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Stimmstein 7: Editorial

Stimmstein 7, 2002

Mitteilungsblätter 2002

Editorial

Samuel P. Huntington schreibt in seinem Buch Der Kampf der Kulturen (München-Wien 6. Aufl. 1997, S. 335) im Kapitel Islam und der Westen: „Manche Westler, unter ihnen auch Präsident Bill Clinton, haben den Standpunkt vertreten, daß der Westen Probleme nicht mit dem Islam, sondern mit gewalt-tätigen islamistischen Fundamentalisten habe. Die Geschichte der letzten 1400 Jahre lehrt etwas anderes. Die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Christentum – dem orthodoxen wie dem westlichen – sind häufig stürmisch gewesen. Sie betrachten sich gegenseitig als den Anderen. Der Konflikt zwischen liberaler Demokratie und Marxismus-Leninismus im 20. Jahrhundert war ein flüchtiges und vordergründiges Phänomen, verglichen mit dem kontinuierlichen und konfliktreichen Verhältnis zwischen Islam und Christentum. Manchmal stand friedliche Koexistenz im Vordergrund; häufiger war das Verhältnis eine heftige Rivalität oder ein heißer Krieg unterschiedlicher Intensität. Ihre ‚historische Dynamik‘, bemerkt John Esposito, ‚sieht die beiden Gemeinschaften oft in einem Wettstreit, manchmal in einem verbissenen tödlichen Ringen um Macht, Land und Seelen’“.

Huntington widerspricht dem Zitat „verbissenes tödliches Ringen um Macht, Land und Seelen“ zwar nicht, sondern lässt es stehen, relativiert aber am Ende seines Buches immerhin den pessimistischen Titel „The Clash of Civilizations“ und spricht vom „eigentlichen Kampf“ „zwischen Zivilisation und Barbarei“ (Zivilisation in der Einzahl! S. 531). Sein Buch darf nicht als Prophezeiung gelesen werden, sondern als eine Warnung. Die Folgen eines großen, militärischen Konflikts zwischen Kulturkreisen, so betont er, seien unabsehbar. Er rät daher den großen militärischen Mächten, den „Kernstaaten“, zur Zurückhaltung und Mäßigung auch dann, wenn an den Grenzen der Kulturkreise Konflikte – „Bruchlinienkriege“ – aufbrechen. Missverständlich bleibt sein analytischer Ansatz mit den isolierten Kulturen, besonders wenn diese als überdimensionale Nationalstaaten gesehen werden, die sich gegen einander in Stellung bringen.

Die Redaktionsgruppe der Mitteilungsblätter verständigte sich im Juni des vergangenen Jahres, ein Vierteljahr vor dem 11. September, auf den Arbeitstitel Judentum, Christentum, Islam (siehe stimmstein 6, S. 103), ließ ihn später jedoch fallen, weil Abstraktionen, wie sie auch Huntington verwendet, für eine abgekürzte, schnelle Verständigung zwar handlich sind, aber zugleich große Gefahren bergen.

Der kaltblütig geplante, kollektive Mord und Suizid im Herbst des vergangenen Jahres hat mehr als andere, vorhergehende Anschläge die westliche Welt erschüttert und auch nach den politischen, potenziell aggressiven Implikationen der Weltreligionen fragen lassen. Hass im Diesseits kann nicht zu einem besseren Leben im Jenseits führen, ganz gleich ob man Diesseits und Jenseits metaphysisch oder metabiologisch versteht. Die Weltreligionen sind sich in den letzten Jahren gegenwärtiger geworden, als sie es vorher waren. Gerade in einer solchen Situation erhöhter Aufmerksamkeit empfiehlt es sich, Abstraktionen mit der Endung …tum zu vermeiden. Solche Begriffe machen aus Kräften, die sich ändern und neue Richtungen annehmen können, endgültige Größen und legen damit auf fatale Stereotypien fest. Stimmstein 7 führt daher den Titel eines Vortrages, den Wolfgang Ullmann auf der Jahrestagung der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft im Jahre 2001 hielt. Wolfgang Ullmann stellte uns außer-dem einen Beitrag zur Verfügung, den er für die Wochenzeitung Das Parlament zum Jahreswechsel 2001/2002 verfasst hat.

