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Rosenstock-Huessy: Der Neubau der deutschen Rechtsgeschichte (1919)

Die Arbeitsgemeinschaft
Monatsschrift für das gesamte Volkshochschulwesen
Eugen Rosenstock
November 1919

Der Neubau der deutschen Rechtsgeschichte

Die Veröffentlichung des folgenden Aufsatzes in der „Arbeitsgemeinschaft” bedarf einer Erklärung. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß Volkshochschule und Renaissance der Wissenschaft einer Wurzel entspringen und sich gegenseitig bedingen. Aber diese unbestreitbare Schicksalsgemeinschaft muß verdeutlicht und den Beteiligten zum Bewußtsein gebracht werden. Nicht jeder Gelehrte, der von dem gegenwärtigen Menschen und seinen Bedürfnissen ausgehend eine Neuorientierung des wissenschaftlichen Denkens vornimmt, gehört in die Volkshochschule. Aber er dient ihr. Er hilft die Voraussetzungen schaffen, ohne die eine Volkshochschularbeit in unserem Sinne nicht zu leisten ist. Und andererseits nötigt die Volkshochschule den wissenschaftlichen Arbeiter, der eine Lehrtätigkeit in ihr ausübt, wenn er seine Aufgabe recht versteht, zu einer Neuorientierung in diesem Sinne. Insofern ist die Volkshochschule Angelegenheit derer, denen es um eine Überwindung der vielbesprochenen Krise der Wissenschaft zu tun ist. Sie tritt fordernd an den alten Bau der Wissenschaft heran. Mit der unabweisbaren Forderung des bedürftigen Lebens. Ihre ersten Erfahrungen sind nicht ermutigend. Dornenhecken, Spinngewebe, schlafende Wächter wehren den Zutritt. Da müssen sich das fordernde Leben von außen und das erwachende Leben im Inneren die Hand reichen, um den Bann zu brechen. Es sind allen Wissensgebieten wesensgleiche Aufgaben gestellt. Eine Frage der persönlichen Einstellung ist es, ob die Lösung von der pädagogischen oder der theoretischen Seite her erfolgt. Wir richten an alle, die diese Zeichen der Zeit verstehen, den Aufruf, an dem gemeinsamen Werk mitzuarbeiten.

Die Schriftleitung.

Übersicht: I. Der Anschluß an die Gegenwart. II. Die Periodisierung. III. Die Eingliederung des Ganzen.

Auf dem Gymnasium, das ich besuchte, bestand für die Primaner eine sogenannte Juristenstiftung. Im Winter erschien wöchentlich einmal ein Professor der Rechte von der Universität und las mit einem Häuflein künftiger Juristen die alte Fidel der römischen Rechtsstudenten, den Gaius. Der wohlmeinende Stifter hatte uns die Berufswahl erleichtern wollen. Tritt doch wohl niemand so unvorbereitet, so ahnungslos an seinen Beruf heran als der Schüler, der die Universität bezieht, um die Rechte zu studieren. Die deutschen Schulen nehmen von der Welt des Rechts bis heute keine Notiz. Das was heute unter Staatsbürgerkunde und dergl. mehr auf der Schule geboten werden soll, sind auch nur politisch, nicht juristisch gedachte Tatsachen- und Gedankenreihen. Das juristische Denken aber lebt in einer Welt für sich; mit Recht wird es deshalb von der übrigen Welt weltfremd genannt.

Wie rührend ist nun jener Versuch, mit Hilfe einer lateinischen Quellenlektüre die lebendige Verbindung zwischen der Welt der Schule und der Rechtsfakultät herzustellen! Das römische Recht sollte als Teilstück des antiken Kulturguts uns den ersten Zugang, und den einzigen, zur Rechtswissenschaft eröffnen! An keiner anderen Stelle des Unterrichts schien also der Zweig des Rechts zwanglos eingepfropft werden zu können; auch in der Geschichte nicht. Die deutsche Geschichtsschreibung hatte zwar Kunst, Literatur und Kultur auch in die Schulgeschichtsbücher einbezogen, aber nicht das Recht.

Die Geschichte des Rechts ist in der Tat nicht in der allgemeinen Fakultät der Volksbildung, der philosophischem bis heute ausgebildet worden, sondern in der speziellen Fakultät des Juristen; als eine Vertiefung und Erweiterung seiner besonderen Fachwelt ist sie seit hundert Jahren betrieben worden. Die Beschaffenheit aller unserer Bücher und Vorlesungen über deutsche Rechtsgeschichte wäre unbegreiflich ohne diese Entstehung auf dem Sonderbeet der Juristen. Aus dieser Absonderung erklärt sich auch z.B. ihre Agonie in der Gegenwart. Wie alle zu weit getriebene Spezialisierung heute zusammenbricht, so auch die des Rechtshistorikers. Seine Probleme sind keine Probleme mehr. Es herrscht eine trostlose Dürre. Aus demselben Grunde aber liegt auch für die deutsche Rechtsgeschichte eine Gesundungsmöglichkeit darin, daß die Sonderwelt der juristischen Zunft heute weithin zusammenbricht. Die Meuterei von 1918 der Soldaten gegen ihre Offiziere wird automatisch einen Aufruhr gegen die Juristen, d.h. gegen die bisherige Abdrosselung aller Lebenskanäle von gesundem Menschenverstand zum Juristenverstand nach sich ziehen. Die deutsche Rechtsgeschichte wird nicht mehr für eine kleine Menschenklasse bearbeitet werden können. Es wird weniger Volljuristen geben; dafür wird jeder etwas Jurist werden. Mit diesem „Jedermann” muß es fortan die deutsche Rechtsgeschichte zu tun haben als mit ihrem Schüler und Hörer, mit dem „juridischen”, dem rechtheischenden und rechtsprechenden Deutschen statt mit dem deutschen Juristen.

I. Der Anschluß an die Gegenwart.

Das bedeutet aber für das Fach eine Umwälzung. Dem Deutschen, also etwa dem Volkshochschüler, kann heute die deutsche Rechtsgeschichte sonst nicht zugänglich gemacht werden. Denn das starke Wort kann nicht vermieden werden, daß es eine „Rechtsgeschichte für den rechtsbedürftigen Deutschen” heute noch nicht gibt.

