheidung? Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren verworren und auf die wenigen, die einen klaren Blick hatten, hörten die Millionen nicht, die stimmberechtigt waren. Und doch mussten und müssen nicht nur Einzelne, sondern auch die Völker in schwierigen, verworrenen Situationen handeln, ohne genau wissen zu können, wohin es schließlich führt. Übrigens ist es auch in Deinem und meinem, also im individuellen Leben, nicht eindeutig, welche unserer ganz persönlich zu verantwortenden Taten Gott loben und auf seine gute Botschaft antworten, und wo wir uns und andere in Wort und Tat täuschen. Auch wenn man auf sein Gewissen hören will, ist es oft nicht leicht zu entscheiden, ob man gute neue oder schlechte neue Wege geht, ob man etwas leichtfertig riskiert oder ob man ein Risiko besonnen und kühn eingeht. Mit anderen Worten: Es ist weder in Deinem und in meinem Leben leicht zu entscheiden, was zufällig ist und daher belanglos und was schwerwiegend und einmalig ist und uns in unserer Selbstachtung trifft, wenn wir – wie es die Sprache weiß – versagen. Wenn man der Meinung ist, alles im Leben sei zufällig, kontingent, ist man fein heraus. Eigentlich kann man dann nie versagen, sondern höchsten Pech oder Glück haben. Eugen lehnt ein solches Geschichtsverständnis des Beliebigen ab. Das Revolutionsbuch erzählt von den großen, einmaligen Entscheidungssituationen im Leben der europäischen Völker und schließt damit die Geschichte der Revolutionen an die Geschichte Europas im ersten Jahrtausend, an die Christianisierung an. Das Buch ist wie ein Aufstieg ins Hochgebirge. Mit einem Blick sieht man die Gebirgsriesen und zugleich die Wege, die aus den Tälern zur Höhe führen. Die großen Revolutionen sind die Gebirgsriesen, und sie sind zugleich – nur scheinbar widersprüchlich – die Wegkehren, mit denen die Völker sich in ihren Nationalgeschichten ihren Weg bahnten.

Das führt zum letzten Gesichtspunkt und zurück zu dem Exemplar, das früher Carl Schmitt gehörte und jetzt Dir gehört. Eugen Rosenstock-Huessy lebte von 1888-1973, Carl Schmitt von 1888-1985; sie waren Zeitgenossen und beide Juristen. Carl Schmitt war am Staatsrecht interessiert und befasste sich nach dem Ersten Weltkrieg mit der Frage, welches die Struktur der Politik ist, worauf sie sich letztlich gründet (Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922 ; Der Begriff des Politischen, 1932). Er dachte über sein Fach hinaus und war darin Eugen Rosenstock-Huessy verwandt. Sie schrieben sich Briefe und besuchten sich. Eugen schickte ihm die ersten Druckbogen des Revolutionsbuches zu und bat Carl Schmitts um sein Urteil. Ein Brief an Schmitt vom Sonntag Trinitatis 1931 beginnt mit der Anrede „Lieber Herr Kollege” und schließt mit dem Satz „Erfreuen Sie mich auch weiter durch Ihre Notizen”.

An der Wegegabel im Jahre 1933 trennten sich die Wege. Eugen Rosenstock-Huessy wanderte in die Vereinigten Staaten aus. Carl Schmitt begann im NS-Staat Karriere zu machen. Er war intelligent und reich an Kenntnissen, ein kreativer Wissenschaftler; aber er schätzte den Nationalsozialismus und die historische Situation falsch ein. Indem er an hervorgehobener Stelle mitmachte, verhalf er dem NS-Staat zu dem Ansehen in der deutschen Bevölkerung, das „Hitlers Volksstaat” (so der Titel eines Buches von Götz Aly) erst möglich machte. In freien Wahlen hatte Hitler immer weniger als 50 Prozent der Stimmen erhalten. Wie kommt es, dass ein philosophisch und historisch ausgezeichnet ausgebildeter Hochschullehrer, ein Kenner des Verfassungsrechts, Hitler nicht durchschaute? Hitler kannte schon vor 1933 nur das „Recht”, das ihm nützte. Wie kommt es, dass der Jurist Carl Schmitt versagte und – wie die Bibel das nennt – die Geister nicht richtig unterschied? Das ist eine aufregende und beunruhigende Frage. Als der Reichspräsident Paul von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte, fuhr Eugen wenige Tage später nach Berlin ins Kultusministerium und verhandelte über seine Auswanderung nach Amerika. In einem Land, in dem es nicht mehr sinnvoll schien, Jurisprudenz zu lehren, wollte er nicht mehr lehren.