Der Vortrag von Thomas Dreessen ist aus persönlichem Erleben entstanden. Dreessen ist Sozialsekretär in der Evangelischen Kirche von Westfalen. Eigentlich wollte er Gemeindepfarrer werden, aber… Er lernte eine Muslimin kennen und heiratete sie. Er berichtete zusammen mit seiner Frau Müzeyyen in der Zeitschrift Unterwegs (Heft 2, Jg. 2000) vom Glaubensabenteuer ihrer Ehe. Wir verdanken ihm auch den Hinweis auf den mittelalterlichen Dichter Yunus Emre, der in türkischer Sprache schrieb. Dreessens Vortrag wirbt um Verständnis für den Islam bei christlichen Lesern. In den Mittelpunkt seines Aufsatzes stellt er Abraham, den Vater vieler Völker, der Juden, Christen und Muslimen viel bedeutet und ein Mittler im Gespräch zwischen Juden, Christen und Muslimen sein kann. Die Schriftleitung hätte sich zum Vortrag von Dreessen einen entsprechenden Aufsatz eines Muslims gewünscht, der mit einer Christin verheiratet ist und für Verständnis bei muslimischen Leserinnen und Lesern wirbt. Sollte es das in der Türkei Atatürks nicht geben?

Adri Sevenster war Dozent an einer Religionsschule in Indonesien und blickt nach 25 Jahren auf das Land und auf seine eigene Arbeit zurück. Wenn man tiefgreifende Unterschiede zwischen den Religionen ansprechen will, stellt sich die Frage, wie das geschehen kann, ohne zu verletzen. Hans-Martin Barth, Marburg, beansprucht in seiner kürzlich erschienenen Dogmatik (Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Ein Lehrbuch, Gütersloh 2001) ausdrücklich, in Gegenwart von Juden, Muslimen, Hindus und Buddhisten zu schreiben. Er zitiert Franz Rosenzweig häufig. Die Unterschiede, die es unstreitig gibt, dürfen nicht bagatellisiert oder verschwiegen werden; denn wir leben eng beisammen, so dass Höflichkeit allein nicht mehr ausreicht. Dass sich diese planetarische Enge abzuzeichnen begann, erkannte der Freundeskreis um Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig schon im Ersten Weltkrieg. Die Redaktionsgruppe überlegte, ob und welche Äußerungen zum Islam sie aus deren Umkreis in den Mitteilungsblätter abdrucken könne, sah davon jedoch weit-gehend ab. Eine Ausnahme bildet das Zitat aus einem Aufsatz Hans Ehrenbergs. Wenn in den Werken von Rosenstock und Rosenzweig vom Islam oder von anderen Weltreligionen die Rede ist, steht das immer im Zusammenhang mit übergeordneten Themen. Nimmt man die Äußerungen aus dem Zusammenhang heraus, tut man den Autoren keinen guten Dienst, so eindrucksvoll ihre Stimmen im Zusammenhang ihrer Werke auch sind. Adri Sevenster hatte sich mit der Auswahl von Zitaten aus dem Stern der Erlösung schon viel Mühe gemacht. Es sei jedoch an dieser Stelle nachdrücklich auf den kurzen Abschnitt Islam hingewiesen, der in der Soziologie Band II, Die Vollzahl der Zeiten (Seite 373-378) von Eugen Rosenstock-Huessy steht, und auf die verstreuten Bemerkungen im Stern der Erlösung von Franz Rosenzweig, besonders auf die Stellen im zweiten Teil Die Bahn oder Die allzeit erneuerte Welt, Erstes Buch: Schöpfung oder Der immerwährende Grund der Dinge, S. 36ff.). Die Jahrestagung der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft (siehe Nachrichten S. 106) wird sich intensiv mit dem Thema befassen. Um unnötige Missverständisse zu vermeiden, verzichtete die Schriftleitung auch darauf, einen nachgelassenen, provozierenden Aufsatz von Hanna Kohlbrugge in das Jahrbuch aufzunehmen (Immerzu dasselbe – Der einsame Gott). Drei Voraus-Leser rieten dringend davon ab. In einer Sammlung ihrer Arbeiten, wie sie vor kurzem in den Niederlanden erschienen ist, relativiert sich dieser Aufsatz.