Nicht umsonst wurde ja von jenem Stifter die Lesung des lateinischen Gajus vorgeschriebenl Das römische Recht war immer noch der geistige Bereich, der Tempelbezirk, in den - ähnlich wie der Theolog in die Bibel - der Rechtsbeflissene eingeweiht werden mußte. Noch 1917 kann der Papst das römische Recht als die „reine Vernunft” bezeichnen. Ein Schulbuch wie der römische Gajus ist ferner in feiner Weise unübertrefflich. Solange deshalb das juristische Denken doch in der abstrakt-logischen Schulung antiken Heidentums sein Genügen fand, war der Weg über den Gajus kein Umweg. Im Gegenteil, das sogenannte „deutsche” Recht war ein Umweg! Denn was bisher “deutsche Rechtsgeschichte” hieß ist aus einer Auflehnung des germanischen Rechtslebens gegen die Alleinherrschaft des römischen Rechts entstanden. Sie will in dem Stromnetz der geschichtlichen Einflüsse die germanischen Einflüsse bloßlegen und zurückverfolgen. Sie gebraucht also das Wort „deutsch” in einem betonten Sinne. Aus der Summe der Erscheinungen, die unsere Rechtswelt ausmachen, gilt ihr das als deutsch, was trotz des römischen Rechts noch im einheimischen Recht nachzuweisen ist. Das römische Recht ist bereits in der theoretisch anerkannten Gesamtherrschaft, als das deutsche Recht beginnt, ihm einzelne Provinzen vorzuenthalten und abzuzwacken. Römisches Recht gilt ihr nicht als deutsch, auch wenn es seit Jahrhunderten in Deutschland gewirkt und Frucht getragen hat. Die deutsche Rechtsgeschichte ist also auf eine überfeine Abstraktion aufgebaut. Es ist, wie wenn die deutsche Kunstgeschichte alle römischen und romanischen Bestandteile ausscheiden wollte! Wenn man bedenkt, daß die älteste „deutsche” Rechtsquelle, die lex salica, lateinisch abgefaßt worden ist oder daß der älteste „deutsche” Kaiser, Otto der Große, ein römischer Kaiser gewesen ist, so ist dieses Herauslösen eines deutschen Fadens aus dem Teppich der Rechtsgeschichte nur aus der Notwehr des „Germanisten” verständlich, der sich gegen den Romanisten durchzusetzen trachten mußte. Einem rechtsbedürftigen Deutschen aber ist mit dieser Zerfaserung nicht geholfen. Er bekommt zwei Rechtsgeschichten vorgesetzt statt einer. Er will wissen, wie der Zustand von 1919 aus dem von 1800, von 1700, von 1600, von 1500 erwuchs, und da ist’s zunächst ganz gleich, welcher Art, ob deutscher oder römischer, die Lebenskräfte in jedem Zeitpunkt gewesen sind. Ihm müßte also eine Rechtsgeschichte dienen, die von vornherein die Verschmelzung des antiken Erbes mit dem einheimischen Rechtsgut als ihr Thema behandelt vom ottonischen „Caesar”-, „Kaiser”-tum bis zur heutigen “Demokratie”. Denn auch die Demokratie bezeugt eine antike Erbschaft schon durch ihren griechischen Namen und unterliegt so derselben Spannung zwischen überliefertem Begriff und Wirklichkeit.

Eine solche einheitliche Geschichte unseres heutigen Rechts, es stamme woher es wolle, würde wieder das gewinnen, was der deutschen Rechtsgeschäfte seit hundert Jahren in immer steifendem Maße gefehlt hat: den Zusammenhang mit diesem heutigen deutschen Recht!

Die deutsche Rechtsgeschichte ist nach der Zerstörung des alten deutschen Rechts nach 1800 von Eichhorn geschaffen worden, also in einem Augenblick, wo die alte germanisch-christliche Staatenwelt und ebenso die ihr entsprechende Geistesverfassung endgültig zusammenbrach. Die Folge davon ist, daß diese Geschichte heute noch im Jahre - 1806 endet!

Und das ist der günstigste Fall, so wie er für Eichhorn lag. Aber je mehr Zeit sich zwischen Eichhorns Endjahr und seine Nachfolger schob, desto gleichgültiger wurden sie gegen die dem Endjahr vorausgehende Epoche, desto größer wurde also der Abstand des Geschichtsabschlusses von der Gegenwart des Erzählers, desto mehr wurde dieser ,Erzähler’ zum Antiquar. Meistens endet die von ihm erzählte Geschichte viel früher; in den Universitätsvorlesungen über deutsche Rechtsgeschichte wird das Gespinst, das von Armin bis 1250 reichlich breit liegt, von da an immer dünner, schmäler und fadenscheiniger, bis in der Neuzeit nur ein einzelner Faden von ein paar Zahlen übrig ist. Über das 19. Jahrhundert aber schweigt Sie ganz. Eichhorn durfte mit Recht von sich behaupten, daß er seine Rechtsgeschichte zum besseren Verständnis der Gegenwart geschrieben habe. Denn er schrieb im Augenblick des Todes des alten Rechts. Die Dissertationen um 1800 zeigen erst den Höhepunkt romanistischer Rücksichtslosigkeit. Erst damals wurde ohne jede Fühlung mit der Praxis das Bauern- und Landesrecht durch die vergessensten römisch-rechtlichen Sätze niedergekämpft. Es ist Notwehr im letzten Augenblick, die eine germanistische Rechtswissenschaft „zum besseren Verständnis der Gegenwart” hervortrieb.

Für die Nachfolger der ersten Germanistengeneration wurde aber dieser Satz, den sie eifrig wiederholten, immer mehr zur leeren Redensart. Für sie verschob sich noch einmal die Aufgabe der Geschichtsschreibung. Vor der Eichhornschen Zeit, d. h. vor der Romantik und ihrer Verehrung der Geschichte, hatte die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens gegolten durch ihre bewunderns- und verabscheuenswerten Beispiele; sie war ein Musterkatalog für alle Fälle und trug dadurch zur Entscheidung in der Gegenwart bei. Diese beispielhafte, typische Bedeutung der Geschichte wurde seit Herders, Gibbons’ usw. Wirken und seit der politischen Umwälzung von 1789 durch eine neue abgelöst. Eichhorn und Savigny wollten die ehrwürdige Ruine, die ihnen die Gegenwart darstellte, enträtseln in an ihren Rissen und Fugen und Gebresten durch die Geschichte. Das entfliehende Leben sollte noch einmal beschworen und erhalten werden, indem diese Männer der Zeiten sich erinnerten, in denen es in voller Blüte gestanden hatte. Aber diese Restaurations- und Rettungsaufgabe, die im Jahre 1800 und 1810 noch aussichtsreich schien, mußte immer fragwürdiger werden. Denn auf die Ruinen von 1800 baute ein neues Jahrhundert eilfertig hunderte neuer Städte, tausende von Fabriken, Schienenstränge und Kanäle. Gewaltige Völkerwanderungen verschoben die Zusammensetzung des Volkskörpers. Die deutsche Rechtsgeschichte aber erzählte nach wie vor das Schicksal des germanischen Rechts in Deutschland bis zu dem großen Einsturz von 1800, schenkte dem neuen Leben, das aus den Ruinen blühte, keine Beachtung, da es ja „unhistorisch”, bloß lebendig und gegenwärtig war, und beharrte trotzdem auf ihrem Schein, durch geschichtliche Erkenntnis das Verständnis der Gegenwart zu fördern! Damit untergrub sie ihr gutes Gewissen. Sie diente nur dem Liebhaberinteresse für gewisse täglich entlegenere Teile der Rechtsentwicklung. Zwischen das Jahr 1806 und die jetzige Gegenwatt schob sich immer unerträglicher, immer befremdender ein Gedankenstrich. Die Facheinteilung schien ja bestechend einfach und reinlich. Die Gegenwart gehörte dem sogenannten Dogmatiker, dem Professor des geltenden Rechts; die Vergangenheit dem Historiker. Wenn nur nicht dazwischen ein Loch von gelinde gerechnet einhundert Jahren gegähnt hätte!