Warum sah Carl Schmitt das anders? Seine wichtigste erste Unterscheidung bei seiner Untersuchung des Politischen ist hilfreich, um der Antwort näher zu kommen. Er schrieb: „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind” (Der Begriff des Politischen, 1932, S. 14). Schmitt nennt das „den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation”. Mit anderen Worten: Es gibt keine stärkere und dichtere Verbindung als die Freundschaft einem gemeinsamen Feind gegenüber. Und es gibt keine schärfere Trennung, als wenn man andere zu Feinden erklärt. Du weißt aus Deiner Schulerfahrung, dass Freundschaft und Feindschaft viele Abstufungen hat und dass Freundschaft und Feindschaft in der Schulzeit wechseln können. Schüler und Geschwister können sich erbittert streiten, sie können sich aber auch wieder versöhnen. Nun geht es in der Politik der Staaten gewiss nicht um belanglose Streitigkeiten. Und doch hat Carl Schmitt in seine Wesensbestimmung des Politischen ein Merkmal aufgenommen, das besonders im Kindesalter gilt. Er behauptet: „Den extremen Konfliktsfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren” (S. 15). Das ist ein unheimlicher Satz, wenn man ihn heute liest, nachdem wir wissen, was von 1933 bis 1945 aus der willkürlichen Freund-Feind-Unterscheidung zunächst in Deutschland und dann in Europa, besonders in Polen und Russland wurde. Nur die Beteiligten selbst, so meint Schmitt, können mitreden, wenn es um Leben und Tod zwischen Feinden geht. Nur die Beteiligten können entscheiden, ob die Anderen, die Fremden, Todfeinde sind und ob sie bedrohen oder nicht. Es gibt, wenn man diesem Gedanken folgt, keinen Gerichtshof, vor dem man sich verantworten muss, wenn man „die Anderen” zu Feinden erklärt, nicht im Himmel und nicht auf Erden. Dann kann auch nicht mehr für alle nachvollziehbar entschieden werden, ob und wann im Leben der Völker Selbstverteidigung berechtigt ist und wann nicht. Diese Willkür in der Entscheidung ist ein Merkmal der Kinder, die mit ganzer Hingabe zornig sein können und sich hierbei um nichts scheren. Man hält zornige Kinder nicht für strafmündig, obgleich ihre Zornesausbrüche durchaus gefährlich sein können. Auch Elementarschüler können Mitschüler schwer verletzen. Schmitts Ausdeutung der Freund-Feind-Situation („…können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen…”) kann den Erwachsenen jedoch die Unschuld nicht zurückgeben, die man nach dem Gesetz Kindern zubilligt.

Die Behauptung, Politik beruhe auf der Unterscheidung von Freund und Feind und letztlich müsse das von den Betroffenen entschieden werden, ist verführerisch. Sie ist verblüffend einfach und wirkt sonnenklar. Vielleicht war dies eine gedankliche Brücke für Carl Schmitt, um sich mit dem Nationalsozialismus nach 1933 einverstanden zu erklären und im Mai 1933 in die NSDAP einzutreten; denn vor 1933 lehnte Schmitt Hitler ab. Nach 1933 war er bald einer der wichtigsten Juristen im Dienste des NS-Staates. Man kann sein Verhalten opportunistisch nennen, auf den eigenen Vorteil bedacht. Er war 1933 etwa 45 Jahre alt und wollte im öffentlichen Leben eine Rolle spielen. Aber das allein erklärt nicht, warum er das Recht auf den Kopf stellte, zum Beispiel als er die von Hitler angeordnete Ermordung des Führers der SA Ernst Röhm und seiner engen Freunde (Sommer 1934) in einer Rundfunkansprache und in einem Aufsatz in der Juristenzeitung rechtfertigte.

Ich kann nur vermuten: Es gibt in jedem Menschenleben Stationen, an denen sich die Wege gabeln und man sich entscheiden muss. Carl Schmitt vertrat eine politische Lehre, wonach letzte, grundlegende Entscheidungen, zum Beispiel Freund und Feind, nicht mehr unter bestimmten Normen erfolgen, sondern dass umgekehrt die Entscheidung selbst Normen setzt. Man nennt diese Lehre Dezisionismus. Das einsame Ich schneidet alle umständlichen Vorüberlegungen ab und schafft sich damit aus dem Nichts eine Welt. Juden und Christen sind dagegen überzeugt, dass nur Gott aus dem Nichts schaffen kann und dass es Hybris ist, wenn Menschen das tun wollen.