Rosenstock-Huessy zeigt in der Soziologie II die Bedeutung des Islam für die Geschichte der Stämme innerhalb der Geschichte des Menschengeschlechts. Diese ist der Rahmen, innerhalb dessen seine pointierten Aussagen gelesen werden müssen. Der Abschnitt Islam steht sehr bezeichnend zwischen Völker-wanderung und Der ewige Strom. Rosenstock-Huessy schreibt: „Deshalb haben sie [die Stämme] auf Erden keine bleibende Statt. Deshalb ist wandern sprachlich nur eine Weiterbildung von Wende, Wandel, Wunder, Verwandlung“ (Soziologie II, Stuttgart 1958, S. 373). Auf diesen Satz folgt dann der kurze Abschnitt Islam, in dem in der Tat harte Sätze stehen, die – aus dem Zusammenhang gerissen – leicht missverstanden werden können. Der erste Satz in dem dann folgenden Abschnitt Völkerwanderung lautet: „Heute indessen sind gerade die von der Kirche bejahten Stammessitten gefährdet und deshalb ist eine Wiederbegeisterung des wahren Stammes zu einer ernsten Angelegenheit geworden“ (S. 378). Auch die in diesen Mitteilungsblättern zum ersten Mal gedruckte Anmerkung The Mission of the Jewish State ist nur aus einem planetarischen Horizont heraus zu verstehen. Sie verdient gerade im Blick auf die zugespitzte politische Situation im Nahen Osten Beachtung. Franz Rosenzweig kommt auf den Islam im Zusammenhang mit der allzeiterneuerten Welt, wie der zweite Teil des Sterns der Erlösung heißt, zu sprechen. Zum Themenschwerpunkt gehören auch die Beiträge von Dorothee C. von Tippelskirch und die Gedichte von Wilfred Owen, William Butler Yeats, Yunus Emre, Mohammed al-Maghut und Bassit Ben Hassan und die Buchbesprechung von Peter C. Keller zum Roman des Nobelpreisträgers Orham Pamuk Rot ist mein Name.

Peter C. Keller erinnert auf Bitten der Schriftleitung an den 20. Juli 1932. Vor siebzig Jahren versetzte die Reichsregierung unter Franz von Papen der jungen deutschen Demokratie mit der Absetzung der legalen, preußischen Regierung einen folgenschweren Schlag. Ute Freisinger-Hahn arbeitet an einem Projekt der Universität Bonn, das sie in den Nachrichten kurz vorstellt. Ihr bio-graphischer Aufsatz ist aus der Forschungsarbeit im Rahmen des Projekts und auf Wunsch der Schriftleitung hervorgegangen. Hoffentlich ermutigt ihr Aufsatz auch andere Leserinnen und Leser, sich zu Wort zu melden.

Am 28. Oktober 2001 starb Dietmar Kamper. Er war nach dem Tode Georg Müllers dessen Nachfolger als Präsident der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft. Michael Gormann-Thelen und Rudolf Hermeier würdigen ihn und seine Verdienste um die Gesellschaft. Er ging als Soziologe an der Freien Universität Berlin originelle, eigene Wege und war weit davon entfernt, das Werk Eugen Rosenstock-Huessys lediglich zu übernehmen und zu paraphrasieren. Er war ein einfühlsamer, warmherziger und geistreicher Hochschullehrer, der Studierende zu inspirieren verstand. Einer seiner letzten Doktoranden schrieb in der Einleitung zu seiner Dissertation, er verdanke ihm mehr, „als sich durch Zitate ausdrücken lässt“ (H.-U. Rösner, Jenseits normalisierender Anerkennung, Frankfurt-New York 2002, S. 28). Mit Gottfried Michaelis verlor die Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft ein treues Mitglied aus dem engeren Bielefelder Kreis um Georg Müller.

Wir danken allen, die Beiträge für den stimmstein 7 zur Verfügung stellten und allen, die uns Zuschriften und Nachrichten zum stimmstein 6 zusandten.

Andreas Möckel, Karl-Johann Rese