So wurde die deutsche Rechtsgeschichte selbst immer mehr eine geschichtliche Zufälligkeit, selbst nur erklärlich aus dem Zerfall der Geisteswelt des alten heiligen römischen Reichs als ihre Totenklage. Heute ist diese von der Gegenwart um ein Jahrhundert abgetrennte deutsche Rechtsgeschichte selbst ein historisches Fossil geworden. Denn das neudeutsche Kaiserreich, in dem und für das sie betrieben wurde, ist dahin.

Die neue Revolution hat plötzlich den Abgrund zwischen der vom Geschichtsbuch erfaßten fernen Vergangenheit und der lebendigen Gegenwart unerträglich gemacht. Wurde da ein junger Kandidat im juristischen Examen im Marz 1919 über die Reichsverfassung befragt. Er wußte in dem Preußschen neuen Entwurf gut Bescheid. Hingegen versagte er bei den einfachsten Fragen über die bis zum 9. November 1918 in Kraft gewesene Reichsverfassung. Der Examinator, erschüttert über dies Mißverhältnis, verschaffte sich später unter vier Augen folgende Aufklärung: Der Einpauker habe versichert: der Rechtshistoriker frage nur bis 1800, der Dogmatiker aber dürfe nur geltendes Recht fragen ; geltendes Recht aber beginne erst mit dem 9. November 1918! also brauchte Examinand vom Jahre 1917 schon nichts mehr zu wissen. Hingegen um so mehr von Karl dem Großen.

So hat die Revolution das noch übertrumpft, was bisher von Historismus und Dogmatismus gesündigt wurde, und dadurch wird der Zustand unmöglich. Der erste neue Anlauf zu einer deutschen Rechtsgeschichte wird den Graben von der französischen Revolution bis zum Jahre 1918 überbrücken müssen. Das letzte Jahrhundert wird also nicht nur angehängt und angeknotet werden dürfen an die bisherigen Leitfäden. Diese Leitfäden reißen ja alle um 1800 ab! Sondern das letzte Jahrhundert wird die geschichtliche Herausarbeitung in erster Linie fordern! Seine Einarbeitung muß den Anfang des Neubaues bilden! Es ist das die Lebensfrage für die Rechtsgeschichte, die sonst dem vereinten Spott des Dogmatikers und des Laien zu erliegen droht. Der Dogmatiker sieht nur eine Karikatur geschichtlicher Betrachtung vor sich und ist deshalb in technologische Absonderung von geistesgesetzlichem Selbstbewußtsein versunken; träten ihm einmal die Gesetze, mit denen er täglich handwerkt, als geschichtliche Größen aufgefaßt gegenüber, würde er erschrecken und heilsam aufgerüttelt werden. Der Laie aber würde an die Würde des Rechts glauben lernen.

Wie ist das aber möglich? Womit wird denn bisher der Abgrund des 19. Jahrhunderts überkleistert? Offenbar mit einer Betrachtung der politischen Lehren des Zeitalters! Die national-ökonomischen Vorträge und Schriften über das Wirtschaftsleben, über den Sozialismus und seine Theorien haben dem Bildungshungrigen in seiner Ratlosigkeit helfen müssen. Dorthin ging der juristische Student, dem vor der Gegenwartslosigkeit der Rechtsbegriffe graute. Darin liegt ein Hinweis für den Umbau der Rechtsgeschichte. Ein zweiter liegt in der Erscheinung der Rechtsgeschichte selbst. Es kann ja kein Zufall sein, daß sie gerade aus der Abwehr der französischen Revolution entsteht und bis heute die damals geprägte Gestalt festhält. Das Rechtsleben muß also unter der Spannung der historischen und der sozialistischen Theorien in diesem Jahrhundert gestanden haben. Rechtsgeschichte und Sozialismus kennzeichnen das Rechtsleben der Periode. Beide Hinweise genügen noch nicht zur Charakterisierung. Denn das Recht bedarf immer der Verkörperung in Taten, seien es Missetaten oder Heldentaten, Kriege oder Revolutionen, Gesetze oder Kapitulationen, es ist Verwirklichung des Geistes, nicht bloße Theorie. Es ist aber leicht, die begrenzenden Ereignisse den Theorien zuzuordnen. Die voraussetzungslose, ja Voraussetzungen-zerstörende Theorie des Sozialismus und der Nationalökonomie überhaupt gehört in die Folgen- und Ursachenreihe der Revolutionsversuche von 1789, 1848, 1918. Die Voraussetzungensuchende, voraussetzungsvolle Blickweise des Historismus gehört als Folge und Ursache zu den Restaurationsversuchen des christlich-germanischen Staates und Kaisertums, also zu 1815 (heilige Allianz, Legitimität), 1848-49, 1870-71. Revolution und Restauration: das sind die beiden Pole, zwischen denen alles Geschehen zwischen 1739 und 1918 schwingt.

Jenseits aller Parteiung können wir Nachlebenden das Recht und die Politik unserer selbst, unserer Eltern und Voreltern im letzten Jahrhundert würdigen, wenn wir diese beiden Grenzwerte, zwischen denen sie standen und sich zu entscheiden hatten, klar erkennen. Die Rechtsgeschichte der Jurislen selbst ist ein Beitrag zu den Restaurationsversuchen. Schon deshalb ist ihre Zeit um. Die pontischen Theorien der Nationalökonomen sind Beiträge zur Revolution. Schon deshalb ist ihre Zeit um. Beide gehören jetzt in - die Rechtsgeschichte des rechtsbedürftigen Deutschen als Vorgänge der Vergangenheit. Hundertdreißig Jahre, ausgefüllt mit Kämpfen um den Sinn der Rechtsveränderung und um das Recht zur Rechtsänderung.