Dezisionismus ist das Gegenteil von dem Wort, das Josua in einer Ansprache an die Stämme Israels sagte: „Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen.” (Jos. 24, 15). Josua sagte das, um die Ältesten der Stämme zu ermutigen, sich für den Herrn zu entscheiden. Sie sollten nicht mehr die Landesgötter verehren, sondern den Herrn Israels. Götter des Landes sind nicht nur aufgerichtete Bildsäulen, sondern auch alle möglichen Teilwahrheiten und Teilmächte, wie nationale Größe oder Sport oder Arbeit oder Sexualität oder Landesverteidigung oder Kunst oder Technik. Ich kann das hier nicht näher erläutern, aber es ist – das gilt auch für die Lehre von Carl Schmitt – nicht so, dass die Teilwahrheiten ganz und gar falsch wären. Nur die Einseitigkeit ist falsch, wenn sie Menschen mit Haut und Haar ergreifen. Eugen hat in seinem Revolutionsbuch die Geschichte Europas als die Geschichte der Ökumene erzählt. Im Wort Ökumene steckt das griechische Wort Haus (oikos). Auch Michael Gorbatschow sprach übrigens vom Haus Europa. Die Werke Eugen Rosenstock-Huessys sind aus einem ganz andern Glaubenshorizont heraus geschrieben als die Bücher Carl Schmitts. Auch Eugen wusste, dass man das politische Handeln mit einem anderen Maß messen muss als private Lebensläufe. Es kann einem ganz schwindlig werden, wenn man sieht, wie im leidenschaftlichen und erbitterten Kampf gerechtes und verbrecherisches Handeln sich vermengen. Eugen wusste auch, dass die Teilgötter uns zeitweilig beherrschen dürfen; aber eben nur zeitweilig. Den Weg, den Carl Schmitt nach 1933 ging, hat er tief verachtet. Als Eugen im Sommersemester 1958 an der Universität in Münster eine Gastvorlesung hielt, kam er auf einen Juristen zu sprechen, dessen Namen, wie er sagte, er nicht einmal in den Mund nehmen wollte. Das war Carl Schmitt, der nicht weit von Münster entfernt in Plettenberg lebte. Nun gehört Dir das Buch, das ihm der Verlag – vermutlich auf Vorschlag Eugens – zuschickte und ist damit in guten Händen.

Der Streit zwischen kurzfristigem Dezisionismus und langem Gehorsam muss in jeder Generation ausgetragen werden. Man kann sich schnell an Trends, an politische Moden, an die gerade Mächtigen anschließen; und es ist immer mühsam, sich unter den Namen der über alle Namen ist zu stellen. Dazu kommt, dass die großen Unterscheidungen, um die es geht, in jeder Generation in immer neuen, überraschenden Situationen auftreten. Das gilt im Leben der einzelnen Menschen wie im öffentlichen politischen Leben. Das Glaubensbekenntnis wird im Konfirmandenunterricht gelernt, aber es ist keine Angelegenheit allein für junge Menschen. Der Glaube drückt sich in Lebensentscheidungen und in politischen Entscheidungen aus. Schmitt vertraute sich dezisionistisch allein dem Geist seiner Zeit an, und das war die NS-Zeit. Man kann auch sagen: Er entschied sich für seine Zeit und schnitt die Vergangenheit ab. Wer dagegen sagt: Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen, der weiß, dass der Geist der eigenen Zeit nur der Zeitgeist ist, und hält sich dadurch den Zeitgeist einigermaßen vom Leibe; ganz kann man ihm nicht entgehen. Jesus ist auch in dieser Beziehung eine große Ausnahme.

Zum Schluss: Natürlich ist das Revolutionsbuch keine Anweisung für die Entscheidungen in unserer Zeit. Das wirst Du gewiss nicht erwarten. Eugen war übrigens gegen Sachfehler nicht gefeit. Das wusste er schon bei der Abfassung des Buches. Historiker forschen immer weiter, graben Details aus und deuten Altes neu. Das schmälert den Gewinn beim Lesen des Revolutionsbuches jedoch nicht. Es kommt auf den Wurf an. In der englischsprachigen Ausgabe unter dem Titel „Out of Revolution” (1938) und in der Auflage aus dem Jahre 1951 bei Kohlhammer Stuttgart finden sich Ergänzungen zu der Ausgabe von 1931. Die große Linie blieb in allen Ausgaben die gleiche, und die ist faszinierend.

Carl Schmitt machte zum Kapitel über Spanien, wo er sich auskannte, Anmerkungen. Das Kapitel blieb übrigens auf Wunsch des Verlegers Eugen Diederichs ungedruckt. Eugen antwortete Schmitt: „Im Ganzen unterhalten Sie ein viel innigeres Verhältnis zu Spanien. Und so protestieren Sie da mit persönlich gesteigertem Recht. Aber bedenken Sie freundlich meine Lage, als Individualität einem ungeheuren Ganzen gegenüberzutreten und die üblichen Verklausulierungen der Gelehrten nicht anwenden zu können. Denn gemeinhin forscht man in Arbeitsteilung am gleichen Thema und kann also sein „vielleicht”, „möchte”, „wohl”, „wahrscheinlich”, „non liquet” vorbringen. Ich aber muss neue Kategorien durchsetzen. Dazu gehört eine gewisse Unbedingtheit, ohne die alles verloren ist. Die Mäßigung, die alles Individuelle braucht, um nicht zu entarten, scheint mir da in dem freiwilligen Lückenlassen zu bestehen, damit der Leser seine Gedankenmassen gerade da hinein geben und so den Autor kontrollieren und objektivieren kann.”

Lieber Simon, aus dem langen Zitat geht hervor: Die Leser sollen kritisch hin gucken. Du auch! Und – die neuen Kategorien sind Eugen wichtig. Ich breche hier ab, obgleich noch viel zu sagen wäre. Der Brief ist sowieso sehr lang geworden. Ich wünsche Dir Freude an der Erzählung, wie die großen Nationen Europas „konfirmiert”, also befestigt worden sind, und bleibe

Dein Patenonkel Andreas