Denn das ist das Kennzeichen dieses Zeitalters, daß die Gesetzmäßigkeit des Gesetzgebers bestritten war in ihm. Die Legitimität der Throne, das Recht auf Revolution, diese Schlagworte beruhen beide auf einer Erkrankung der Rechtsquelle. Die Menschheit ist nicht mehr unschlüssig über den Inhalt der Gesetze. Sondern die Frage beherrscht die Gemüter: Wer darf Gesetze geben? Dürfen Gesetze gegeben werden? Müssen Gesetze nicht erkannt werden? Gibt es berufene Gesetzgeber? Zahllose Einzelerscheinungen des Rechtslebens werden nur aus dieser Zentralfrage des Zeitalters verständlich. Der Parlamentarismus z. B. und all der Anteil an seinem demokratischen Mechanismus, die Sorge um das ideale Wahlrecht, der Proporz, entspringt aus diesem Zweifel, den Gesetzgeber vernünftig zu konstruieren. Die gelehrt-juristische Unterscheidung von Gesetz in formellem und Gesetz im materiellen Sinne erklärt den jährlichen Haushaltsplan des Staates für ein nur formales Gesetz. In der Tat ist es vom historisch-juristischen Standpunkt aus kein materielles Gesetz; denn es erlischt ja mit seiner Ausführung, es befiehlt nicht eigentlich usw. Aber im sozial-biologischen Sinne ist es um so mehr ein Gesetz, ein „einmaliges Gesetz”, weil der soziale Körper darin seinem eigenen Verhaltens sich bewußt wird. So spiegelt sich in Theorie und Geschichte des Budgets der Kampf um den Gesetzesbegriff überhaupt und muß unmittelbar in Beziehung gesetzt werden zu seinem Gegensatz, der marxistischen Rechtslehre. Hier ist das Recht nur Ideologie des Wirtschaftskörpers; die üblichen Straf- und Zivilgesetze sind nur formelle und scheinbare (weil von den herrschenden Klassen bloß gemachte) Gesetze. Materielle Gesetze aber wären bei ihm - genau umgekehrt wie bei Laband! - gerade die gesetzmäßig hervorgetriebenen materialistischen Gesetze wie der Staatshaushalt, die - ganz wie der Haushalt der Natur - keiner Persönlichkeiten zur Rechtsprechung oder Gesetzgebung bedürfen, sondern nach dem Gesetz der Schwerkraft, nach volksgesetzlichen Gestaltungsgrundsätzen in die Erscheinung treten.

Die Konservierung der Gesetzgebereigenschaft, die Legitimität, zwingt zur Abschnürung des Ringes der berufenen Gesetzgeber, der fürstlichen Geschlechter, durch das Prinzip der Ebenbürtigkeit. Diese Schließung des Kreises seit 1800 verurteilte ihn zum Aussterben und zur Entartung. Die Restauration, der Kampf um die alte Art der Gesetzgebung, zwang den hohen Adel, solchermaßen sein eigenes Todesurteil zu unterschreiben! Umgekehrt zwingt die Revolution, der voraussetzungslose Liberalismus, zur Eröffnung des Ringes des Volkes, zur Judenemanzipation durch das Prinzip der Menschenrechte. Es ist also derselbe Zweifel an der Voraussetzung für alles Recht, der hier in entgegengesetzter Richtung wirkt.

Die Stellung als Summus Episcopus zwingt den Landesherrn zu immer wilderen Restaurationen des Gottesgnadentums. Die Forderung der “eigenen Weltanschauung” zwingt zur Durchführung der absoluten Ehescheidung und der völlig willkürlichen Eheschließung. Die Heiligkeit der Familie und des Blutes zwingt, einen wahnsinnigen Thronfolger 23 Jahre als König zu erhalten. Die Vernünftigkeit treibt dazu, die Eltern zunehmend von der Sorge um ihre Nachkommenschaft zu entlasten. So ist der Zweifel an der berufenen Autorität zur .Gesetgebung nach beiden Seiten hin übertreibend wirksam; Revolution und Restauration sind die Gabel, in der sich alles Geschehen fängt und bricht, von der alles bestimmt wird.

Das Bewußtsein aller in dieser Epoche Lebenden ist von diesen beiden Grenzwerten des Rechts, wie von Brennpunkten einer Ellipse her, belichtet und gefärbt. Dabei stehen nur die führenden Geister im vollen Licht dieser Brennpunkte, sei es des einen ober des anderen oder beider. Die Massen und die geringeren Führer empfangen das absolute Licht gebrochen in getrübter, minderwertiger Benennung und Verhüllung. Die Tagung einer uradligen Familie und eine demokratische Massenversammlung, der Burschenschafter mit dem Schwur auf das schwarz-rot-goldene Band und der Begründer der Liga zur Abschaffung des religiösen Eides sind gewiß nur abgeschwächte Gegensätze. Und dennoch ist es die selbe Entzweiung des Rechtsgefühls, die Sie auseinandertreibt. Beides: die Rechtsereignisse und das Rechtsbewußtsein sind von dem Streit um den Autoritäts- und Gesetzesbegriff erschüttert. Das besondere in dieser Epoche ist, daß alle Autorität und alle Gesetzlichkeit in denselben Topf geworfen und geschüttelt werden. Nicht die weltliche, nicht die kirchliche, nicht die göttliche, nicht die elterliche Autorität ist strittig, nicht eine einzelne Zahl auf dem Roulette des Lebens ist zweifelhaft geworden wie in anderen Epochen, sondern Rot oder Schwarz und am Ende Rot und Schwarz sind zweifelhaft geworden. Alle Formen der Rechtsordnung erfaßt schließlich die dogmatische Skepsis und reißt sie in den Abgrund, nachdem sie ebenso gewaltsam, ebenso bedenkenlos vom Historismus verhimmelt worden sind. So sind der Krieg von 1914 und der Umsturz von 1918 die Orgien der beiden Gegenspieler des ganzen Jahrhunderts, Restauration und Revolution. So ist der Anschluß an die Gegenwart erreicht. Die vergangene Epoche kann durch Erfassung ihrer Kontrapunktik als Vertiefung und Erweiterung des Vordergrundes unserer eigenen Gegenwart dargestellt werden. (Schluß folgt.)

II. Die Periodisierung

Wir mußten so rücksichtslos an allen bisherigen Methoden der Rechtsgeschichte vorbei die letzte Epoche, die vergessene und übergangene, periodisieren, mußten die Bewertung von naher und ferner Zukunft erst einmal umkehren, um aus dem Juristenrecht, das bei Gajus anknüpft, hinüberzutreten ins Volksrecht, das heute anknüpft. Aber diese Rücksichtslosigkeit bleibt nicht ohne Frucht für die entfernteren Perioden des Rechts: sondern der hier vollzogene Akt verhilft uns zu der zweiten notwendigen Neuerung: die weitere Vergangenheit in gesetzmäßiger und faßlicher Form zu periodisieren. Er verhilft uns dazu, weil wir an ihm über Wesen und Umfang einer Rechtsperiode überhaupt uns klar werden.

Die Epoche von 1789 (1803) bis 1914 (1919) hat in Spiel und Gegenspiel ein einheitliches Selbstbewußtsein. Menschenrechte und Staatsrechte ringen auf der offenen Szene. Im Hintergrunde stehen unbeachtet, selbstverständlich, unangegriffen viele Rechtstatsachen: Landfrieden, Fehdeverbot, Geld, Kauf, Schenkung, Examen, Buchdruck, Forschung, Vertragsfreiheit, Forst- und Bergrecht, die Monogamie, die Kinderwürde, die Verbrechen, die Religionsübung, das Recht auf die Kunst sind zum Teil nur indirekt, zum Teil nur oberflächlich in diesen Ringkampf hineingezogen worden. Jede Epoche braucht, um leben zu können, neben ihren Streitpunkten Selbstverständlichkeiten. Selbst diese Epoche des Radikalismus hat gewisser Selbstverständlichkeiten, die durch sie hindurchgehen, nicht entraten können.

Aber diese Selbstverständlichkeiten sind ungeeignet, der Epoche den Namen zu geben. Gemeinsam sind sie ihr mit anderen Epochen. Sie verdankt sie anderen Epochen. Selbst die Revolution, die der Vergangenheit nichts verdanken will, verdankt ihr ihre Waffen: das Buch, die Schrift, die Schule, den Fortschrittsgedanken, den Landfrieden, die Zertrümmerung der Geschlechtsverbände usw., die bereits früher in die Rechtswelt eingetreten sind. Die Darstellung einer Epoche muß sich also offenbar dem zuwenden, was in ihr auf offener Szene gespielt wird, was das Bewußtsein der Zeitgenossen deshalb begreift und beschäftigt, weil es neu ist. Es hat keinen geschichtsfördernden Wert, einen Ouerschnitt durch das Jabr 1800 zu legen, dann durch das Jahr 1700, dann 1500, 1200 und So fort, und hier ein Gesamtbild alles Rechts zu entrollen. Nach diesem statischen Prinzip verfahren aber bisher alle Rechtsgeschichten. Sie zerfallen in Urzeit, fränkische Zeit, Mittelalter (frühes und spätes) und Neuzeit. Jedesmal wird hier ein Ouerschnitt von A bis Z gezeichnet. Die Epochen werden also wie die sieben Schichten des Schliemannschen Troja nacheinander ausgegraben und unter den gleichen Kategorien (Staatsrecht, Strafrecht, Zivilrecht usw.) abgehandelt. Wir erhalten ein halbem Dutzend Photographien von Rechtsgegenwarten. Denn die Welt von 1200 wird ebenso rund umrissen wie die Gegenwart.

So wenigstens ist die Tendenz der Rechtsgeschichten, ob nun Schröder oder Brunner sie schreiben. In der Ausführung haben diese Forscher freilich dann doch jeder Epoche einige hervorstechende Eigenbildungen besonders zuweisen müssen. Aber das geschah rein triebmäßig, ohne feste Regel oder Verpflichtung, meistens aus Raumersparnis. So bringt es Brunner fertig, das Zivilrecht in einem alle Epochen zusammenfassenden Anhang zu durcheilen, also für ein Sondergebiet seine eigene Periodisierung ganz über den Haufen zu werfen.

Indem zwischen den Selbstverständlichkeiten und den Neuerungen einer Epoche nur beiläufig unterschieden wurde, war es unmöglich, die Abfolge der Neuerungen von Epoche zu Epoche in einen einleuchtenden Zusammenhang zu bringen. Der Schritt der Zeit, das Werden-müssen des Rechts bleibt in der Rechtsgeschichte schlechthin unbegreiflich. Eine jede Epoche zerfällt am Ende. Die nächste beginnt ihr Werk eigenwillig. Das Gesetz von Zerfall und Eigenwillen, von Tod und Auferstehung des Rechts wird erst dann zum Träger der Geschichtschreibung, wenn es in dem Geist der Zeitgenossen innen Sich vollzieht.

Das Selbstbewußtsein der Zeiten gibt die rechtsbildenden Kräfte her, die von der Rechtsgeschichte bisher nicht auf ihre Reihenfolge, ihren Zusammenhang geprüft worden sind. Gierkes gewaltigem Vorstoß in dieser Richtung haben die Rechtshistoriker die Gefolgschaft versagt. Das konnte auch nicht wohl anders sein, weil die Epochen ungeheuer groß, 300 bis 400 Jahre lang, bemessen waren. Zerhieb man sie in Unterabteilungen, so wurden diese doch nie die Träger der Entwicklung, sondern blieben bloße Hilfsteilungen.

Wir hingegen haben die Einheit des Selbstbewußtseins als Kennzeichen einer Periode beobachtet. Und es ist notwendig, diese Beobachtung zu einer Erkenntnis zu vertiefen. 120 bis 130 Jahre, das ist ein Abschnitt, der zweimal vom Großvater zum Enkel reicht. Der Großvater erzählt dem Enkel, was er selbst besehen hat, Augenzeuge, und was er von seinem Großvater gehört hat, als Ohrenzeuge. Das einheitliche Gehör (“Hörensagen”), in einem glaubwürdigen Menschen verkörpert, reicht also vom Ururgroßvater bis zum Ururenkel. Es trifft das weiche, gläubige, vertrauende Gemüt des Kindes mit gestaltender Prägekraft. Dabei wird der leibliche Vorfahr allmählich mehr oder weniger durch den geistigen Erzieher und Lehrer verdrängt. Aber das Zeitmaß bleibt. Die Sorgen, Wünsche, Zweifel von vier Generationen bleiben einander begreiflich.

Wilson ist so z.B. der letzte amerikanische Präsident, der an die Zustände zur Zeit Washingtons im Herzen jedes Amerikaners appellieren kann. Er konnte noch auf die Menschenrechte von 1776, an den Aufstieg jedes Tüchtigen in der Union, an das „we are in a free country” usw. sich berufen. Aber mit ihm und dem Eintritt Amerikas in den Weltkrieg ist diese Epoche der amerikanischen „Neuen Welt” abgeschlossen. Ein Amerikaner, der in Europa ficht, könnte einem Zeitgenossen Washingtons nicht mehr verständlich sein. Und umgekehrt!

Eine ähnliche Epoche reicht von Caesar bis Nero. Mommsen wundert sich einmal, daß man 70 n. Chr. bereits Ereignisse, die ein Jahrzehnt vor Caesars Diktatur liegen, nicht mehr im Bewußtsein gehabt habe. Mommsens eigener Begriff und System des Prinzipats ist aber gerade auf den staatsrechtlichen Zustand dieses Großjahrhunderts geprägt worden und paßt nur auf diesen. Von Titus zu Caracalla, von 212- 336, sind ähnliche Epochen des römischen Rechts.

In vier Generationen erschöpft sich die Bühne unseres geistigen Bewußtseins. Neue Gestaltungen und Dekorationen treten alsdann in den Vordergrund. Das in diesen vier Generationen Errungene aber sinkt in den Bereich der Selbstverständlichkeiten, des Unterbewußtseins ab. Es bleibt also, aber es wird nicht mehr als neu oder bestreitbar empfunden. Die Namen wechseln, die den Zeitraum dem Zuschauer angeben.

Heinrich Brunner hat eben diese Beobachtung für die englische und merowingische Zeit gemacht. Von der Eroberung Englands durch die Normannen 1066 bis zur Magna Charta von 1214 seien nicht zufällig vier bis fünf Geschlechter vergangen. 1214 war das Verständnis für die Daseinsbedingungen des Erobererzeitalters endgültig verwischt. Niemand mehr begriff 1214 die Gründe, die zu der unerhörten Machtanhäufung in der Hand des Königs geführt hatten. Diese Gründe waren nicht mehr gültig! So fiel der Staatsbau Wilhelms des Eroberers.

Ähnlich dehnt sich die Glanzzeit des fränkischen Heerkönigtums von 486 bis 614. Niemand begriff 614 die Umstände, die das Geschlecht Merows über alle Stammes„reguli” zum mächtigen Gesamtkönigtum erhöht hatten, dessen Erobererkraft gewaltig um sich griff. Chlodwigs Verfassung war deshalb nun reif zum Umbau, wie er sich in dem Edikt Chlotars II. verkörpert.

Was Brunner nur zur Ausschmückung seiner Ouerschnittsdarbietung verwendet, kann zum Träger der Darstellung werden. Die deutsche Rechtsgeschichte gliedert sich notwendig in Abschnitte einheitlichen Bewußtseins von 120 bis 150 Jahren. Abschnitte einheitlichen Bewußtseins sind Abschnitte einheitlicher Politik! Politik aber ist Rechtsentstehung. Die Epochen der Rechtsgeschichte sind nach der Einheit der entstehenden Rechtstatsachen zu begrenzen! Geben wir eine rückwärts schreitende Tabelle :

1792 (Valmy) oder 1803 (Reichsdeputationshauptschluß)
 - 1914 (1919) Revolution und Restauration.
1648-1789 Staatsrecht und Naturrecht.
1495-1618 (1648) Reichsreform und Landesreformation.
1388-1495 Landstände und Landfrieden.
1254 (1273)-1388 Städtebünde und Landeshoheit.
1122-1254 Heiliges Römisches Reich und Reichsfürstenstand.
1002-1122 Königshaus und Stämme.
(887) 911-1002 Fränkisches Recht und Deutsches Reich.

So wenig wie die letzte Epoche lassen sich die vorangehenden mit Einem Stichwort meistern. Eine Zeit, die von einem Wort erfüllt wäre, wäre erfüllt wie ein Kreis. Das Wort müßte widerstandslos alles überfluten, in einem Augenblick also siegen. Es wäre nicht abzusehen, weshalb seine Geschichte noch Zeit brauche oder gebraucht habe. In dem Augenblick, wo ein neues Wort in die Politik eintritt, ist es noch nicht ganz Recht und sein Gegenpart ist noch nicht ganz Unrecht, sondern sie verhalten sich wie ein aufgehendes und ein untergehendes Gestirn, die beide leuchten. Die Dauer der Geschichte kann nur dem einleuchten, der die Verkörperung des Neuen aus seinem Herausgeschliffenwerden im Kampf des Lebendigen begreift. Das Alte gibt sich - wie etwa die Reichsreform von 1500 - oft noch gerade erst im Kampf mit dem Neuen einen neuen Namen. Darum sprechen wir von zwei Brennpunkten der Ellipse.

Diese Gliederung ist praktisch von mir einmal durchgeprobt worden. Dabei ist es Absicht, daß Kriege und Revolutionen als Justitien, als Rechtsstillstände und Unterbrechungen gebucht werden. Die Rechtsgeschichte hat bisher die Kriege und die Revolutionen nicht ernst genommen. Aber wenn die Gesundheit des Körpers nie besser als an der Krankheit erkannt wird, so gehörte die tiefe Unwirklichkeit des abgelaufenen Historismus dazu, um nicht in den Kriegen gewaltige Umschichtungen des Rechtsgefühls und der Rechtsvorstellungen aufzusuchen.

Andererseits ist diese Periodisierung absichtlich eng auf deutsche Rechtszustände beschränkt. Wie z. B. das Fehlen der Konzilsbewegung im 15. Jahrhundert zeigt, ist hier die Aufgabe einer deutschen Rechtsgeschichte geflissentlich festgehalten. Andererseits steht die außerdeutsche Zahl 1789 oder 1792 (Valmy!) doch darin; denn die Verflechtung in eine allgemeine Entwicklung sollte erkennbar bleiben. Gewiß läßt sich bestreiten, ob diese Einteilung zwingend ist. Indessen sind die möglichen Abweichungen nicht so groß, wie es aus den ersten Blick scheinen könnte. Die Abschnitte treffen ja auch mit den üblichen Abschnitten der allgemeinen Geschichtsschreibung zusammen. Nicht irgendeine gesuchte Originalität kann hier erwartet werden, sondern ein Prinzip der Darstellung soll hiermit angegeben werden.

Nehmen wir den Abschnitt von 1254 - 1388. Am Anfang steht der rheinische Städtebund, dem sich Fürsten anschlossen, um in den hereinbrechenden Wirren des Interregnums den Landfrieden zu sichern. Zum ersten Male werden die Städte aus Objekten der Gesetzgebung zu Trägern der Politik und Rechtsbildung im Reiche. Am Ende steht die Schlacht bei Döffingen, die den Hoffnungen der Städte, eine lebendige Macht im Rahmen des Reichsbaues darzustellen, ein Ende macht. Beides also sind nicht zufällig Trutz- und Kriegsereignisse. Am Krieg und Friedensschluss erprobt sich alles Lebendige im Staatsleben. Vor der Katastrophe aber ballt sich noch das gewaltige Gebilde der Hansa zu siegreichem Kriege nach außen 1369 -1370 zusammen. Im Norden draußen, nicht innerhalb des Reiches, behaupten die Städte eine eigene Staatsgewalt. Und ebenso ist es an der Peripherie, daß die helvetischen Städte durch den Bund mit den Gotthardt-Kantonen den eigenen geschichtlichen Gang der Schweizer Eidgenossenschaft herbeiführen. Aber in den Zeitraum fällt auch der Umschwung im Verhältnis der Städte zu den Rittern. 1302 fällt die Sporenschlacht von Kortrij, 1280 die Ritterspiele der Magdeburger Bürger; dann bilden sich die Münzvereine der Städte. Die großen Dokumente des Stadtrechts, wie das Weichbildrecht, kommen zustande. Die Stadtgerichte und Ober­höfe beginnen zu blühen und erstrecken ihre Autorität weit über den slawischen Osten. Prozeß- und Gewerberecht, Verträge und Renten, Gesellschafts- und Korporationsrecht werden durch die städtischen Verhältnisse entwickelt. Die Epoche gliedert sich ferner in zwei Abschnitte, indem etwa seit 1330 die Ratsverfassung durch die Zunftrevolutionen mannigfach verändert wird.

Alles, was in der Stauferzeit an städtischem Wesen aufblüht, wächst noch unter der Decke eines allgemeinen Lebens, wird in das alte Leben mehr oder weniger glücklich hineinzupressen versucht, oder wachst als Kolonialgebilde wild und ohne den engen Hag des allgemeinen Rechts. 1254 ergreift, wie mit einem Zauberschlage, selbstbewußtes Leben die Städter. Und ebenso unmittelbar verbleicht nach 1388 der Glanz, der bis dahin alles Städtische zur Modesache erhoben hatte.

Tritt also der Rechtshistoriker an die Epoche heran, so wird er einleitungsweise die Anfange der Stadtverfassung und alle die Fragen, die daran sich knüpfen, behandeln, und er wird als Epilog das Stehenbleiben der Städte seit 1400, den Verfall der Zünfte, das Ende der Hansa und Jürgen Wullenweber folgen lassen. Es steht in seinem Belieben, wie lang er Einleitung und Schluß gestalten will. Sie können an äußerem Umfang das Kernstück von 1254 -1388 sogar überragen. Nicht darauf kann es ankommen, Sondern auf die Eingliederung dieses Gebiets des Rechts in den Strom der geschichtlichen Darstellung. Heute werden die Anfänge der Städte im frühen Mittelalter dargestellt. Dort wird der juristische Student mit allen Problemen und Kontroversen geplagt. Das Stadtrecht wird als ein kleines Kästchen irgendwo in den großen Zeitschrank hineingestellt. Der rechtsbedürftige Deutsche aber will die Bahn der Geschichte in ihrer Verbindung von Freiheit und Gesetz durchreiten. Dazu muß er in der Rennbahn der Zeit das spätere Gesetz aus der Freiheit geboren werden sehen. Dieser Augenblick ist aber jener, wo sich die Aufmerksamkeit und Liebe der ganzen Zeit eben diesem neuen Großen zuwendet, wo es vom Selbstbewußtsein ergriffen, umstritten und erkämpft wird. Nur was zweifelhaft, problematisch, politisch behandelt worden ist, wird zum echten Besitze, zum erworbenen Rechte. Deshalb ist das Jahrhundert von 1254-1388 jenes Jahrhundert, in dem das Stadtrecht aus einer Sonderangelegenheit der Interessenten zu einer Angelegenheit der Nation wird! Ihm gehört deshalb das Jahrhundert, weil es von diesem Jahrhundert geadelt wird und weil es seinerseits dem Jahrhundert den Gesprächsstoff, die geistige Nahrung gibt. Alle anderen Einrichtungen verändern sich in diesem selben Zeitraum auch. Aber sie verändern sich unmerklich, unter der Decke. Das Interesse gehört dem Kampf der Städte nach innen und außen. Und das Interessante der Zeit soll Gegenstand der Geschichte sein. Die übrigen Rechtsbereiche werden von diesem merklichsten, offenbarsten, belichtetsten Rechtsträger her gefärbt und abgewandelt. Städtische Rechtsbegriffe dringen in das Lehnwesen ein; die Landsknechte der Folgezeit richten sich nach der Zunftverfassung usw. Vorher ist es gerade umgekehrt. Da hatten die Vorstellungen des Lehnrechts ihrerseits wieder beim Aufbau der Zünfte mitgewirkt!

So ist für jedes Maß von der fliegenden einstündigen Übersicht bis zum tausend Seiten langen Nachschlagewerk hier ein Leitfaden vorhanden. Diese Epochen dürfen also nicht für eine Rechtsgeschichte in Reclam oder Göschen als bloße Unterabteilungen größerer weggelassen werden, wie es jetzt geschieht. Sondern sie können zwar beliebig kurz, bis auf zwei Schlagworte, abgekürzt werden, aber alle Epochen in gleichmäßiger Abkürzung, proportional und perspektivisch; aber auch noch bei dem kleinsten, teleskopischen Maßstab müssen alle sichtbar bleiben. Denn werden sie preisgegeben, so verliert die Rechtsgeschichte ihre Würde und ihr Interesse, sie büßt den Zusammenhang mit der Freiheit, der Vernunft und dem Selbstbewußtsein der Zeiten ein; sie wird unmenschlich, ein bloß mechanischer Ablauf, und kann den rechtsbedürftigen Deutschen alsdann nur schädigen, sowie sie bisher das Rechtsgefühl des Juristen mit geschädigt und mit zerstört hat.

Was die einzelnen Zeiten an neuen Einrichtungen hinstellen, damit treten sie ein in unsere eigene Gegenwart, damit werden sie zu Teilen unseres eigenen Wesens. Die Städte, in denen wir heute wohnen, sie hat das 12. und 13. Jahrhundert gebaut. Um deswillen zeigt die Rechtsgeschichte, die von ihrer Entstehung spricht, einen Teil unseres eigenen Rechts auf und macht ihn uns begreiflich, und aus etwas bloß Selbstverständlichem wird uns die Stadt zu etwas Verständlichem.

III. Die Eingliederung des Ganzem

Aber die Zeiten können ihre Einrichtungen ja nur in den begrenzten Raum hineinstellen. Es ist daher ein zweiter Umstand wichtig für die Periodisierung der Rechtsgeschichte: das ist die Erdkunde. Rechtliche Einrichtungen ergreifen unser Gebiet in Absonderung nach außen; Einheit nach innen besteht erst seit dem Übergang der Herrschaft von den Franken auf die Deutschen, also seit der Wende des 9 . und 10. Jahrhunderts. Jede umfassende Verschiebung des Gebiets bedingt auch eine Veränderung der Neuentwicklung. So tritt z. B. in der erörterten Epoche des Stadtrechts von 1254 -1388 eine zentrifugale Tendenz von Küste und Hochgebirge (Hansa und Schweiz) hervor: Beide brechen in Form der Verstadtlichung als Seefahrts- und Hirtenvolksteile aus dem Rahmen des mittelalterlichen Binnen- und Ackerbaustaates heraus.

Das Geheimnis der Schichtung ist ja notwendig nur auf demselben Erdreich zu erkennen. Die paar „Römerstädte” Köln, Bonn, Augsburg usw. reichen deshalb nicht aus, eine einheitliche Rechtsgeschichte über die römisch-frankische Zeit von 9 - 900 und die deutsch-römische von da an aufzubauen. Das von dem Reich der Sachsenkaiser beerbte erste Jahrtausend erlaubt aus Gründen der geographischen Verschiebung, die statthat, nur sehr bedingt und vorsichtig eine Eingliederung in eine rein „deutsche” Rechtsgeschichte. Trotzdem ist ein Bedürfnis für sie vorhanden. Aber es kann nur mit Hilfe einer dritten Gedankenreihe befriedigt werden. Zum Neubau der deutschen Rechtsgeschichte mußten wir einmal den Abgrund des letzten Jahrhunderts überbrücken. Alsdann mußten wir ein Gesetz der Periodisierung zu ermitteln trachten, um der Fülle des Stoffes Herr zu werden. Jetzt ist drittens zu erwägen, worin die deutsche Rechtsgeschichte ihrerseits verankert werden muß und kann.

Denn sie stammt ja bei ihrer Geburt aus einer translatio imperii, also aus einer geistigen Erbfolge in das Rechtsgut nicht ihrer eigenen Vergangenheit, sondern in das Rechtsgut anderen Volkstums und anderen Erdreiches! Was bedeutet das?

Dem Historismus der deutschen Rechtsgeschichte hat sich in den letzten Jahrzehnten eine vergleichende Rechtsgeschichte aller Völker und Zeiten an die Seite gestellt. Vor allem die babylonischen und die Papyrifunde haben ganz neue Rechtswelten eröffnet, und ihnen ist Geld und Kraft in überraschendem Umfang zugewendet worden, weil der ausgedörrte Historismus sich gierig auf diese neuen Quellen stürzte.

Auch diese vergleichenden Rechtshistoriker enthalten sich jedes Aktes der Verschmelzung von Selbstbewußtsein der Epoche und Rechtsgeschichte, den wir als grundlegenden für die neue Darstellung fordern müssen. Für die Neuzeit, wo die rechtsgeschichtlichen Probleme, Absolutismus, Volksbewaffnung, Demokratie usw. mehr von Politikern, Volkswirtschaftlern usw. untersucht worden sind wird umgekehrt der alle europäischen Länder gemeinsam überflutende Zeitgeist allzusehr hervorgehoben, die Unterschiede aber, die aus der Einbettung in verschiedene Erdreiche, verschiedene Vergangenheiten folgen, werden hier oft stiefmütterlich behandelt.

Weder die europäische politische Geschichte, noch die bloße Vergleichung über alle Länder und Zeitgrenzen hinweg kann der deutschen Rechtsgeschichte den Zusammenhang liefern, der für ihre Haltung und Würde doch entscheidend sein muß. Denn es steht ja ihr Sinn, ihre nationale Eigenständigkeit, ihre geistige Selbständigkeit dabei in Frage.

So kommt alles darauf an, daß sie eingebettet wird in eine Universalrechtsgeschichte. Diese muß dem Hin- und Hervergleichen über alle Zeiten und Länder entgehen. Aber sie muß auch dem heutigen Zustand ein Ende machen, kraft dessen die deutsche Rechtsgeschichte noch immer eine germanistische Rechtsgeschichte mit einer Spitze gegen die Romanisten und gegen die Kirchenrechtler, die Kanonisten, darstellt. In dem Augenblick, wo die deutsche Rechtsgeschichte eine einheitliche Funktion in der Weltrechtsgeschichte übernimmt, eine eigentümliche Leistung in ihr zu verwirklichen hat, in diesem Augenblick wird das einseitige Hervorzerren des angeblich bloß nationalen Erbguts sinnlos. Ob man Wodan, den sterbenden Gott, gegen den gekreuzigten Christus, ob man die germanischen Runen gegen die kirchliche Schrift, ob man die Gotik gegen die Renaissance, Heinrich den Löwen gegen Barbarossa, ob man den Goetheschen Faust gegen den orientalischen Moses ausspielt, es ist immer dieselbe Germanisterei, die eine einheitliche deutsche Rechtsgeschichte für alle Stände und Parteien bei uns verhindert. Alle diese Bestrebungen gehören in die deutsche Rechtsgeschichte von 1800 bis 1914 hinein, die wir als Bestandteile des Historismus und der Restauration erkannt haben. Wir Nachlebenden können diese historische Vergermanisiererei der deutschen Rechtsgeschichte als einen Rettungsanker der Restauration sehr erklärlich finden.

Aber uns ist versagt, dies Rüstzeug eines untergegangenen Zeitalters selbst anzulegen. Der sterbende Wodan ist eine nationale Nachbildung der Kreuzigung. Die Runen sind eine Erbschaft der Antike; Goethe hat nicht nur einen Faust gedichtet, sondern auch einen Moses dichten wollen, und beide Gestalten sind ihm in eine zusammengeflossen, die Gotik ist aus der romanischen Architektur entstanden; die Welfen verdanken die Macht ihres Hauses demselben katholischen Universalismus, der Barbarossa gegen Heinrich den Löwen vorzustoßen zwang. Überall hat die deutsche Rechtsgeschichte eine Aufgabe an fremdem, ererbtem Geist zu erfüllen. Die Durchdringung bereitliegenden Kulturguts durch neue unverbrauchte Völker - die Germanen find nicht ein Volk, sondern Völker - das ist der Inhalt der Rechtsgeschichte der letzten Jahrtausende, inbesonderheit der deutschem. In jedem Augenblick ist daher nicht bas “interessant”, was „noch” an germanischem im deutschen Recht übrig ist. Bei den Cheruskern ist nicht „mehr” germanisches Recht vorhanden als unter Otto dem Großen. Und unter Wilhelm II. ist nicht weniger deutsches Recht vorhanden als unter Heinrich II. Sondern der Ruf, das calling, das vor taufend Jahren an die Deutschen ergeht, in die Weltgeschichte einzutreten, bedeutet wirklich und wörtlich einen Eintritt in die Weltgeschichte, d. h. in den Stromkreis des Geisteslebens einer einheitlich beseelten Menschheit. Vom ersten bis zum letzten Augenblick durchdringt sich Volkstum und Erbe dergestalt, daß beides mit jeder Bemühung verstärkt und ausgebildet wird. Diese gegenseitige Potenzierung bewirkt, daß heute mehr römisches, mehr christliches, mehr germanisches Geistesgut lebendig ist als vor tausend Jahren. Alle Bestandteile sind reicher, völliger entwickelt worden. Eine deutsche Rechtsgeschichte kann je nach der Gesinnung des Darstellers gegen diesen Stachel der Verschmelzung löcken ober ihm gläubig vertrauen ais einem Heilsvorgang. Immer muß sie beides, römisches und deutsches, christliches und nationales, eigenes und fremdes, in unlöslicher Verknotung auftreten lassen. Z. B. unter der Maske der historischen Restauration des 19. Iahrhunderts verbirgt sich germanisches Geblütsrecht, römisches Individualrecht, christliche Autorität; unter der Maske des dogmatischen Revolutionarismus steckt germanischer Freiheitssinn, griechischer Rationalismus, christliches Liebestreben, alles zu gleichen Teilen.

Genau so ist es in jedem der vorangegangenen Jahrhunderte. Nie sind die Brennpunkte einer Ellipse: hie Germanentum, hie Christentum, hie Deutsches, hie Fremdes, selbst im Augenblick der Taufe nicht, da in ihm eine wirkliche Verschmelzung eintritt, wie bei aller Fleischwerdung des Geistes durch Namengebung. Treten doch erst damals die Stämme in die Entwicklungsreihe des menschlichen Selbstbewußtseins ein.

Alle Geschichte kommt heute in so fragwürdiger Gestalt auf uns zu. Verdrossen lehnen wir sie als Laster und Lügereien ab. In der Rechtsgeschichte ergeht es uns aber besonders. Hier bleibt uns ja der feste Maßstab des Rechts und Unrechts, des Sollens und Lassens, an ihm erkennen wie uns in den Altvorderen wieder. Das Recht ist immer Vergangenheit, Perfektum. Unsere eigenen Taten, Heldentaten und Missetaten, sind das Richtige oder Falsche, das wir dem alten Recht und Unrecht hinzufügen und das der Zukunft dann als Recht und Unrecht gilt. Im Rechtsleben müssen wir auf dieselbe schmale Brücke der Entscheidung treten, welche die Geschlechter vor uns über den Abgrund der Zeit trug. Deshalb dürfen wir an den Neubau der Rechtsgeschichte mit der Hoffnung herantreten, das Bewußtsein des deutschen Volkes möge über Parteien, Konfessionen, Stamme und Stande hinweg in den Rahmen einer einheitlichen Vergangenheit, einer einheitlichen Rechts- und Schicksalsgemeinschaft und damit einer einheitlichen Zukunft hineinwachsen.

„Der Neubau der deutschen Rechtsgeschichte” als PDF-Scan